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Kerze der Erinnerung (Aus der Geschichte der Repressionen im Taimyr-Gebiet und dem Bezirk Chatanga

Kommunale staatliche Allgemeinbildende Einrichtung
Allgemeinbildende Oberschule N° 1

Autorin: Schülerin der 10.Klasse
Ksenia Kowalenko

Lehrerin:
Swetlana Viktorowna Popowa
Lehrerin für Geschichte und Gesellschaftskunde
Der höheren Kategorie

Siedlung Chatanga 2014

Inhalt

I. Einleitung
II. Hauptteil
1. Aus der Geschichte der Repressionen
2. Repressionen im Taimyr-Gebiet
3. Repressionen im Bezirk Chatanga
A) Amelia Fjodorowna Lautenschläger
B) Matuschka Jekaterina
c) Olgert Kroders
III. Schlussbemerkung
IV. Bibliographie
V. Anhang

So eine schreckliche Zeit war das.
Der Volksfeind war das Volk selbst.
Ein beliebiges Wort, ein beliebiges Thema.
Und das ganze Land auf Häftlingsetappe … vorwärts!
Aber wir erinnern uns!
Jetzt wissen wir.
Auf alle Verbote, auf alle Sachen ein Stempel…
Das Volk wurde massenweise auf Etappe geschickt,
damit es leichter war sie zu lenken…[1]

1. Einleitung

Das Forschungsthema „Aus der Geschichte der Repressionen im Taimyr-Gebiet“ ist dem Studium der Schicksale der Repressierten im Taimyr-Gebiet und im Bezirk Chatanga gewidmet.

Aktualität:
- ungeachtet der Tatsache, dass die Ereignisse schon lange zurückliegen, ist das Thema für die Menschen aktuell, die ihre Verwandten in den Jahren der Repressionen verloren haben. Nicht allen ist ihr Schicksal bekannt. Wir haben uns bemüht, diese Seite zumindest ein wenig zu öffnen, das Gedenken an die Opfer der Repressionen zu wahren und vielleicht ein paar Menschen dabei behilflich zu sein, die Geschichte ihrer Familien zu rekonstruieren.
- außerdem gibt es keine Forschungsaktivitäten zum Thema Repressionen im Bezirk Chatanga.

Um die Erinnerung an die Opfer der Verfolgungen aufrecht zu erhalten und Menschen bei der Rekonstruktion der Geschichte ihrer Familien zu helfen, hat 1998 die „Memorial“-Organisation mit der Schaffung einer vereinten Datenbasis begonnen, in der Informationen aus den Büchern der Erinnerung, die bereits gedruckt sind oder sich zur Herausgabe in verschiedenen Regionen der ehemaligen UdSSR in Vorbereitung befinden, zusammengeführt werden.

Ungeachtet der enormen Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahren in allen Ländern auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR vollzogen haben, ist das Problem der Verewigung des Gedenkens an die Opfer des Staatsterrors ungelöst geblieben.

Das betrifft alle Aspekte des Problems – sei es die Rehabilitierung der illegal Verurteilten, die Veröffentlichung von Dokumenten, die mit den Repressionen, ihrem Maßstab und ihren Gründen in Zusammenhang stehen, die Entdeckung von Begräbnisstätten Hingerichteter oder die Schaffung von Museen und das Aufstellen von Gedenksteinen. Auch ungeklärt ist die Frage der Veröffentlichung von Listen der Terror-Opfer in unserem Bezirk. Hunderttausende in verschiedenen Regionen der einstigen UdSSR (und auch in zahlreichen Ländern der Welt, wo unsere Landsleute leben) wollen die Schicksale der Verwandten klären. Doch selbst wenn die Biographie eines Menschen in einem der Bücher der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen enthalten ist, ist es sehr schwierig, davon zu erfahren: solche Bücher werden in der Regel in kleinen Auflagen herausgegeben und gelangen praktisch nicht in den Verkauf; selbst in den Haupt-Bibliotheken Russlands existiert keine komplexe Sammlung des herausgegebenen Materials. [2]

Ziel der Arbeit ist das Studium der Geschichte der Repressionen im Taimyr-Gebiet und im Bezirk Chatanga.

Aufgabenstellungen: Weiterführung des Sammelns und der Systematisierung zum Thema, Sammeln von Informationen über die tragische Periode der Repressionen auf dem Territorium Russlands – im vorliegenden Fall am Beispiel des Bezirks Chatanga.

Im Verlauf der Arbeit wandten wir uns hilfesuchend an die Bibliothek der Siedlung Chatanga, nutzten Materialien des Museums für Natur und Ethnographie, das uns J.A. Aksjonowa zur Verfügung stellte, welche diese über mehrere Jahre zusammengestellt hat, sowie an die Hauptspezialistin der Administration der Siedlung Chatanga – N.N. Kowaltschuk.

Hypothese:
Klärung der Frage, inwieweit die Lage der Sondersiedler des Taimyr sich von der Situation der entsprechenden Bevölkerungskategorie der UdSSR in anderen Regionen unterscheidet.

Schwierigkeiten:
heute gibt es so gut wie keine Menschen, die unmittelbar mit den Repressionen und ihren Abkömmlingen in Verbindung standen.

Alle Repressalien spiegelten sich in den einen oder anderen Dokumenten, Archiv-Dossiers, wider, die inzwischen in Behörden-Archiven der Rechtsorgane oder Sonderdienste verwahrt werden. Nur ein kleiner Teil dieser Unterlagen wurde zur Verwahrung an die Staatsarchive übergeben. In Chatanga gibt es solche Dokumente nicht, denn die Archivmaterialien wurden an die regionalen Dienste übertragen.

Praktische Nutzung der vorliegenden Arbeit:
Die Materialien dieser Arbeit können im Geschichtsunterricht in der Region Krasnojarsk und für das Studium der Geschichte Russlands der Epoche der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Verwendung finden, aber auch in der temporären Ausstellung des Schul-Museums im Rahmen des Themas „Ferne und nahe Geschichte“

Im Verlauf der Arbeit konnten wir klären, dass in unserer Siedlung fast keine Menschen mehr leben, die in der einen oder anderen Weise mit der Tragödie der Repressalien in Verbindung stehen. Doch auf unsere Fragen äußerten sich bereitwillig Erwachsene, die in Chatanga aufgewachsen waren, von denen viele die Repressionsopfer selber kannten oder mit deren Kindern zusammen in eine Schulklasse gingen. Aber zur damaligen Zeit war das Thema tabu, es war unangebracht und unangenehm sich darüber auszulassen.

Unser besonderer Dank gilt Nina Ilinitschna Kowaltschuk, der wichtigsten Spezialistin der Administration in der Siedlung Chatanga, den Museumsmitarbeiterinnen Jewdokia Afanassjewna Aksjonowa, Jewdokia Dmitrijewna Fedossejewa und Anastasia Afanassjewna Tschardu.

Auch den Mitarbeitern der Siedlungsbücherei möchten wir unseren Dank aussprechen – der Bibliothekarin Galina Nikolajewna Scheredeko und der Bibliographin Olga Leonidowna Maslowa.

II. Hauptteil

1. Aus der Geschichte der Repressionen:

Das Jahr 1937 hat sich für immer im Gedächtnis der Menschen eingeschrieben, besonders der älteren Generation. Manchem brachte es furchtbares Leid durch den Verlust von Angehörigen und Nahestehenden, manch einer erinnert sich an die Atmosphäre der Angst und der unheilvollen Vorausahnung. Natürlich entstanden die Repressionsmaßnahmen nicht unter Stalin – vielmehr nahmen sie ihren Anfang unmittelbar nach dem Oktober-Umsturz, aber gerade 1937 wurde zum Jahr des Massenterrors. In den Jahren 1937 und 1938 wurden aufgrund politischer Anklagen mehr als 1,7 Millionen Menschen verhaftet. Und zusammen mit den Deportationsopfern und den verurteilten „sozial-schädlichen Elementen“ überschreitet die Zahl die Zwei-Millionen-Grenze.

Zu den Repressalien zählen der Verlust jedweder Rechte und Privilegien, verbunden mit der ungesetzlichen Heranziehung zur strafrechtlichen Verantwortung, Freiheitsentzug, ungerechtfertigter Verurteilung, Einweisung von Kindern in Kinderheime nach der Verhaftung der Eltern, ungesetzmäßige Anwendung von Zwangsmaßnahmen medizinischen Charakters.

Die Unterdrückten verteilten sich auf mehrere Kategorien:

Die erste Massenkategorie – Menschen, die von Organen der Staatssicherheit (Allrussische Tscheka, Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung des Rates der Volkskommissare der UdSSR, NKWD, MGB, KGB) aufgrund politischer Anschuldigungen verhaftet und von Gerichtsinstanzen (Sonder-Kollegien, „Troikas“, „Dwoikas“ u. ä.) zur Todesstrafe oder unterschiedlichen Haftstrafen in Lagern und Gefängnissen oder zur Verbannung verurteilt wurden. Nach einstweiligen Schätzungen entfallen für den Zeitraum 1921 bis 1985 zwischen 5 und 5,5 Millionen Menschen auf diese Kategorie. Die frühesten Repressalien der Sowjetmacht (1917-1920), welche die Revolutionsepoche und den Bürgerkrieg betrafen, sind so bruchstückhaft und widersprüchlich dokumentiert, dass ihr Ausmaß bislang nicht ermittelt werden konnte (und wohl auch kaum jemals korrekt festgestellt werden kann, denn in diesem Zeitraum fanden nicht selten Massen-Gewaltanwendungen ohne Gerichtsbeschlüsse gegen „Klassenfeinde“ stand, was natürlich in Dokumenten nicht festgehalten wurde). Nach vorhandenen Schätzungen schwankt die Zahl der Opfer des „roten Terrors“ zwischen mehreren zehntausend (50-70) bis zu einer Million Menschen.

Die zweite Massen-Kategorie von Personen, die aus politischen Gründen unterdrückt wurden, sind – Bauern, die auf administrativem Wege aus ihren Wohnorten im Zuge der Kampagne der „Vernichtung der Bauernschaft als Klasse“ ausgewiesen und verschleppt wurden. Insgesamt wurden in den Jahren 1930-1933 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 3 und 4,5 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Der kleinere Teil von ihnen wurde verhaftet und zum Tod durch Erschießen oder Inhaftierung in einem Lager verurteilt. 1,8 Millionen Menschen wurden „Sondersiedler“ in unbewohnten, unerschlossenen Bezirken des Europäischen Nordens, des Urals, Sibiriens und Kasachstans. Bei den Übrigen wurde der Besitz beschlagnahmt, anschließend wurden sie innerhalb der Grenzen ihres Gebiets verstreut angesiedelt; außerdem floh ein beträchtlicher Teil der „Kulaken“ (Großbauern; Anm. d. Übers.) vor den Repressalien in größere Städte und zu Industrie-Bauprojekten. Die Folge der Stalinistischen Agrarpolitik war eine Massenhungersnot in der Ukraine und in Kasachstan, die das Leben von 6 oder 7 Millionen Menschen (durchschnittliche Schätzungen) vernichtete, allerdings zählen vor der Kollektivierung geflohene Personen und Hungertote nicht formell zu den Opfern der Repressionen, und sie sind in den Büchern der Erinnerung auch nicht enthalten. Die Zahl der entkulakisierten „Sonderumsiedler“ stellen eine große Anzahl in den Büchern der Erinnerung dar, wenngleich sie mitunter in den Regionen registrierte sind, aus denen sie verschleppt wurden, bisweilen aber auch in den Gebieten, in die man sie deportierte.

Die dritte Massenkategorie von Opfern politischer Repressionen sind Völker, die vollständig aus ihren traditionellen Wohnorten nach Sibirien, Mittelasien und Kasachstan ausgewiesen wurden. Die umfangreichsten administrativen Deportationen fanden während des Krieges statt, in den Jahren 1941-1945. Die Einen wurden vorsorglich als potentielle Komplicen mit dem Feind (Koreaner, Deutsche, Griechen, Ungarn, Italiener, Rumänen) ausgesiedelt. Die Anderen wurden wegen ihrer angeblichen Zusammenarbeit mit den Deutschen während der Besatzungszeit angeklagt (Krim-Tataren, Kalmücken, die Völker des Kaukasus). Die Gesamtzahl der Deportierten und in die “Trud-Armee” Mobilisierten beläuft sich auf bis zu 2,5 Millionen Menschen. [3]

Das Norillag

Organisiert 1935.

Das Lager wurde hauptsächlich für den Bau des Nickelkombinats und die Erschließung des Areals, auf dem das Kombinat und seine Unternehmen errichtet werden sollten, organisiert…[4]

Zu Sowjetzeiten war das Taimyr-Gebiet Ort politischer Massen-Verbannungen und des Verderbs tausender Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Verschleppt wurden nicht nur Bürger einzelner Nationalitäten, sogenannte „Volksfeinde“, sondern auch ganze Völker.

Der Archipel GULAG

Im Taimyr-Gebiet, dem größten Land des „Archipel GULAG“, trafen die ersten Partien politischer Gefangener mit Beginn des Baus des Norilsker Kombinats ein. Die völlig überfüllten Lastkähne und Motorschiffe transportierten auf dem Jenissei billige Arbeitskräfte für die Errichtung der Norilkser Fabriken. Mehr al zwanzig Jahre, von 1935-1956, existierte auf dem Territorium des Taimyr eines der größten Lager Sibiriens – das Norillag – mit Dutzenden Lagerabteilungen und Lager-Außenstellen.

Die Epoche des Stalinistischen Terrors war gekennzeichnet durch die Einführung einer besonderen Straf-Art – der Deportation einzelner Völker. Vertrieben wurden die Völker des Baltikums, die Deutschen aus dem Wolgagebiet, Koreaner, Völker des Taimyr.

In der Region Krasnojarsk befanden sich zu der damaligen Zeit 62443 Deutsche. Nach Materialien des Taimyrer Staatsarchivs, veröffentlicht im Buch „Kerze der Erinnerung“, Dudinka, 2006, wurden in der schiffbaren Zeit der Jahre 1942-1943 mehr als 8000 Umsiedler ins Taimyr-Gebiet geschafft: Wolga-Deutsche, Letten, Litauer, Esten, Rumänen, Finnen. 1944 gesellten sich ihnen noch 900 Kalmücken-Familien zu. Partien mit Sonderumsiedlern und Gefangenen trafen auf der Halbinsel Taimyr noch bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein. Über die Sondersiedler wurde nichts in den Zeitungen berichtet, sie wurden weder mit Medaillen, noch mit Orden oder Ehrenurkunden ausgezeichnet. Von einer Ausbildung oder Weiterbildung konnte schon gar keine Rede sein, und wenn sie lernen Sollten, dann durften sie dies nur an den Orten ihrer Sonderansiedlung. Von vielen dieser Menschenschicksale weiß niemand etwas. Es war verboten über dieses Thema zu sprechen.

2. Repressionen im Taimyr-Gebiet

Nach Angaben der 9. Behörde des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, in deren Zuständigkeitsbereich die Sondersiedler, Verbannungssiedler und Gefangene fielen, befanden sich am 1. Januar 1953 in verschiedenen Regionen der UdSSR 2.753.356 Sondersiedler – Vertreter verschiedener Völker, die gewaltsam aus ihren Wohnorten in östliche Bezirke abtransportiert worden waren: nach Kasachstan, Mittel-Asien, Sibirien, den Hohen Norden.

In der Region Krasnojarsk befanden sich zu dieser Zeit 62.443 Deutsche und 35.584 Vertreter aus den Ländern des Baltikums.

Gemäß Materialien des Taimyrer Staatsarchivs gelang es festzustellen, dass im Verlauf der Jahre 1942-1943 mehr als 8.000 Sondersiedler in unser Gebiet gebracht wurden: Wolga-deutsche, Letten, Litauer, Esten, Rumänen, Finnen. 1944 gesellten sich noch 900 Kalmücken-Familien zu ihnen. Partien mit Sonderumsiedlern und Gefangenen trafen auf der Halbinsel Taimyr noch bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein.

Besonders schlimm litten die Verbannten aus dem Baltikum – Litauer, Letten, Esten und Finnen. Sie wurden während der Verschickung aus ihren Wohnorten grausam betrogen: man erlaubte ihnen nicht warme Kleidung mitzunehmen, angeblich deswegen, weil man sie nur vorübergehend während der Sommerzeit an einen anderen Ort brächte. Faktisch wurden sie jedoch ins ferne Sibirien verschleppt. Den ersten Winter überstanden sie irgendwie inmitten der ortsansässigen Bevölkerung. Aber im Hohen Norden, auf der Halbinsel Taimyr, waren die Menschen praktisch ohne Kleidung: auf dem Kopf Lumpen, an den Beinen und über den Schultern – Säcke, es herrschte Frost von 30-40, manchmal bis zu 50 Grad. Massenerkrankungen brachen aus – Erkältungen, Skorbut, es mangelte an Nahrung, und sie mussten Schwerstarbeiten verrichten. Ganze Familien starben aus.

Es gab Fälle, in denen Ortsbewohner den Sondersiedlern zu Hilfe kamen, indem sie deren verwaisten Kinder in ihre Familien aufnahmen. Zu einer vor Hunger im Sterben liegenden Frau kam ein Rentierzüchter in die Erd-Hütte, Nikolaj Nikolajewitsch Kuropatow. Als er die erbärmliche Lage der Frau sah, sagte er ihr, er würde ihr Töchterchen mit zu sich nach Hause nehmen. Die Mutter konnte gerade noch durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung geben. Die kleine Maria hatte Glück. Sie überlebte, gewöhnte sich an die ungewohnten Bedingungen des Nomadenlebens. Der neue Vater verhielt sich ihr gegenüber sehr zärtlich und liebevoll und sorgte rührend für sie. Der berühmte Rentierzüchter lebt schon lange nicht mehr, aber die gute Erinnerung an ihn ist bis heute in den Menschen erhalten geblieben, die in der unheilvollen Zeit auf Taimyrer Boden verschleppt wurden.

Wenn man heute mit der Erfahrung von damals auf die vergangenen Zeiten schaut, dann kann man genau sagen, dass die Tragödie, die unsere Sondersiedler in den ersten beiden Wintern erwartete (1942-43) nicht stattgefunden hätte, wenn die Anzahl der hierher geschafften Menschen nach der Hälfte der ersten Partie gestoppt worden wäre. Sie hätten, wenn auch in sehr beengten Verhältnissen, immerhin in Holzhütten mit Fenstern, einem Ofen und einem Dach untergebracht werden können. Als dann die zweite und dritte Partie Sondersiedler in der schon kalten Jahreszeit (August und Anfang September) eintrafen, brachte man sie einfach auf den unbeheizten Dachböden der Häuser, in Pferdeställen und in Erd-Hütten unter, die sie sich sofort nach ihrem Abladen selber bauen mussten. Es war schrecklich, denn das war kein Wohnraum, sondern eher Höhlen, die bis zur Decke gerade einmal eine Höhe von 1,2 bis 1,5 Metern erreichten, und ohne Fenster (es gab kein Glas). Insgesamt gesehen waren die Menschen nicht nur der Willkür des Schicksals ausgeliefert, sondern zum Sterben hierher gebracht worden. So waren in Ust-Chantaika zum Jahr 1943 von 450 ursprünglich Angekommenen nur noch 180 am Leben, d.h. 60% waren gestorben; in Potapowo blieben von 1500 nur 400 übrig – 70% verloren ihr Leben. Eine solche Situation herrschte auch in anderen Siedlungen.

Der Tod fast der Hälfte der unschuldigen Menschen, die zwischen 1942 und 1944 ins Taimyr-Gebiet verschleppt wurden, ist ein weiterer Punkt in der Liste der von den Behörden des Stalinistischen Regimes verübten Verbrechen.

In der Zeit ab 1942 wuchsen unter den Sondersiedlern der nördlichen Gefilde eine ganze Reihe „Patrioten des Taimyr“ heran, die dem unvergesslichen Hohen Norden viele Jahre ehrlich und aufrichtig ihre Arbeitskraft hergaben, dem Land, auf dem ihre Jugend verlief, auf dem es Leid und Freude, Erfolge und allgemeine Anerkennung ihrer Tätigkeit gab. Sie sind in die Geschichte des Taimyr eingegangen.

Viele der Sondersiedler bekamen in den 1960-1970er Jahren Regierungsauszeichnungen verliehen: Orden und Medaillen.[5]

3. Die Repressionen im Bezirk Chatanga

Um in der Gegenwart die Tragödie der Repressionen im Bezirk Chatanga nachvollziehen zu können, möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auf die Beschreibung einiger Schicksale von Sondersiedlern lenken.

Amelie Fjodorowna Lautenschläger

Die kleine Stadt an der Wolga, in der Amalia geboren wurde, in der sie aufwuchs, liegt weit entfernt von der vordersten Frontlinie des beginnenden Krieges. Das Städtchen lebte noch sein bisheriges friedliches Leben in sorgenvoller Erwartung der Veränderungen, die es geben würde. Es fiel schwer sich vorzustellen, dass irgendwo an den westlichen Grenzen der Heimat alles schon ganz anders aussah, dass Leben und Tod sich miteinander verflochten und der gewohnte Rhythmus eines jeden Tages in der Vergangenheit verschwand. Die junge Amalie hat gerade erst die Schule beendet und ihre Papier in der Fachschule für Bauwesen abgegeben. In der Schule hatte sie erfolgreich gelernt und hatte nun die Absicht, ihre Ausbildung fortzusetzen. Alle Hoffnungen wurden in einem einzigen Augenblick zerstört.

Das gewohnte eben endete an einem schönen Augusttag des Jahres 1941. Amalia lief in ihrem leichten Crepe-de-Chine-Kleid, in Modell-Schuhen und einem modischen Hut eilig nach Hause: sie kehrte aus dem Kino zurück und dachte an nichts Böses. Das, was sie im Hof ihres Zuhauses sah, löste bei dem Mädchen einen Schock aus. Finstere dreinblickende Leute in Militäruniform eilten geschäftig in der Nähe eines großen Lastwagens hin und her, in dem, neben anderen, auch schon ihre Mutter mit den anderen drei Töchtern saß, von denen die jüngste gerade erst zwei Jahre alt geworden war. Auf die Älteste, Amalie, stürzten sich die Militärs mit einem Schrei, wo bei sie sie beschuldigten, dass sie sich in der Zeit, wo sie längst hätten abfahren sollen, Gott weiß wo „herumgetrieben“ hatte. Wie – abfahren? Wohin? Wieso? - Der Vater half seiner Tochter auf den Wagen zu klettern, man gab ihr nicht die Möglichkeit, noch einmal ins Haus zu gehen, wo sie geboren und aufgewachsen war und aus dem man sie wohl für immer fortbringen würde. Sie fuhr also nur mit der Kleidung, die sie auf dem Leib trug. Es stellte sich heraus, dass man der Familie zum Packen lediglich fünfzehn Minuten zur Verfügung gestellt hatte; nur auf Amalie hatten sie noch gewartet. Sobald sie also auf dem Lastwagen saß, setzte dieser sich in Richtung Bahnhof in Bewegung. Ohne Vorwarnung, ohne irgendeine Erklärung, ohne Gerichtsbeschluss und Ermittlungsverfahren. Die fensterlosen Güterwagen – „Kälberwaggons“, waren vollgestopft mit ebensolchen Leidensgefährten. Auf der viele Tage währenden Reise ins „Nirgendwo“ gab jemand Fjodor Fjodorowitsch, Amalies Vater, einen Teekessel, der, wie sich herausstellt, ein für unterwegs völlig unerlässliches Utensil war. Auch den anderen Familien hatte man kaum Zeit zum Packen gegeben. Es war schwierig sich dahingehend zu orientieren, was man an den unbekannten Bestimmungsort unbedingt mitnehmen sollte. Die gemütlichen, gepflegten Wohnungen mit all dem angeschafften Hab und Gut blieben herrenlos zurück. Auf irgendeinem Bauernhof begannen plötzlich die im Stich gelassenen, nicht gemolkenen Kühe zu muhen, wobei sie mit traurigen Augen den sich entfernenden Fahrzeugen hinterherschauten; auf einem anderen Hof liefen verzweifelte, verstörte Hühner herum…

Sie durchquerten die Einöde Kara-Kum, gelangten bis nach Tschimkent. Danach kam eine noch längere Fahrt – bis nach Sibirien. Die unfreiwilligen Passagiere kamen nach Chakassien. Hier, auf der Station Uschur, wurde der Zug abgekuppelt. Die Menschen wurden nun absichtlich auf verschiedene Ortschaften konzentriert – und zwar nicht mehr als jeweils zwei-drei Familien. Wahrscheinlich sollten so potentielle Komplotte, Aufruhr und Proteste verhindert werden. Den Vater, wir auch die Familienoberhäupter anderer Familien, holten sie in die Arbeitsarmee. Wie sich später herausstellte, arbeiten die Männer beim Holzeinschlag.

Bald setzte die Kälte ein, die Umsiedler wussten nicht, wo sie unterkommen sollten , sie besaßen keine geeignete Kleidung, nichts zu essen. Die Umgebung nahm die Deutschen keineswegs freundlich und wohlwollend auf, sondern als wären sie Feinde. Jeder konnte sie ungehindert beleidigen und kränken. Eine schreckliche Zeit.

Amalia arbeitete auf der weizen-Darre. Dort musste sie ungewohnte Schwerstarbeit verrichten, obwohl sie, ein reines Stadtmädchen, früher noch nie Weizen gesehen hatte, auch nicht, wie er wuchs und wie er bearbeitet wird.

Später erfolgte eine Umsiedlung in andere Siedlungen, eine andere Arbeit. Doch es war und blieb überall gleich schwierig. Es war vorgeschrieben, die Siedlung unter keinen Umständen zu verlassen. Unfolgsame wurden streng bestraft – mit Freiheitsentzug bis zu fünfundzwanzig Jahren. Auf diese Weise geriet ein junges Mädchen, Amalies Freundin, ins Gefängnis, die es gewagt hatte, sich auf den Weg in den Nachbarort zu machen, um dort als Ersatz für ihre abgetragenen Hausschuhe vernünftiges Schuhwerk zu kaufen. Sie wurde sofort denunziert und verhaftet und verbrachte mehr als fünf Jahre im Gefängnis: erst nach Berijas Tod wurde sie freigelassen.

Und trotzdem – ungeachtet der Entbehrungen und des Verbannten-Status gewöhnten sich die aus ihren Heimatorten hierher verschleppten Menschen nach und nach ein. Am Tröstlichsten für sie war der Tatbestand, dass auch ihre Umgebung sich allmählich an sie gewöhnte, sie näher kennenlernte, sich davon überzeugen konnte, dass es in ihnen nichts „Feindliches“ zu sehen gab und dass sie ihren ursprünglichen „Zorn in Barmherzigkeit und Wohlwollen verwandelten“ – die Einstellung ihnen gegenüber änderte sich grundlegend. Das Leben wurde leichter. Amalie arbeitete, half der Mutter dabei, die jüngeren Schwestern großzuziehen. Doch im Jahr 1946 geschah ein weiteres tragisches Ereignis – eine deutsche Nachbarin starb, mit der sie sehr gut befreundet gewesen waren. Die Frau hinterließ vier Kinder im Alter von zwei bis neun Jahren. Es versteht sich von selbst, dass Amalias Familie sie zu sich nahm. Auch wenn sie selber am Hungertuch nagten, konnten sie doch die Kinder nicht im Stich lassen. Und so löffelten sie gemeinsam ihre Brennnesseln und ihre Melde. Dann kam der Vater der Waisen nach Hause, Reinhold Petrowitsch, den sie in aller Eile aus der Arbeitsarmee abberufen hatten. Die Kinder hatten sich inzwischen vom Vater entwöhnt, sie wollten nicht wieder nach Hause zurück, weinten und drückten sich an Amalie…

Sie heiratete Reinhold. Die Familie Lautenschläger begab sich nach Scharypowo, in den Süden der Region Krasnojarsk. Im Laufe der Zeit zogen auch Mutter und Vater dorthin um, der damals bereits aus der Arbeitsarmee zurückgekehrt war: sie wollten etwas näher bei der Tochter sein, damit sie ihr bei der Erziehung der Kinder behilflich sein konnten, als die Jungvermählten im Februar 1947 auch noch einen Sohn bekamen. Um die Kinder irgendwie zu ernähren, fand die junge Mutter einen Ausweg: sie nahm einen Schlitten, einen Sack und eine Axt und ging 12 Kilometer weit, wo auf einem verlassenen Feld noch Kartoffeln von der Herbsternte im Boden steckten. Sie hackte die Knollen zusammen mit der gefrorenen Erde heraus und zog sie auf dem Schlitten nach Hause. Die eingesammelten Kartoffeln drehte sie durch den Fleischwolf und kochte daraus eine grau aussehende Suppe. Und davon lebten sie. Nur hätte eine solche Futterjage Amalie beinahe das Leben gekostet – als sie sich einmal in den Schlitten setzte, um kurz auszuruhen, und am Boden festfror. Sie wurde von ihrem Mann und ihrem Vater gerettet.

Später wurden bei den Lautenschlägers noch zwei Töchter und ein Sohn geboren. Insgesamt also acht Kinder. Um die Kinder groß zu bekommen, arbeiteten sie, ohne die Hände in den Schoß zu legen. Alle nur erdenklichen Arbeiten musste sie verrichteten: als Reinmachefrau und Konditorin bis hin zur Marktfrau. Zu mehreren Zeiten im Jahr arbeitete Amalie Fjodorowna sogar auf dem Mähdrescher. Mit den Lebensmitteln ging alles viel leichter. Außerdem half auch der Stadt, da es sich um eine kinderreiche Familie handelte. Amalie Fjodorowna holt als wertvolle, unbezahlbare Reliquie aus dem Schrank für Geschirr und Tischwäsche ein altes Büchlein mit der Aufschrift: „Persönliches Büchlein der Mutter für den Erhalt einer staatlichen Unterstützung“. Darin sind namentlich all ihre Kinder aufgezählt – von denen jedes Anspruch auf Unterstützung besitzt. Auch wenn sie nur gering ausfällt, so half sie immerhin dabei die Kinder groß zu bekommen.

Als Amalie vierzig Jahre alt War, verwitwete sie. Der Ehemann und Vater der riesigen Familie starb im Krankenbett. Nun allein zurückgelassen, widmete sie sich ganz der Erziehung der Kinder.

Mütterchen Jekaterina

Man lud uns mit Freude in das Haus ein deren Besitzer Mütterchen Jekaterina und Schwester Jelisaweta waren, Mutter und Tochter. Mütterchen Jekaterina fängt an, von ihrem Vater und ihren Ehemann zu erzählen. Als der Große Vaterländische Krieg ausbrach ereilte sie, die als Emma Davidowna Bauer geboren wurde, dasselbe Schicksal wie tausende andere Wolgadeutsche auch. Zu der Zeit und auch noch lange Jahre danach wurden die Worte „Deutscher“ und „Feind“ von den meisten Menschen als Synonyme verstanden. Das unausweichliche Ergebnis des Krieges, ausgelöst durch die deutschen Faschisten. Emmas Familie war der Vertreibung ausgesetzt. Von den heimatlichen Wolgaufern sollten sie ins entfernte, unbekannte und hinter dem Polarkreis gelegene Chatanga umsiedeln. Der bittere Tag des 28. August 1941 hat sich wie eine versteinerte Narbe in ihr Gedächtnis eingeprägt.
Der Herz und Seele zerreißende Abschied von den Landsleuten – sie stehen da und weinen.
Auch für die Tiere ist es eine Tragödie. Kühe, Hühner und das übrige häusliche Vieh blieben allein zurück; man verstreute noch das Futter, füllte die Tröge mit Wasser. Zum allerletzten Mal huschte vor den Augen der Umriss des heimischen Hofes vorüber und verschwand dann für immer: An jenem Tag begann der schwere, lange Umsiedler-Lebensweg. Alma-Ata, Nowosibirsk, Krasnojarsk – in diesen und anderen Städten und Stationen ließen sich die Umsiedler im Vorbeifahren „registrieren“, doch bis zu ihrem endgültigen Bestimmungsort war es immer noch unvorstellbar weit. Atamanowo – der erste Punkt, an dem die Familie Bauer für lange Zeit weilte. Der lange Aufenthalt war objektiv gerechtfertigt: der Winter, der sich seine Rechte in vollem Umfang herausnahm, hatte die einzige Transport-Arterie mit einer Eisschicht bedeckt – den Jenissei, denn nur über ihn konnte man ins tiefste, undurchdringlichste Dickicht des Hohen Nordens gelangen. Papa David Danilowitsch war zu dem Zeitpunkt weit von der Familie entfernt: man hatte ihn in die Arbeitsarmee geholt.

Hier war es dann auch, wo das Mädchen einem jungen Burschen begegnete. Er hieß Iwan Aleksandrowitsch Korolskij; nach kurzer Bekanntschaft verließen sie beide den Ort in unterschiedliche Richtungen. Iwan begab sich nach Nischnij Tagil. Nachdem er dort seine Ausbildung beendet hatte, kam der junge Soldat in seiner angesehenen Rolle als Panzerfahrer an die Front. Emma war in eine ganz andere Richtung abgefahren.

Am 18. August 1942, begab sie sich, indem sie die ursprünglich bestimmte Matschroute wieder aufnahm, an Bord eines Schiffes. Aus der Siedlung am Jenissei brachte man sie einstweilen allein fort. Die Mutter blieb mit den anderen Kindern in Atamanowo. Gewöhnt an die Wasser des Nordmeers nahm die alte „Montcalm“ Kurs nach Norden und transportierte das junge Mädchen auf dem Jenissei weiter flussabwärts. Emma war zu der Zeit achtzehn Jahre alt; unerträglich schwer war ihr die Trennung von den Lieben, von der Siedlung, an die sie sich bereits gewöhnt hatte, gefallen.

Es würde keine leichte Reise werden. Von Komfort konnte schon gar keine Rede sein. Es geht voran – und das ist gut. Im Frachtraum, erinnert sich Mütterchen Jekaterina, transportierten sie Gefangene. Sie wusste auch noch den Namen ihres Endziels – die Bucht von Koschewnikowo im Meerbusen von Chatanga. Am Ende der langen Reise zeichnete sich in der Ferne Chatanga ab. Doch zuerst musste die Strecke bis zur Mündung des Jenissei gemeistert und danach durch die Wasser zweier Meere, der Kara-See und der Laptew-See, die Halbinsel Taimyr umfahren werden; dann kam die Einfahrt in die Bucht von Chatanga, und anschließend ging es noch dreihundert Kilometer weiter bis Chatanga.

Die „Montcalm“, erinnert sich Mütterchen Jekaterina, konnte sich keinen Weg durch die Kara-See bahnen: die Durchfahrt wurde von dem traurig-berühmten Faschisten-Schiff „Admiral Scheer“ versperrt. Von seinen Decks aus beschossen die Deutschen die Siedlung Dickson, blockierten die Ausfahrt für Schiffe aus dem Jenisseisker Meerbusen ins offene Meer. Da die friedliche „Montcalm“ keine Waffen an Bord mitführte, war sie gezwungen, nach Dudinka zurückzukehren. Nach dem zweiten Durchbruchsversuch kehrte sie nach Ust-Port zurück. Es gab auch noch einen dritten Versuch. Erst als die „Admiral Scheer“ sich endlich zurückgezogen hatte, traf Emma Ende September mit dem Eisbrecher „Revolutionär“ in Chatanga ein.

Die gesamten Kriegsjahre verbrachte sie im Taimyr-Gebiet, im Bezirk Chatanga, wo sie Schwerstarbeit leisteten. Die Losung „Alles für die Front, alles – für den Sieg!“ war in jener schwierigen Zeit nicht nur sehr verbreitet, sondern natürlich auch gerechtfertigt. Emma war beim Fischfang beschäftigt. Zusammen mit anderen, ebenso jungen Mädchen. Ihre Brigade hatte ihre Basisstation hauptsächlich in der Siedlung Nowaja, anschließend in Krestach. Das Flüsschen Kulema, auf dem sechs Mädchen das dreihundertfünfzig Meter lange Schleppnetz auswarfen, wird vor den Augen so deutlich sichtbar, als wäre es erst gestern gewesen. Sie fingen eine Menge Fisch. Sie erfüllten nicht nur das schier unrealistisch erscheinende Plansoll, sondern übererfüllten es sogar noch. Die meterlangen Netze flickten sie selber – färbten sie in Bottichen mit Rinde. Das Taimyr-Gebiet ist – ein riesiges weißes Land. Für Emma und ihre Freundinnen war es begrenzt auf den engen Rahmen der Arbeitspflichten. Es gab keinerlei Verbindung zur den Verwandten. Große Freude bereitete eine Nachricht der Mama Ende 1942 aus Ust-Port, wo sie sich zu dem Zeitpunkt mit den Kindern befand, Emmas Brüdern und Schwestern. Es kam nicht nur ein Brief, sondern auch eine Geldanweisung. Das war ein wahrlich königliches Geschenk. Für das von der Mutter erhaltene Geld kaufte das Mädchen sich Schnürschuhe. Wie sehr hatte sie sich solche gewünscht, wie gut taten sie ihrer Seele, wie bedeutsam war dieses Ereignis vor dem Hintergrund des kümmerlichen Alltagslebens, dass Emma die Erinnerung an dieses eine Paar ganz gewöhnlicher Schuhe durch ihr ganzes Leben mitnahm. Es gab in den Kriegsjahren für die junge Vertriebene auch noch andere leuchtende Momente. Es ereignete sich in der Siedlung Nowaja, wo die Fischer-Mädchen wohnten. Eines Tages, erzählt Mütterchen Jekaterina, an einem herrlichen Sonntagmorgen, erwachte sie mit der Vorahnung, dass etwas Angenehmes geschehen würde. Und so kam es auch: sie betritt das Zimmer des Produktionsleiters Ananij Andrejewitsch Poleschajew: „Mädchen! Macht euch bereit für die Fahrt nach Chatanga: eure Mütter sind gekommen!“ Achtzig Kilometer mit dem Ruderboot! Getrieben von der Vorfreude über das Wiedersehen mit den geliebten Menschen, dem Wunsch, möglichst schnell mit ihnen zusammenzutreffen, bemerkten die Mädchen das aufziehende schlechte Wetter und auch ihre Müdigkeit nicht. Man schrieb das Frühjahr 1943. Das uns bereits bekannte Motor-Schiffchen „Montcalm“ brachte noch eine verspätete Partie deutscher Umsiedler. So wurde die Familie Bauer in Chatanga wiedervereinigt, um hier noch einige weitere Jahre zu verbringen. Mama Maria Iwanowna Bauer stand in dem Ruf, eine gute Schneiderin zu sein, und so wurde eine alte „Singer“-Nähmaschine ihre Ernährerin.

Ganz am Ende des Krieges, im Jahre 1945, kam mit dem Flugzeug ein Umschlag aus Berlin, auf dem eine einfache Adresse vermerkt war: Tundra, Chatanga, an Emma Davidowna Bauer. Der Brief stammte von Iwan Korolskij. Im Frühling 1947 kehrte Iwan Korolskij in die heimatlichen Atamanowsker Gefilde zurück. Der demobilisierte Oberleutnant wurde zum Schicksal des Mädchens, der gebürtigen Deutschen mit der russischen Seele: die beiden heirateten. Später wurden ein Sohn und eine Tochter geboren.

1954 zog die Familie Korolskij nach Turuchansk. Hier arbeitete sich das Familienoberhaupt Iwan Aleksandrowitsch in 27 Jahren zum Leiter der Anlegestelle hinauf. Mittlerweile befindet er sich nicht mehr unter den Lebenden. Der Sohn wohnt in einer anderen Stadt. Tochter Galina (Jelisawetas heutige Schwester) – lebte mit der Mutter im Elternhaus. [7]

Olgert Kroders

Geboren am 9. August 1921 in Riga in der Familie des bekannten Journalisten, Theaterkritikers und Übersetzers Robert Kroders und der Schauspielerin Herta Wulf. Der Onkel war der Journalist Artur Kroders, der Bruder – der Journalist und Kunstkritiker Gunars Kroders.

Er beendete das Gymnasium N° 2 in Riga (1940). Er studierte an der philologischen und philosophischen Fakultät der Lettischen Universität. Er war Repressalien ausgesetzt (14. Juni 1941) und befand sich in der Verbannung in Sibirien[1]. Nach der Rückkehr nach Lettland im Jahre 1956 begeisterte er sich für die Bühne, wirkte an Aufführungen der Amateurtruppe des Zentralen Klubs der Arbeiter im Druckereiwesen mit. Er war als Assistent des Regisseurs am Dailes-Theater tätig, veröffentlichte in der Presse seine Beobachtungen aus dem Probenalltag des Theaters.

Die selbständige berufliche Karriere eines Theaterregisseurs begann er in Liepäja (1959-1963). Er absolvierte und beendete höhere Regisseurskurse am Staatlichen Institut für Theaterkunst in Moskau (1964). Regisseur am Walmiersker Dramaturgie-Theater (1964-1974), dem Hauptregisseur des Liepäjer Theaters (1974-1990). Ab 1990 Regisseur des Nationaltheaters und von 1990-1995 sein künstlerischer Leiter.

Nahm an den Aufführungen des lettischen Theaters als Gast-Regisseur teil. Spielte auf der Bühne des Neuen Rigaer Theaters.

Drehte Filme in mehreren Kinostudios. Debütierte im Rigaer Filmstudio in dem Film des Regisseurs Roland Kalninsch „Tiefer atmen“ (1967), in dem er eine Nebenrolle spielte.

Autor eines biographischen Buches mit Erinnerungen „Ich versuche offen zu sein“ (Meginu but aklats, 1993). Mehrfach nominiert und Laureat der Theaterprämie „Spelmanu nakts“. Für seinen herausragenden Beitrag zur nationalen Theaterkunst bekam er die höchste lettische Auszeichnung verliehen – den Drei-Sterne-Orden.

War in erster Ehe mit der Filmkritikerin Maje Augstkalne verheiratet, in zweiter mit der Regisseurin Rita Kroders.

Starb am 10. Oktober 2012 in Valmiera.

III. Schlussbemerkung

Im Verlauf unserer Forschungsarbeit studierten wir Material des Chatangaer Museums für Natur und Ethnographie mit dem Ziel, die Geschichte der Repressionen im Taimyr- Gebiet und im Bezirk Chatanga zu erforschen.

Anhang

Gedichte über Repressionen

Die illegal Angeklagten,
Die Zwangsverurteilten,
Erfuhren am eigenen Leib die Aggression
auf die Opfer politischer Repressionen.
Aber das menschliche Gedächtnis erinnert sich an
Jenen schrecklichen schwarzen Schatten.
Und jetzt gab es ein Datum –
Für diesen traurigen, tragischen Tag.

***

So eine schreckliche Zeit war das.
Der Volksfeind war das Volk selbst.
Ein beliebiges Wort, ein beliebiges Thema.
Und das ganze Land auf Häftlingsetappe … vorwärts!
Aber wir erinnern uns!
Jetzt wissen wir.
Auf alle Verbote, auf alle Sachen ein Stempel…
Das Volk wurde massenweise auf Etappe geschickt,
damit es leichter war sie zu lenken…

HTTPS://pozdrawlandiya.ru/load/kalendaniye_prazdniki/oktiabr/den_pamiati zjertv politicheskikh repressij_y_stikhakh/148-1 -0-1105

Requiem über die Tundra, über die Taiga,
Erneut erklingt es von den Zugvögeln,
In der kurzen Herbstzeit,
Hört die raue Gegend dieses Lied,
In der die Totengräben schweigen.
Inmitten der Wege, die ins Nichts führen,
Auf Knochen, so dass die Schwellen weiß schimmern,
Inmitten des Winters, der für immer gekommen ist.
Möge auch der Briefwechsel nicht lange währen,
Was für ein Glück – selbst wenn es kurz nur ist.
Kein Kreuz, leider, kein Obelisk,
Tundra nur – endlos und weiß.
Nur ein trauriges Liedchen von den Toten
Erklingt bisweilen über der Tundra,
Zum Gedenken an unsere umgekommenen Lieben,
Die Schreie der Vögel, die nach Hause streben…

HTTPS://www.stihi.ru/2011/10/29/22

Von Moskau bis ans Ende der Welt… 30. Oktober
Aleksander Andrejewskij

Von Moskau bis ans Ende der Welt,
Bis an den fernen Fluss Kolyma,
Hob er Kanäle aus – der große Führer Stalin,
Millionen Menschen gruben. Auch wir,
Unsere Urgroßväter und unsere Großväter,
Es gruben die Mütter, es gruben die Väter,
Und Schmiedeten, schmiedeten Siege –
Opfer, Waisen, Witwen, Witwer.
Und auf hunderten ungeheuerlicher Baustellen,
Hunderttausende – an jedem Kanal,
Enteignete Großbauern, Verschleppte – dreimal so viele,
Millionen Gequälter – Erdwälle,
Im ganzen Land, gefärbt von Blut,
Auf den Kanälen – schwimmen wir ins Nichts,
Aber ein Geständnis abzulegen – dazu sind wir nicht bereit,
Das bedeutet – wir sind niemals zu retten.

Von Moskau bis ans Ende der Welt,
Vom Sand bis in den strengen Schnee,
Wie grausame Wunden auf dem Körper ,
Tragen jene Kanäle Blut in sich,
Und auf ihrem Grund – liegen unsere Großväter,
Unsere Mütter, unsere Väter,
Die all unsere Siege geschmiedet haben –
Opfer, Waisen, Witwen, Witwer…

HTTPS://www.stihi.ru/2004/10/30-07

***

Und sie gingen… Zum Gedenken an die Opfer der Repressionen
Aleksander Andrejewskij

Und sie gingen – durch Städte und Dörfer,
Durch kahle Tundra, durch dichte Taiga,
Voller Sehnsucht nach ihren verwaisten Kindern,
Mit einem Traum von Brot, einer bescheidenen Ration,
Die Hungrigen, Frierenden, Kranken,
Und einfach – die beinahe Gewichtslosen,
Deren schwächelnden Seelen so gut es geht
In ihren gebrechlichen Körpern Platz finden.
Jeden Moment können sie zur weißen Wolke fliegen
Dem Paradies sich nähern, und den traurigen Weg beenden,
Und sich ausruhen. Aber ich werde nicht vergessen,
Wie die grauenhafte Knute sie gepeitscht,
wie sie gegangen sind – durch Städte und durch Dörfer,
Durch kahle Tundra und durch trockene Steppen,
Voller Sehnsucht nach ihren verwaisten Kindern,
Unter dem leidvollen Klang der Fesseln über dem Land…

HTTPS://www.stihi.ru/2002/1 0/31 -503

Aleksander Andrejewskij

Verlorene Zeit, verbrannte Seelen,
Deiner besten Töchter und Söhne,
Das Land, das das ewige Feuer entzündet hat,
Und die mit der Asche der Toten völlig bedeckt Weite der
Unendlichen Wälder und Felder und Steppen,
Wo in tausenden deiner schrecklichen Lager
Zeit, Seelen und Leben verbrannten,
In den qualmenden Feuern einer nicht endenden Totenfeier.
Ohne Mitleid hast du Unschuldige in den Tod geschickt.
Im Verrat hast du Ehre und Heldenmut gesehen.
Und der Sohn denunzierte den Vater,
Das Land – verherrlichte ihn dafür,
Verbrannte in den Feuerräumen seiner Lager
Väter, Mütter, kleine Kinder,
Vergessend Glauben und Gewissen in den Herzen,
In abscheulicher Weise alles bedeckend mit der Asche der Toten.
Verbrannte Zeit, verlorene Seelen,
Bitter und schmerzlich. Was kann schlimmer sein,
Als die Gerippe der Kirchen, kraftlos erstarrt,
Im Kreis von Millionen anonymer Gräber,
In dem riesigen Land, welches sie vergessen hat,
Die Kinder, die unschuldig Umgekommenen,
Deren Seelen in uns mit ewigem Feuer brennen,
Rufen auf zur Buße – Tag und Nacht…

HTTPS://www.stihi.ru/2003/10/30-09

  Der Lohn eines Sondersiedlers betrug 13 Rubel.
  Preise für Waren auf Bezugsmarken Preise für Handelswaren
  1940 1945 1940 1942 1944 1945
  Zu Beginn des Jahres Zum Ende des Jahres Zum Ende des Jahres Preise der Muster-Kaufhäuser Zum Ende des Jahres Zum Ende des Jahres Zum Ende des Jahres
Kattun, Artikel 3 (pro Meter) 3 3 3 5,9 9,6 9,6 55
Seide, Artikel 133 (pro Meter) 6,3 6,3 6,3 12,5 20,2 20,2 95
Halb-Drap, Artikel 277 250 250 250 500 750 750 2000
Boston, Artikel 125 (pro Meter) 170 170 170 340 510 510 1450
Crepe de Chine, Artikel 5À (pro Meter) 58 58 58 102 148 148 600
Herren-Halb-Mantel, Artikel 7-30 (pro Stück) 377 377 377 660 980 4300 3000
Herren-Anzug, Artikel 13-31 (pro Stück) 367 367 367 640 954 4000 2950
Herren-Socken, Artikel 82 (pro Paar) 7 7 7 9,5 17,5 125 95
Herren-Chromleder-Schuhe, Artikel R- 3004 (pro Paar) 90 140 140 238 336 1875 1700
Herren-Überschuhe, Artikel 110 (pro Paar) 13,8 20 20 30 45 1080 700
Haushaltsseife, gewöhnliche, 1 Sorte (pro Kilogramm) 2,7 2,7 5.5     350 137, 5
Toilettenseife «Roter Mohn» (pro 75 Gramm-Stück) 1,5 1,5 4     55 85
Parfum «Rotes Moskau Ìîñêâà» (pro Flakon ¹ 4199) 28,5 28,5 57     500 400
Nähgarn «Prima» (pro Rolle) 0,5 0,5 0,5   1,75 35 20
Papirossi bester Qualität ¹ 3 «Kasbek» 25 Stück (pro Schachtel) 3,15 3,15 6,3   50 50 40
Aluminiumtopf, Artikel Ê-5 (pro Stück) 14 14 42 25   350 140
Teekanne aus Messingblech, vernickelt, 2,5 Liter (pro Stück) 56 56 168 75   750 500
Damen-Uhr der Marke «Sif» (pro Stück) 450 450 450 700 1350 5000 1700

Während des Krieges änderten sich die Einzelhandelspreise für Waren auf Bezugskarten nicht, mit Ausnahme der Preise für Haushalts- und Toiletten-Seife, Parfümerie- und Kosmetik-Waren, Geschirr aus Metall, Tabak-Erzeugnisse und einige andere Nicht-Lebensmittel.
Ab dem 11. April 1942 wurden für Waren, deren Ausgabe nicht auf Bezugsmarken erfolgte, höhere Preise festgesetzt; ab Mitte 1944 wurden die Preise für diese Waren erneut erheblich verteuert, wobei zudem der Verkauf in speziellen Läden erfolgte.

Filmographie

1967 — Atmet tiefer — Regisseur
1968 — 24-25 kehrt nicht zurück — Gunar Jansons
1970 — Risiko — Major Bersch
1973 — Die Identifizierung — Baron von Oster
1973 — Die Affäre Ceplis — Abgeordneter Klawinin
1973 — Das Schweigen des Doktor Iwens — Grass
1975 — Der Hafen
1977 — Geschenke am Telefon — Advokat
1978 — Das Sonderkommando — deutscher General
1978 — Dein Sohn — Kritiker
1979 — Warten Sie auf «John Grafton» — Lukschin
1982 — Der längste Strohhalm — Edward Wilke
1982 — Niccolo Paganini — Metternich
1983 — Atlantikflug — der Boss aus der „Lockhead“
1984 — Das Vermächtnis des Professor Doyle — Professor Doyle
1985 — Jahrhundertvertrag — Stilike
1986 — Der letzte Weg — Nesselrode
1986 — Die letzte Reportage — Schraudenbach
1991 — Kants Grab — Kant
1992 — Die Geheimnisse der Familie de Grandjean — Graf de Grandjean
1992 —Die Spinne
1996 — Anna — Blankenfeld 2001 — Das Versteckspiel — Andersson

Bibliographie

[ 1 ]HTTPS://pozdrawlandiya.ru/load/kalendarnye prazdniki/oktjabr/den_pamiati_zhert ó politicheskikh repressij v stikhakh/148-1-0-1105
[2] HTTPS://www.okorneya.ru/samostoyatelnyiy-poisk-predkov/dokumerityi-o- repressirovannyih/
[3] HTTPS://www. memorial .krsk.rur4] 1 htt|.r./7i4iAvikipediaA)rLi/vviki/%l)0%9D%D0 BE%D 1 %80%D0%B8%D0%DB%D1 %8C%D0%BB%D0%B0%P0%B3957 r.
[5] Materialien des Museums für Natur und Ethnographie.
[6] Materialien von N. Kowaltschuk
[7] Materialien von N. Kowaltschuk

 


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