Olga Kuskowa, 11. Klasse
Projektleiterin: Galina Nikolajewna Gontschar
Mittelschule Troiza
Zu Ehren des 60. Jahrestages des Sieges über das faschistische Deutschland wurde in unserem Haus der Kultur den damals im Hinterland Werktätigen Medaillen und Geldgeschenke überreicht. Neben mir saß meine Großmutter. Sie bekam nichts, worüber ich äußerst verwundert war, denn schließlich wußte ich doch, was für ein bitterer Lebensweg hinter ihr lag. „Sie haben mir sicher wegen der paar Ähren nichts gegeben“, - seufzte sie. Es tat mir unendlich leid zu sehen, wie sie mit verweinten Augen aus dem Saal hinausging.
Später erzählte sie mir ihre Lebensgeschichte.
Frieda Gottfriedowna Ibe wurde 1923 in dem Dorf Alt-Urbach geboren. Im September 1941 wurde sie, zusammen mit vielen anderen, als Folge des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941, aufgrund ihrer Nationalitätenzugehörigkeit aus dem gebiet Saratow in den Pirowsker Bezirk ausgesiedelt, wo sie sofort bei der Dorf-Kommandantur angemeldet und registriert wurde.
„Am frühen Morgen kam ein „Ordnungshüter“ zu uns nach Hause (d.h. ein abschnittsbevoll-mächtigter Milizionär) und teilte uns mit, daß wir eine Stunde Zeit zum Packen hätten. Wohin sie uns bringen wollten und wozu überhaupt – das erklärte und niemand. Wir nahmen nur das mit, was wir mit unseren Händen tragen konnten. Zuerst brachte man uns alle auf einen Dampfer; dort herrschte fürchterliche Enge, und dann mußten wir in einen Zug mit lauter Viehwaggons umsteigen. In dem Dorf Troiza wiesen sie uns ein vollkommen leerstehendes Haus zu. Wir begannen in der Kolchose zu arbeiten“.
Im Jahre 1942 wurde Frieda in die Arbeitsarmee mobilisiert. Etwa 50 Personen wurden aus Troiza weggeholt und in die Burjatisch-Mongolische ASSR verschickt, um dort in den Wäldern im Bereich der Holzbeschaffung zu arbeiten. Die Tätigkeit bestand im Umsägen von Bäumen, die anschließend noch in zwei Meter lange Stämme zersägt werden und dann zur Straße gezogen werden mußten. Pro Tag erhielten sie 800 Gramm Brot, Tee, manchmal auch Suppe und ein wenig Brei. Aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit und der ständigen Mangelernährung starben viele Menschen.
Die Arbeitsarmisten waren in Baracken untergebracht. Unweit von ihnen befand sich ein Weizenfeld, das von einer Wache beaufsichtigt wurde. Dennoch gelangten die hungrigen Arbeiter unbemerkt auf das Feld und sammelten ein paar Weizenähren ein, um diese später zu einem Brei zu verkochen oder die Getreidekörnchen zu braten.
Eines Tages entschloß sich auch Frieda Gottfriedowna zu einer solchen Verzweiflungstat. Lange redete sie auf ihr Schwester ein mit ihr zu gehen. Aber Lisa fürchtete sich vor einer Bestrafung und lehnte es ab, sich an er Aktion zu beteiligen. Also ging Frieda allein los. Aber es gelang ihr noch nicht einmal, bis zum Feld zu gelangen, als man sie auch schon aufgriff und in die Kommandantur brachte. Wegen versuchten Diebstahls wurde Frieda Gottfriedowna am 11. November 1943 von einem ständigen Gericht der Burjatisch-Mongolischen ASSR beim Dschidlag des NKWD zu 10 Jahren (!) verurteilt und zur Strafverbüßung in ein Erziehungs- und Arbeitslager der ASSR Komi geschickt. Auf dem Lager-Territorium gab es Männer- und Frauenbaracken, in denen jeweils 40 Perdonen untergebracht waren. Sie arbeiteten auf Plantagen, wo verschiedene Gemüsearten gezüchtet wurden: Wurzeln, Rüben, Lauch u. a. Hier waren die Lebensbedingungen besser, als in der Trudarmee. Sie bekamen besseres Essen und, sofern sie keine Regime-Verletzungen begingen, erlaubte man ihnen sogar Pakete von den Verwandten zu erhalten. Die Häftlinge bekamen auch Kleidung und Bettzeug gestellt. Von einer Freundin aus derselben Baracke erfuhr Fried Gottfriedowna, daß man Frauen, die ein Kind gebaren, früher in die Freiheit entließ. Sie glaubte den Erzählungen, wie sollte sie das auch nicht, wenn es im Lager sogar eine Kinderkrippe gab. Sie bekam einen Sohn. Aber man entließ sie weder sofort noch später. Sie wurde lediglich zu einer leichteren Arbeit in der Wäscherei verlegt.
In der arbeitsfreien Zeit erlaubte man den Gefangenen ungehinderte Bewegungsfreiheit auf dem Lagerterritorium. Sie durften sogar über die Grenzen der Siedlung hinausgehen, allerdings nur bis 7 Uhr abends. Wenn jemand gege Abend nicht zurückkehrte, dann wurde eine Suchaktion gestartet, die meist mit einer Erschießung endete.
Am 12. Mai 1953 wurde Frieda Gottfriedowna Ibe aus dem Erziehungs- und Arbeitslager freigelassen und an den vorherigen Ort ihrer Sonderansiedlung im Pirowsker Bezirk zurückgeschickt, wo sie auch heute noch lebt, stets bemüht, nicht an diese schrecklichen Jahre zurückzudenken.
Noch viel grausamer gestaltete sich das Leben einer Bewohnerin der Ortschaft Belskoje – Matrena Wasiljewna Solowewa. Als der Krieg begann, ging ihr Ehemann an die Front, und sie blieb mit sechs Kindern und einer kranken Schwiegermutter zurück. Pro Tag bekamen sie 400 Gramm Brot. Es war furchtbar, Tag für Tag die Augen der hungernden Kinder zu sehen. Dies trieb Matrena zu einem Verbrechen. Als sie auf der Tenne Weizen worfelten, schüttete sie ein paar Getreidekörnchen in ihre Tschirkis (Schuhe aus weichem Leder mit kürzen Schäften und dicken weißen Filzsohlen; Anm. d. Übers.), um sie nach der Arbeit mit nach hause zu nehmen. Das sah aber der Abschnittsbevollmächtigte Milizionär und schrieb darüber einen Bericht. Matrena Wasiljewna wurde vom Obersten Gericht zu 10 Jahren verurteilt; ihre Kinder wurden in Kinderheime verschickt. Matrena Wasiljewna verbüßte ihre Strafe im Nord-Jenisejsker Erziehungs- und Arbeitslager. Sie arbeitete bei der Holzbeschaffung und stand dabei häufig bis zur Taille im Schnee. Die Baumstämme wurden auf Schlitten transportiert, die nur wenig kleiner als Pferdeschlitten waren. Wenn die Kraft nicht ausreichte, um sie festzuhalten, dann rollten die Schlitten manchmal von den Anhöhen und überfuhren dabei einen Menschen. Einmal kam matrena Wasiljewna mit so einem Schlitten auch nicht zurecht – sie konnten den vollbeladenen Schlitten nicht mehr halten: „Er kippte einfachum und fiel auf mich. Lange Zeit verbrachte ich im Lager-Krankenhaus und dachte schon ich würde sterben. Aber es gibt überall auch gute Menschen, und sie waren es auch, die mich retteten – und dafür bin ich ihnen unsäglich dankbar“.
Matrena Wasiljewna ging zusammen mit ihrer kleinen Tochter in die Freiheit, fand auch all ihre anderen Kinder und holte sie aus den Kinderheimen. Ihr Mann war an der Front gefallen. Aber trotz all der Lebenserschwernisse schaffte Matrena Wasiljewna es, all ihre sieben Kinder großziehen.
Vor Ihnen liegen zwei Schicksale, die durch das stalinistische Regime völlig verstümmelt wurden. Wofür haben diese Leute eine für den menschlichen Verstand dermaßen unfaßbare Strafe bekommen? Für GAR NICHTS? Alles ist ganz einfach. Für jeden, der in der damaligen Zeit geboren wurde, zeigte sich das Leben nicht gerade von seiner besten Seite. Was brachte einem das Leben? Nichts als Hungerqualen während des Krieges, das stille Warten auf den Tod, auf Umsiedlung, Unruhe und Sorge, die zitternde Angst in den Lagern und Tränen, bittere Tränen des Leids, das, wie es scheint, nun ausgestanden ist, aber die dennoch bis zum allerletzten Ende deines Lebens verfolgt.
Die Erinnerungen der Frieda Gottfriedowna Ibe
Die Erinnerungen von Matrena Solowjewa