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Durch Feuer, Wasser und Kupferrohre

Jelena Laktionowa, Oberschule N°. 18, Tschernogorsk, 10 Klasse
Wissenschaftliche Leitung: Sch.W. Kadola, J.A. Laktionowa

In der Welt gibt es viele große Mächte,
aber in der Natur gibt es nichts Stärkeres als den Menschen.
Saadi

Eine Einteilung in „die Unseren“ und Fremde geschah schon vor langer Zeit, aber ungeachtet dessen, ist diese Einteilung relativ.

Die Seinen/die Unseren – das sind vor allem Verwandte und besonders nahestehenden Freunde; es sind Menschen derselben Nationalität und Religionszugehörigkeit. Die Seinen – das sind jene, die sich um dich herum befinden, die du häufig triffst (wobei der Ort nicht wichtig ist – bei der Arbeit, in der Schule, im Laden, an der Haustür ...). Und Fremde – das sind alle anderen. Das scheint ganz einleuchtend und einfach zu sein ... Ja, nur war es so vor langer Zeit, als es noch sehr wenige Menschen gab und sie in einzelnen Gruppen zusammenlebten, die gerade mal aus einer Familie bestanden, und weit voneinander entfernt waren. Damals verstand man unter den Seinen diejenigen, die in deinem Umfeld aus demselben Volksstamm kamen, also Verwandte, Nachbarn, Menschen gleichen Glaubens. Die Fremden – das waren alle anderen, einschließlich der wilden (noch nicht gefangenen und getöteten) Tiere. Aber die Zeit bleibt nicht stehen, alles ändert sich ... Es entstanden Staaten, von denen viele sich zu Vielvölkerstaaten entwickelten. Und wie verhält es sich jetzt, wenn beispielsweise jemand in einem Staat lebt, einer Nationalität angehört, die aber nicht dem betreffenden Staat zueigen ist, und einen Glauben ausübt, der in dem Land eigentlich nicht zu den Hauptglaubensrichtungen gehört? Wo lebt er dann? Soll er dann gleich die halbe Welt für die Seinen halten? Nein, das wäre natürlich sehr schön, aber es geht leider nicht immer ... Als eines der deutlichen Beispiele dafür kann die Geschichte dienen, die weiter unten erzählt wird ...

Vor mir sitzt eine Frau ... In meiner Angst mich irgendwie taktlos zu verhalten, betrachte ich sie mit wachsamen Augen ... Obwohl bereits viele Jahre seit ihrer Jugendzeit vergangen sind, sieht man ihr auch heute noch an, daß sie damals sehr schön gewesen sein muß.

In ihrem Leben gab es einen Schiffbruch; wie durch ein Wunder überlebte sie im kalten Wasser der Ostsee; aber ihre „Titanic“ zerbarst nicht wegen eines driftenden Eisbergs, sondern wurde durch eine Mine gesprengt. Sie überlebte, um anschließend in deutsche Gefangenschaft zu geraten und später auch noch die Gefängnisse und Lager Stalins. Es ist Ella Antonowna Lutz, geborene Zerr, eine Tochter des deutschen Volkes, geboren auf russischem Boden, die nach dem Willen des Schicksals zur „Feindin“ der Sowjetbürger wurde.

Aber trotzdem – alles der Reihe nach. Man muß mit der Erzählung in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts beginnen, als die ersten deutschen Umsiedler, als Reaktion auf das Manifest Katharinas II, am Ufer der Wolga eintrafen. Im Jahre 1763 gibt die russische Kaiserin ein Manifest heraus, mit dem sie Ausländer, hauptsächlich Bauern, aufruft, nach Rußland umzusiedeln, um dort die verödeten Randgebiete des Landes urbar zu machen. Den Kolonisten wurden eine Reihe von Privilegien zugesichert: Freiheitin der Glaubensausübung, Freistellung vom Wehrdienst, Vergünstigungen bei den Steuerzahlungen, juristische Selbstverwaltung. Dieses Angebot fand vor allem in den deutschen Staaten eine breite Resonanz, die durch den langjährigen Krieg verwüstet worden waren. Die landlosen deutschen Bauern, die unter der Unterdrückung ihrer Herren litten, schenkten den geradezu märchenhaften Versprechungen der russischen Kaiserin Glauben und strömten in großer Zahl nach Rußland. Beinahe fünfzig Jahre dauerte die Umsiedlung von Deutschen ins Wolgagebiet.

An beiden Ufern der Wolga, unweit der Stadt Saratow, wurden 105 Kolonien gegründet, in denen sich 27000 Ausländer niederließen, die meisten von ihnen Deutsche. Gleichzeitig siedelten sie sich auch in Petersburg und Umgebung, sowie den Gouvernements Tschernigow, Woronesch und Lipezk an. Ab dem Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts besiedelten die Kolonisten aktiv Klein-Rußland, Neu-Rußland, Bessarabien und die Krim. Mit den zwischen 1816 und 1864 stattfindenden Umsiedlerwellen kamen die Deutschen nach Wolhynien. Heute gehören all diese Bezirke zur Ukraine.

Die Umsiedler gehörten verschiedenen religiösen Konfessionen an. Unter ihne gab es Katholiken, Lutheraner, Baptisten, Mennoniten und andere. Sie vermischten sich untereinander genauso wenig, wie mit den in der Umgebung lebenden Russen, Ukrainern und anderen Völkern. Das zurückgezogene Dasein der Kolonisten gestattete es ihnen, die ihnen innewohnenden Eigenarten zu bewahren.

Ella Zerr wurde am 25. November 1926 als Tochter eines Bauern in einer deutschen Kolonie, in dem Dorf Ogajewo (früher trug dieses Vorwerk den Namen Hochheim), Molotschansker Bezirk, Gebiet Saporoschje, Ukraine, geboren. Ihr Vater war Anton Antonowitsch Zerr, geb. 1903, die Mutter - Emma Jakowlewna Zerr (Mädchenname Retter), geb. 1906.

Insgesamt gab es in der Familie fünf Kinder, alles Mädchen. Die älteste war Polina, geb. 1925, dan kamen Ella – geb. 1926, Irina – 1929, Antonina –1932 und Anna – 1937. Die Familie war katholischen Glaubens. Da sie in der Ukraine lebten, konnten sie auch Ukrainisch, aber meistens verständigten sie sich in ihrer Muttersprache Deutsch. Vater und Mutter konnten sowohl Deutsch als auch Ukrainisch lesen und schreiben.

Im Jahre 1929, zur Zeit der Kollektivisierung, wurden alle aus Deutschland Zugewanderten aus ihren Wohnorten, in denen sie heimisch geworden waren, ausgesiedelt. Die Familie Zerr mußte in die Stadt Orechowo, Gebiet Saporoschje, umziehen. Der Vater fand eine Arbeit als Modellierer in der Autoreparatur-Werkstatt. Irgendwie gelang es ihnen eine Bleibe zu finden – sie nahmen sich ein Zimemr.

Am 30. Dezember 1937, mitten in der Nacht, kam ein „Schwarzer Rabe“ zu dem Haus gefahren, in dem die Zerrs wohnten. Angehörige der GPU stürmten ins Haus und fingen an alles zu durchsuchen. Anton Antonowitsch wurde verhaftet. In dieser Nacht wurde auch sein leiblicher Bruder festgenommen und zahlreiche Deutsche ebenfalls verhaftet.

Sie haben den Vater furchtbar geschlagen, um ihm ein Geständnis abzuzwingen. Dabei fiel seine Zahnprothese heraus und zerbrach. Er übergab sie seiner Frau aus dem Gefängnis und bat darum, sie zu reparieren. Und als Emma Jakowlewna die reparierte Prothese ins Gefängnis zurückbrachte, verweigerte man die Annahme, ohne auch nur die geringste Erklärung dafür abzugeben. Erst in den 1960er Jahren erfährt die Familie Zerr, daß ihr Vater in eben jenem Jahr 1937 erschossen wurde und posthum rehabilitiert worden war.

Nach der Verhaftung des Vaters wurde die Familie aus der Wohnung hinausgejagt; sie fand Unterschlupf bei einer Frau, deren Ehemann ebenfalls festgenommen worden war. Sie erlaubte es ihnen, vorübergehend bei ihr unterzukommen. Emma Jakowlewna ging zur Arbeit in die Fabrik, während die älteste Tochter Polina zuhause bei den Kleinen blieb. Sie hat die vierte Klasse abgeschlossen und später keine Gelegenheit, weiter zur Schule zu gehen. Sie betreute die kleine Anna, die noch nicht einmal ein Jahr alt war, und paßte auf die fünfjährige Antonina und die achtjährige Ira auf.

Ella war elf Jahre alt, als sie den Vater festnahmen; sie konnte sehr gut lernen und beendete 1941 die ukrainische Sieben-Klassen-Schule mit lauter Fünfen (entspricht den Einsen im deutschen Zensuren-System; Anm. d. Übers.). Russisch lernte sie innerhalb des Unterrichts-programms, aber sie war auch Ukrainisch und natürlich der Deutsch – ihre Muttersprache. Sie las und schrieb in beiden Sprachen fließend.

Die Sieben.Klassen-Schule galt damals als vollwertige mittlere Schulbildung. Ella träumte davon, an die Sommer-Fachschule zu kommen, die sich 60 km von Orechowo entfernt, in der Stadt Saporoschje, befand, wohin sie sich dann auch zufuß mit ihrer Freundin aufmachte. Trotz ihres hervorragenden Zeugnis wurde Ella nicht angenommen, während man die Freundin mit all ihren Dreien aufnahm. Denn Ella hatte einen schwarzen Fleck in ihrer Biographie, weswegen man sie auch schon in die kommunistische Jugendorganisation nicht aufgenommen hatte. Aber eine Reiseerlaubnis ins Pionierlager – die hatte sie wegen ihrer hervorragenden Lernerfolge von der Fabrik erhalten. Nachdem ihr die Absage an der Schule erteilt worden war, kehrte Ella nach Orechowo zurück und fuhr dann zur Erholung ins Pionierlager. Als sie aus dem Urlaub wiederkam suchte sie sich eine Stelle als Lehrling in der Kolchose.

Als der zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Emma Jakowlewna als Deutsche sofort aus der Fabrik entlassen. Sie konnte nur noch Arbeit als Köchin in der Kolchose finden.

Im September 1941 marschierten die Faschisten in die Ukraine ein, die Besatzungszeit begann. Die gesamte ortsansässige Bevölkerung, und das waren im wesentlichen Zugewanderte aus Deutschland, wurde unverzüglich unter Kommandantur gestellt. Man gab Ausweise an sie aus, in denen stand, daß sie jetzt alle „Volksdeutsche“ wären. Emma Jakowlewna, die der deutschen Sprache mächtig war und lesen und schreiben konnte, wurde zur Kolchos-Vorsitzenden ernannt. Ella begann als Übersetzerin in der Kommandantur zu arbeiten, tippte auf der Schreibmaschine, übersetzte aus dem Deutschen ins Ukrainische. Man fing an die Kinder in der Schule deutschsprachig zu unterrichten.

Im September 1943 ging die sowjetische Armee in die Offensive, die Deutschen fingen an zurückzuweichen. Dabei jagten sie auch die ortsansässige Bevölkerung mit sich fort, ohne diese nach ihren Wünschen zu fragen. Sie ließen sich ausschließlich von den Interessen Deutschlands leiten, das dringend Arbeiter benötigte.

Die Zugewanderten aus dem deutschen Volk wurden von ihnen nicht als vollwertige Deutsche anerkannt, so daß ihnen ihre zukünftige Rolle bereits vorbestimmt war – Arbeitskräfte für hauptsäschlich schwere und schmutzige Tätigkeiten. Nachdem man ihnen erlaubt hatte, ein Minimum an persönlichen Sachen einzupacken und mitzunehmen, ließ man sie auf Leiterwagen steigen und brachte sie unter der Bewachung bewaffneter Soldaten auf Motorrädern und mit Hunden nach Deutschland. Auf diese Weise durchquerten sie die gesamte Ukraine und Rumänien. Und als sie sich bereits an der Grenze zu Polen befanden, verfrachtete man sie auf einen Zug und fuhr sie nach Litzmannstadt. Auf dem Bahnhof standen zwei Sanitätszüge. Bevor man sie von dort weiter transportierte, schickte man jeden Gefangenen ins Bad, führte ihn einer Ärztekommission vor und desinfizierte seine Sachen. Die Ärzte untersuchten die Häftlinge sehr sorgfältig, tasteten genauestens die Köpfe ab und gaben dann ein Gutachten darüber ab, daß es sich tatsächlich um deutsche Abkömmlinge handelte, welche die Reinheit der Nation bewahrt hatten und keine Mischehen eingegangen waren. Erst danach erlaubte man ihnen, sich wieder auf den Weg zu machen. Untergebracht wurden sie in einem Lager für „Volksdeutsche“ in der Stadt Kulm.

Dort ließ man alle jungen, kräftigen Mädchen und Jungen in Reih und Glied antreten und nahm dann eine Auslese vor, wen sie wohin schicken wollten.Diejenigen, die die Sprache gut beherrschten und lesen und schreiben konnten, kamen in die Armee oder als Arbeitskräfte in deutsche Familien. Alle anderen wurden zur Arbeit in Schachtanlagen, Bergwerken sowie in der Landwirtschaft eingeteilt.

Ein Deutscher nahm Ella als Haushälterin zu sich. Er war Kohlenhändler und wohnte mit seiner Familie in der Stadt Zopot. Er besaß ein zweistöckiges Haus mitten im Stadtzentrum. Fast ein Jahr lang arbeitete Ella in dieser Familie. Lohn bekam sie nicht, aber man gab ihr zu essen. Ein einziges Mal erlaubten sie ihr, Mutter und Schwester zu besuchen, die im Lager für „Volksdeutsche“ zurückgeblieben waren.

Die sowjetischen Truppen setzten ihre Angriffe fort; die Lage war äußerst gespannt, und im Februar 1945 begann die Deutschen den Rückzug anzutreten, wobei sie Beutegut, Verwundete und Kriegsgefangene mit sich nahmen. Ella geriet mit den anderen zum Hafen. In der Ostsee traf man Vorbereitungen für die Abfahrt von zehn Schiffen in einer großen Karawane und unter verschärfter Bewachung. Sie sollten ihre Fracht in Deutschland abliefern; einen anderen Weg gab es für die Faschisten schon nicht mehr. Ringsumher waren erbitterte Kämpfe im Gange, die Deutschen flohen, ein Zurückweichen über die Ostsee war ebenfalls äußerst riskant, denn sie war vermint worden – nicht nur von Russen und Engländern, sondern auch von den Deutschen selbst. Lange Zeit standen die Gefangenen in einer Reihe und warteten auf ihre Verladung. Bereits in der Nacht waren Ella und ihre Freundin auf das dritte Schiff in der Karawane gekommen. In den Frachtraum konnten sie nicht hineingelangen – er war überfüllt mit verwundeten Soldaten und gefangenen Frauen mit ihren Kindern. Die Menschen dort unten waren regelrecht zusammengequetscht. Nur mit Mühe kam das Schiff vom Ufer los, an dem noch tausende und abertausende Menschen, kriegstechnische Ausrüstungsgegenstände und viele andere Dinge zurückblieben, die die Faschisten hatten erbeuten können.

Die Mädchen standen an Deck; es wehte ein scharfer, kalter Wind. Ella blickte mit Wehmut auf das sich immer weiter entfernende Ufer, immer weiter brachten sie sie von zuhause fort. Sie wußte nichts über das Schicksal ihrer Verwandten. Ella stand an der Reling, hielt sich an der Geländerstange fest und blickte in das aufschäumende, kalte Wasser ...

Ella wurde in die Höhe geworfen und fiel auf den Rücken. Das Schiff wurde von einer heftigen Detonation erschüttert und zerbrach mit einem schrecklichen Knirschen und Krachen in zwei Teile. Um sie herum brannte alles lichterloh. Von irgendwoher, von oben, ergoß sich über das Mädchen glühendheißes Maschinenöl, floß ihr über den Kopf, lief ins Gesicht. Ella stürzte sich ins Wasser, obwohl sie überhaupt nicht schwimmen konnte. Die Kleidung blähte sich auf wie eine Blase und hielt sie an der Oberfläche; das eisige Wasser ließ sie wieder zu Bewußtsein kommen. Sie öffnete die verbrannten Augenlider, ihr Kopf brannte wie Feuer.

„Warum gehe ich nicht unter?“ fragte sie sich. Sie bewegte sich taumelnd an der Wasseroberfläche und hielt sich mit den Händen an einem Stück abgerissener Holzverschalung fest. Ella wandte sich nicht um und sank auch nicht auf den auf Grund, weil sich von der anderen Seite ein deutscher Seemann kräftig mit beiden Händen an demselben Stück Holz festklammerte, un er rief Ella zu, daß sie sich ordentlich festhalten und nur nicht loslassen, daß sie laut schreien und um Hilfe rufen sollte. Aber schreien konnte sie nicht; die Stimme versagte ihr, die Kehle war wie zugeschnürt. Ella fühlte ihre Hände gar nicht mehr. Sie versuchte die Finger zu bewegen, aber es gelang ihr nicht. Die Hände in den Lederhandschuhen waren an dem Stückchen Holzverschalung festgefroren, hatten sich mit einer Eisschicht bedeckt – und nur deshalb war sie nicht untergegangen, obgleich die schwere, vom Wasser durchtränkte Kleidung sie wie Blei nach unten zog. Ihr fehlte die Kraft, um Widerstand zu leisten, aber die angefrorenen Hände und der Seemann als Gegengewicht auf der anderen Seite bewirkten, daß sie an der Oberfläche blieb.

Wie lange dauerte dieser Alptraum? Die Zeitlosigkeit war über sie hereingebrochen, jegliches Zeitgefühl vollkommen verlorengegangen.

Plötzlich streifte der scharfe Lichtstrahl eines Scheinwerfers das Wasser. Man hatte sie bemerkt; ein Schnellboot der Wachmannschaften näherte sich. Man zog sie zusammen mit dem Bruchholz aus dem Wasser.

Um Ellas Hände frei zu bekommen, mußten zuerst ihre Handschuhe mit einem Messer vom Holz losgeschnitten werden – und anschließend von ihren Fingern. Man entkleidete sie und begriff erst da, daß es sich um ein Mädchen handelte: das gesicht hatte sich in eine einzige große Brandblase verwandelt und sie hatte überhaupt keine Haare mehr auf dem Kopf.

Ella konnte nichts mehr sehen, es war, als ob ein Schleier vor ihren Augen lag. Der Schmerz war so stark, daß sie ihn nicht einmal fühlte. So etwas kommt vor, wenn das Gehirn sich weigert, das Geschehene zu glauben und zu verarbeiten.

Man nahm dem Mädchen die Armbanduhr ab; sie war in dem Augenblick stehen geblieben, als sie ins Wasser gesprungen war. Vierundfünfzig Minuten hatten sie im eisigen Wasser zugebracht. So geschehen am 14. Februar 1945 um 7 Uhr abends. Das Schiff, auf dem Ella sich befunden hatte, war das dritte innerhalb der Karawane gewesen: zwei von ihnen waren durchgekommen, und dieses war durch eine Mine gesprengt worden. Alle, dies sich im Frachtraum aufgehalten hatten, waren auf der Stelle tot. Dort waren etwa 8000 Mann untergebracht gewesen, meist Frauen mit Kindern, alles unsere Landsleute. Die Ostsee wurde für sie zum Massengrab.

Das Schnellboot der Wachleute kehrte in den Hafen zurück, von dem aus es in See gestochen war. Ella wurde in die Stadt Zopot gebracht, ins Krankenhaus, das im Wald, in einem eingeschossigen Haus finnischer Bauart gelegen war. Das gesamte medizinische Personal bestand aus einem einzigen, schon etwas betagten Arzt; versorgt wurden die Kranken von Nonnen. Medikamente gab es nicht, es fehlte auch an Wasser und Lebensmitteln.

Ella überlebte wie durch ein Wunder, nach und nach kehrte ihr Sehvermögen zurück, aber das Gesicht blieb entstellt; die Haut war großflächig verschorft, ständig sickerte Eiter heraus. Zwei Monate lang hatte sie keine Möglichkeit, sich zu waschen – die ganze Haut war von Dieselbrennstoff, Maschinenöl und Ruß durchtränkt.

In demselben Krankenhaus befand sich auch ihre Freundin Melita; beide Mädchen hatten sich im Augenblick der Explosion an Deck befunden, und als das Schiff in zwei Teile auseinanderbrach, war Melita auf der anderen Hälfte zurückgeblieben, die sich etwas länger an der Wasseroberfläche gehalten hatte; sie wurde von Matrosen des dahinter fahrenden Schiffes gerettet.

Die sowjetische Armee war weiter unbeirrt auf dem Vormarsch; jeden Tag fanden Bombardierungen und Artilleriebeschüsse statt. Ella erlitt Splitterverletzungen an Armen und Beinen.

Die Deutschen konnten nicht länger in Polen bleiben; sie brachen das Lazarett ab, nahmen die Verwundeten mit und brachten sie zur Abfahrt nach Deutschland in eben jenen Hafen. Vor der Abreise brachten ihr die Nonnen noch ein langes Nonnengewand, eine Kittelschürze, einen alten, Peltmantel mit aufgenähtem Stoff (Gott allein weiß, wo sie den hergenommen hatten) und ein paar der Stiefel der Größe 42.

Ihr Kopf und ihre Arme waren verbunden. Humpelnd betrat Ella das Schiff, wobei sie es glattweg ablehnte, den Frachtraum zu betreten. Sie wollte lieber auf dem Deck bleiben. Fünf Tage waren sie mit dem Schiff unterwegs und hungerten. Alsdann mußten sie auf See auf ein anderes Schiff umsteigen, mit dem sie noch zwei weitere Tage fuhren. Man begann sie mit eingewecktem, geschmorten Fleisch und Makkaroni zu versorgen.

Endlich war die Reise zuende und Ella betrat deutschen Boden. Sie sah so furchtbar aus, daß man sie sofort zum Bahnhof schickte, wo rund um die Uhr das Rote Kreuz in Bereitschaft war. Melita ging mit ihr dorthin. Ella gewährten sie dort medizinische Hilfe, gaben ihr zu essen, und sie erzählte, daß sie auf der Suche nach ihrer Mutter und den Schwestern wäre. Man händigte ihr ein Dokument aus, das es ihr erlaubte, mit jedem beliebigen Transport, sogar mit einem Militärzug, zu fahren, und nannten ihr spezielle Orte, an denen Gefangene festgehalten wurden. So machten sie sich auf ihre Verwandten zu suchen, liefen verschiedene Bahnstationen ab, aber Gefangene gab es dort schon keine mehr – man hatte sie bereits viel weiter ins Landesinnere getrieben. Es gab lediglich Kanzleien, in denen man ihnen darüber Auskunft geben konnte, wohin Mutter und Schwestern geschickt worden waren. So liefen die Mädchen von Station zu Station. Die Soldaten, die Ella zu Gesicht bekamen, wandten sich an Melita: „Wo jagst du denn mit dieser alten Frau hin? Laß sie doch!“ – Dabei war Ella damals gerade erst neunzehn Jahre alt. Schließlich war das Glück Ella hold, und sie fand ihre Verwandten in einem der Lager für Volksdeutsche. Man hatte der Mutter migeteilt, daß ihre Tochter sie suchte, und ihr dann erlaubt sie am Bahnhof abzuholen.

Als die Mädchen auf den Bahnsteig hinaustraten, konnte Ella ihre Mutter nirgends entdecken. Der Bahnsteig war mesnchenleer, und so beschlossen sie und ihre Freundin in das Bahnhofsgebäude hineinzugehen. Dort sah Ella ihre Mutter und Schwester Irina, die nicht auf die beiden Mädchen achteten, sondern nur suchend ihre Augen umherwandern ließen.

Ella trat an die Mutter heran und fragte: „Mama, siehst du mich denn nicht? Erkennst du mich etwa nicht wieder? Ich bin es doch – Ella!“ – Emma Jakowlewna machte eine abwinkende Handbewegung und wandte sich zur Seite. „Nein, das ist nicht meine Tochter“, sprach sie mehrmals vor sich hin. Schließlich, als ob sie begriff, was geschehen war, schrie sie auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie verlor das Bewußtsein und stürzte zu Boden ...

Zwei Wochen lang wusch die Mutter immer wieder Ellas Gesicht. Die Haut war förmlich durchtränkt von Maschinenöl, Ruß und Straßenschmutz; es schien unmöglich, daß sie jemals wieder ihr ursprüngliches Aussehen annehmen würde. Das Wasser wurde immer wieder fettig, braun und trübe und strömte einen widerlichen Geruch aus. Siebenundfünfzig Jahre sind seitdem vergangen, aber Ella Antonowna kann bis heute nicht den Geruch von Benzin oder Dieselbrennstoff ertragen.

Die faschistische Armee wurde zerschlagen, das Lager, in dem sich die Familie Zerr befand, ging an die amerikanischen Behörden über. Man hörte auf, die Gefangenen außerhalb des Lagers zur Arbeit zu treiben, und gab ihnen vernünftig zu essen. Emma Jakowlewna fand einen Job als Reinmachefrau im Verwaltungsgebäude.

Einmal wandte sich die Muter an den Militärarzt mit der Bitte, der Tochter zu helfen, die sonst an den erlittenen Verbrennungen zugrunde gehen würde. Die Kruste wollte sich einfach nicht vom Gesicht lösen, die Wunden eiterten. Es war grauenvoll für sie, sich im Spiegel zu betrachten: die Wimpern fehlten und sie hatte auch keine Haare mehr auf dem Kopf.

Nachdem der Arzt Ella untersucht hatte, legte er die Art der Behandlung für sie fest. Zweimal täglich ging sie zur Anwendung. Nachdem die Wunden sich zusammengezogen hatten und teilweise verheilt waren, bekam sie Massagen, Masken und Bäder. Die Haut glättete sich und nahm wieder ihre ursprüngliche Farbe an. Dank der Behandlung sind auf ihrem Gesicht keine Narben zurückgeblieben. Allmählich wuchsen auch die Haare nach, allerdings nur sehr langsam, und später kamen auch die Wimpern wieder zutage. Die Bemühungen der Ärzte waren nicht vergebens; innerhalb eines Monats gaben sie dem Mädchen ihre Schönheit zurück.

Mai 1945. Der Sieg! Darüber wurden die Gefangenen von den amerikanischen Soldaten informiert. Es erging ein Befehl, nach dem die sowjetischen Kriegsgefangenen in die Heimat zurückkehren sollten. Man gab Ausweispapiere an sie aus.

Die amerikanischen Soldaten warnten, daß sie lieber nicht nach Hause zurückkehren sollten; dort würde sie nur die Verbannung nach Sibirien erwarten. Ein deutscher Offizier versuchte Emma Jakowlewna zu überreden, daß sie Ella nach Amerika gehen ließ: „Sie wird die Welt sehen und ein gutes Leben führen, aber in Rußland – da erwartet euch Sibirien“. – „Nein, wir fahren in die Heimat! Mit Blumen wird man uns empfangen!“ erwiderte Emma Jakowlewna. „Wir hatten doch solche schreckliche Sehnsucht, nach Hause zu kommen“, erinnert sich Ella Antonowna. – „Stalin war für uns ein lieber,guter Mensch, einer der Unseren“.

Es kam der Tag der Abreise aus dem Lager. Alle wurden auf Fahrzeuge geladen und an den Fluß Oder gebracht. Auf der anderen Uferseite warteten bereits unsere Soldaten. Die Amerikaner sollten die Gefangenen bis zur Mitte des Flusses bringen und sie dort an die sowjetischen Soldaten übergeben. Die Autos waren noch nicht einmal bis zur Flußmitte hinübergefahren, als den Menschen auch schon laute Rufe ans Ohr drangen: “Ihr deutschen Hunde!“

Unmittelbar nach Übergabe der Häftlinge begannen die Verhöre. Emma Jakowlewna wurde zwei Wochen lang jede Nacht verhört. Auch Ella wurde zum Verhör gebracht. Die Menschen hofften, daß man sie nach Hause bringen würde, aber stattdessen landeten sie in einem Lager, das die Faschisten zurückgelassen hatten. Erst im Juli wurde ein Zug zusammengestellt, in demdie Menschen nach den Regionen, aus denen sie kamen, untergebracht wurden: Ukraine, Weißrußland, usw. So gelangte die Familie Zerr im Juli 1945 in die Stadt Orechowo, von wo die Deutschen sie im September 1943 vertrieben hatten.

Ella Rakowlewna wurde noch auf dem Bahnhof verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Ella ging mit ihren Schwestern in die Stadt, in der Hoffnung, dort irgendwie unterzukommen, aber Obdach fanden sie nur in der nahegelegenen Sowchose. Einen Monat später verhafteten sie Ella und steckten sie ins Gefängnis der Stadt Saporoschje. Sie geriet in dieselbe Zelle wie ihre Mutter – dort begegneten sie sich am 10. August 1945. Bald darauf fand die Gerichtsverhandlung statt, und die Mutter wurde nach § 54 Pkt.10 zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Man schickte sie nach Nischnij Tagil zur Holzfällerei. Emma wurde in Abwesenheit von einer bevollmächtigten „Trojka“ nach § 54-1a zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt – mit Verbüßung der Haftstrafe in Tschernigorsker Sonderlagern.

Die jüngeren Schwestern blieben allein zurück. Als Irinchen 16 Jahre alt wurde, wurde sie zur Kommandantur bestellt. Man drohte den Schwestern, gab Anweisung, die jüngeren Schwestern in ein Kinderheim zu geben. Man sagte Irina, daß sie ebenfalls eingesperrt würde, sobald sie das 17. Lebensjahr vollendet hätte. So gab sie die kleinen Mädchen ins Heim: Antonina war damals 13, Anna 8 Jahre alt.

Bevor sie ins Tschernogorsker Sonderlager kam, mußte sie Gefängnisse in verschiedenen Städten durchlaufen: in Charkow, Gorkij, Kirow und Krasnojarsk.

Man brachte die Häftlinge in „Kälber“-Waggons nach Sibirien, unter der Begleitung bewaffneter Wachmannschaften. Sie transportierten alte Menschen und Kinder, viele kamen unterwegs ums Leben. Es war schrecklich, an den Bahnstationen aus den Waggons herauszuschauen. Die Ortsansässigen wußten, daß man politische Häftlinge transportierte. Sie schrieen: „Da transportieren sie die Faschisten ab“, und bewarfen die Waggons mit allem, was ihnen nur in die Finger kam.

An der Station Tschernogorsker Bergwerke trafen sie im Mai 1946 ein. Begleitsoldaten mit Hunden begleiteten sie bis ans Lagertor. Ella wurde in einer großen Baracke untergebracht, die in Sektionen für jeweils 20 Menschen unterteilt war. Innen standen zusammengenagelte, zweistöckige Pritschen, und in der Mitte des Raumes ein Eisenofen.

In disem Lager befanden sich hauptsächlich Häftlinge, die aufgrund politischer Paragraphen verurteilt worden waren. Ukrainer, Weißrussen, Sowjet-Deutsche und Polen, gerade solche Pechvögel, solche armen Teufel, die schon bei den Faschisten in Gefangenschaft gewesen waren oder in den besetzten Gebieten gelebt hatten.

Zum Arbeiten schickten sie Ella zum Schacht N°. 15, in den Transportbereich. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Kohle-Loren von Pferden gezogen; später kamen die Elektroloks auf. Sie arbeiteten in drei Schichten von jeweils 8 Stunden, und wenn bekanntgegeben wurde, daß die Kohleförderung erhöht werden sollte, dann mußten sie bis zu 12 Stunden pro Schicht arbeiten. Zu essen gab man ihnen Heringe, Wassersuppe und Haferbrei. An Brot erhielten sie 900 Gramm, und die, die unter Tage arbeiteten, bekamen 1200 Gramm. Die Jahre 1944 und 1945 waren besonders schlimme Hungerjahre im Sonderlager. Vom Lager zur Arbeit und zurück wurden sie in Fünfer-Kolonnen gebracht, immer in Begleitung bewaffneter Wachen mit Hunden.

1949 wurde Ella freigelassen, aber vier Tage vor ihrem Entlassungstermin brach sie sich während der Arbeit ein Bein. Man legte ihr einen Gipsverband an. So blieb sie noch einen Tag länger im Lager. Dann setzte man sie in einen Einmann-Schlitten und brachte sie zur Kommandantur in der Sowjetskaja-Straße. Dort hieß man sie aussteigen und fuhr davon, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Bis zum Abend saß sie vor dem Eingang unter der glühenden Sonne. Schließlich kam der Diensthabende, sah, daß sie dort mit ihren Krücken in einem staatlichen Anstaltskleid saß, und hatte im selben Augenblick begriffen ....

- Sagen Sie nur, Sie haben hier den ganzen Tag ohne Essen und Wasser in der Hitze gesessen!? – sagte er.

- Ja, - antwortete Ella.

- Haben Sie denn überhaupt eine Bleibe?

Ella dachte nach. In dieser Stadt wartete niemand auf sie, und in eine andere Stadt gehen – das war ihr verboten worden.

- Vielleicht im Gemeinschaftswohnheim, dort habe ich Bekannte. Wir haben zusammen die Haftstrafe verbüßt, - antwortete Ella.

Der Milizangehörige schickte sie mit einem vorbeifahrenden Auto, das in dieselbe Richtung fuhr, in die Kirow-Straße, wo sie von den Bekannten in Empfang genommen wurde. Dort wohnte sie so lange, bis man ihr den Gips abnahm.

Direktor Schertowskij vom Schacht N°. 15 wußte, daß Zerr einen Arbeitsunfall erlitten hatte. Mehrmals half er ihr während der Zeit, in der sie nicht atbeiten konnte, mit Geld aus. Nachdem sie genesen war, suchte Ella sich in eben diesem Schacht eine Arbeit, wo sie bis zu ihrer Rente blieb. Und damals war sie doch gerade erst 23 Jahre alt ...

Im Jahre 1950 erhielt Ella von der Schachtleitung ein Zimmer in der Oktober-Straße. Und 1951 heiratete sie einen Mann, der zur Verbannung nach Tschernogorsk verschleppt worden war, und zwar auf unbestimmte Zeit. Er war Aserbeidschaner, ein hübscher, kluger Mann, der über einen guten Geschmack verfügte, ein galanter Kavalier, der es verstanden hatte, ihre auf schöne Weise den Hof zu machen. Damals gab es in der Stadt eine Menge verschleppter Aserbeidschaner. Ihre Ehe war nicht offiziell registriert; sie besaßen immer noch keine Ausweise und hatten kein Recht, ihren Wohnort zu verlassen. Einmal monatlich meldeten sie sich in der Kommandantur. Sohn Jurij wurde geboren, und bald darauf erhielt ihr Ehemann die Erlaubnis, in die Heimat zurückzukehren. Er versprach, ihret- und seines Sohnes wegen wiederzukommen, aber schon als er sich zur Abreise fertigmachte, verstand Ella, daß er nicht wiederkehren würde.

Sie hatte es sehr schwer: keine einzige verwandte Seele gab es in der Stadt, und auf den Armen trug sie den kleinen Sohn. Es war unmöglich, ihn in einer Kinderkrippe unterzubringen. Bei fremden Leuten mußte sie ihn lassen, denn sie mußte zur Arbeit gehen, damit sie von irgendetwas leben konnten.

Freunde schrieben an ihren Ehemann, redeten ihm ins Gewissen und machten ihm Vorwürfe, aber er schrieb dermaßen grobe Briefe an sie zurück, daß Ella auch heute noch nicht ohne Schaudern darüber sprechen will.

Er schrieb: „Du bist Deutsche! Die Faschisten haben uns so gedemütigt – dafür soll es Dir nun schlecht ergehen“. Aber was für ein Leben sein Sohn nun führen sollte, daran verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Er rächte sich, aber bei wem? Beim eigenen Sohn, in dessen Adern sein Blut floß?

Aber das Leben, selbst wenn es nicht leicht war, ging weiter. Ella tat ihr Bestes. Das kleine, ärmlich eingerichtete Zimmerchen strahlte vor Sauberkeit. Sie selbst war eine junge, schlanke, hübsche Frau, die sich stets mit großem Fleiß bemühte – sowohl auf der Arbeit, als auch zuhause, wo es immer sauber war. Und ihr kleines Kind war immer gut gepflegt. Die Männer schenkten Ella ihre Aufmerksamkeit, nur sie selbst hatte schreckliche Angst, noch einmal einen Fehler zu machen. „Die Liebe ist nicht für mich gemacht“, redete sie sich ein.

Eines Tages trat Valentin Lutz in ihr Leben. Er war ebenfalls Deutscher, der seine Strafe im selben Lager wie Ella verbüßt hatte. Nur wurde er etwas später freigelassen. Allgemeine Bekannte brachten ihn irgendwie zu Ella zu Besuch mit. Danach begann er öfter mal bei ihre hereinzuschauen und machte ihr schließlich einen Heiratsantrag. Lange überlegte Ella hin und her, denn sie wußte, daß ihr Auserwählter im Lager, im Heim für Kleinkinder, eine Tochter hatte. Die Frau – die Mutter des Mädchens, verbüßte immer noch ihre Strafe. Aber Lutz war beharrlich und überzeugte sie davon, daß er eine bessere Frau als sie für ein Zusammenleben in der Familie nicht finden würde.

Die Freundinnen rieten ihr zur Heirat, und machten ihr klar, daß sie auch keinen besseren finden würde, zumal er ebenfalls Deutscher war, auch eine Haftstrafe abgesessen hatte und ein außereheliches Kind besaß. „Ihr habt ganz ähnliche Schicksale, und das bedeutet, daß er dir wegen deiner Vergangenheit niemals Vorwürfe machen wird und auch nicht deswegen, daß du eine Deutsche bist“. Ella dachte noch eine Weile nach und erklärte sich dann mit der Heirat einverstanden. So wurde aus Ella Zerr – Ella Lutz.

Valentin Lutz war der Sohn eines Arbeiters. Er wurde 1924 in dem Großdorf Werchnjaja Korbitsa, Bezirk Saporoschje, geboren. Die ganze Familie erlebte die Besatzungszeit. Nach Eintreffen der sowjetischen Truppen wurde er verurteilt und ins Tschernogorsker Sonderlager gebracht. Seine Mutter verschleppte man nach Nowosibirsk, der Vater kam im Nowosibirsker Gefängnis ums Leben.

1953 wurde das Sonderlager aufgelöst, und die Frau, die Mutter seiner Tochter, schrieb ihm einen Brief, in dem sie ihn bat, die Tochter zu sich zu nehmen, damit man das Mädchen nicht ins Kinderheim schickte. Valentin fragte Ella um ihre Erlaubnis, das Kind nach Hause zu holen. Sie erklärte sich einverstanden. So kam sie zu einer Pflegetochter. Drei Jahre später wurde die Mutter des Mädchens in die Freiheit entlassen und nahm die Kleine dann zu sich.

Ella Antonowna schenkte zwei Töchtern das Leben, Ludmila und Valentina, und später noch einem Sohn namens Nikolaj. Die Lutzens bauten ein Haus, begannen zu leben, aber einige Nachbarn verhielten sich ihnen gegenüber nicht wohlwollend, indem sie ihren Kindern verboten, mit den Kindern der Familie Lutz zu spielen. So verdarb ein schwarzer Fleck ihr und der Kinder Leben.

In den 1960er Jahren kamen Dokumente für ihre Rehabilitation. Aus den Archiven erhielten sie die offizielle Bestätifung, daß Ella Antonowna Zerr gewaltsam aus Deutschland fortgebracht worden war. Ellas Vater wurde posthum rehabilitiert. Ebenfalls erhielten sie Papiere über die Rehabilitierung ihrer Mutter, des Ehemannes sowie der Schwiegermutter.

Nachdem wir unsere Unterhaltung beendet hatten, wischte Ella Antonowna sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „Ich hadere mit meinem Schicksal nicht, aber es ist schon sehr bitter zu erkennen, daß die ganze Hölle, durch die ich gehen mußte, mir nur deswegen vorausbestimmt war, weil ich als Deutsche geboren wurde“.

Bleibt nur zu hoffen, daß die Menschheit irgendwann einmal begreift, daß sie ursprünglich eine Einheit darstellt, und eine andere Nationalität keinerlei Grund für Haß ist ...

Anlagen.


Ella Zerr, 1948


Valentin Lutz, 1951


Ella Antonowna Lutz (Zerr) mit Sohn Jurij,
1952 in Tschernogorsk

Alle beigefügten Fotografien stammen aus dem persönlichen Archiv von Ella Zerr.


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