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Versengte Schicksale

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Bildungsministerium der Russischen Föderation

Staatliche Behörde für Allgemeinbildung
Kadettenschule – Internat des „Norilsker Kadettenkorps“

(Allrussischer Wettbewerb historischer Arbeiten von Schülern der höheren Klassenstufen „Der Mensch in der Geschichte . Rußland 20. Jahrhundert)

Autor: Roman Lifa
Klasse 11, Norilsker Kadettenkorps

Projektleiterin: Maija Michailowna Schitowa – Deutschlehrerin

Stadt Minusinsk, 2008

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Kapitel 1. Geschichte ohne Retuschierung
Kapitel 2. Versengte Schicksale
2.1. Legendäre Menschen
Kapitel 3. Schlußbemerkung
Anhang

Einführung

In der nördlichen Umgebung von Minusinsk, dort, wo das Eichenwäldchen beginnt, am Fuße des traurig-berühmten Berges Lysucha, wurden in den 1930er und 1940er Jahren Hinrichtungen an politisch verfolgten Bürgern verübt, die aus allen südlichen Bezirken der Region ins Minusinsker Gefängnis transportiert worden waren.

Am 30. Oktober 1992 wurde in diesem Wäldchen, am Fuße jenes Berges, and er vermuteten Erschießungsstelle für die Opfer der politischen Repressionen ein Mahnmal errichtet.

Der Marmor-Koloß von ungefähr zwei Metern Höhe, mit seinem darauf angebrachten Metallkreuz, verkörpert die Absicht der kompositorischen Idee seines Urhebers: der Stein selbst personifiziert die gebeugte Gestalt eines Menschen, der sein eigenes Kreuz trägt.

Jedes Jahr am 30. Oktober, dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen, wird hier eine Aktion des Gedenkens und der Trauer veranstaltet.

Hier versammeln sich ehemalige Repressionsopfer – jene wenigen, die noch unter den Lebenden weilen. Mit jedem Jahr wird ihre Zahl geringer. Sie bringen Blumen hierher – zum Gedenken an Nahestehende und Belannte, die irgendwann in den schweren Jahren der politischen Verfolgungen erschossen wurden.

Eine Minute des Schweigens – gedenke der „schuldlos Schuldigen“.

Ich betrachte ihre Gesichter, versuche in ihnen die Spuren des Leids, der Verbitterung, des Unmuts zu finden. Doch ich finde sie nicht. Es sind ganz normale betagte Menschen mit freundlichen Blicken, deren Herzen überhaupt nicht verbittert sind – aber sie haben auch nichts vergessen.

Hier gibt es Vertreter aller Nationalitäten – Deutsche, Letten, Litauer, Griechen, Russen ... Sie haben ein- und dasselbe Schicksal miteinander geteilt.

Ausgerechnet hier machte ich die Bekanntschaft ganz bemerkenswerter Menschen – Wladimir Karlowitsch Miller und Galina Edmundowna Lassing-Miller. Und am 30. Oktober, dem Tag des alten Menschen, luden wir Wladimir Karlowitsch zu einem Gespräch zu uns ins Kadettenkorps ein.

Mit angehaltenem Atem lauschten wir Wladimir Karlowitschs Bericht über die schweren Tage der Vertreibung und der Arbeit in der Holzfällerei. Aber das Erstaunliche war, daß Wladimir Karlowitsch von diesem schrecklichen Abschnitt seines Lebens mit ganz viel Lebhaftigkeit und Enthusiasmus erzählte, und er brachte deutlich zum Ausdruck, daß alle diese Jahre für ihn ganz und gar nicht verloren waren. Mehr noch, er nannte sie die „Lehr- jahre seines Lebens“. Da habe ich dann den festen Entschluß gefaßt, unbedingt das Schicksal dieses Mannes zu Papier zu bringen. Denn schließlich ist sein ganzes Leben ein Stückchen russischer Geschichte; deswegen bemühte ich mich, vor dem Interview mit Wladimir Karlowitsch, alle existenten Geschichtsmaterialien über jene Zeit genauestens zu studieren.

Geschichte ohne Retuschierung

Die Geschichte Rußlands ist nicht nur voll von authentischen Größen. Es gibt in ihr auch zahlreiche, nicht besonders angenehme Seiten. Wir sind stolz auf die Kriegs- und Arbeitserfolge, die wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften unserer Vorfahren, die dem Vaterland ihre Kraft, ihr Talent und ihren Mut gaben, aber wieviele Menschen wurden dabei geopfert!

Schlagen wir doch einmal die Verfassung der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken auf, die am 5. Oktober 1936 auf der Außerordentlichen 8. Sitzung der Unionsräte der UdSSR verabschiedet und bestätigt wurde. In Artikel 123 heißt es: „Die Gleichberechtigung der Staatsbürger der UdSSR..., unabhängig von ihrer Nationalität und Rassenzugehörigkeit, in allen Bereichen des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen und gesellschaftlich-politischen Lebens, ist unumstößliches Gesetz. Jegliche direkte oder indirekte Einschränkung der Rechte oder, umgekehrt, die Einführung direkter oder indirekter Vorrechte bestimmter Bürger wegen ihrer Rassen- oder Nationalzugehörigkeit, ebenso wie auch jegliche Propaganda einer rassen- oder nationalitätsbedingten Exklusivität oder Ausdrucksformen von Haß und Nichtachtung – unterliegen per Gesetz der strafrechtlichen Verfolgung“. Und noch ein Fragment. Der Artikel 127. Er lautet: „Den Staatsbürgern der UdSSR wird die Unantastbarkeit der Person gesichert. Niemand dard auf andere Weise verhaftet werden als durch Verfügung des gerichts oder mit Zustimmung des Staatsanwalts“.

Leider bezeugt die Geschichte Rußlands das Gegenteil. Politische Verfolgungen und Deportationen sind eine der tragischsten Seiten in den Annalen des Landes und der Region. (Deportation – gewaltsame Umsiedlung von Menschen aus ihren angestammten Wohnorten in andere, unbewohnte und wenig zum Leben geeignete Orte).

Bereits lange vor 1917 war die Region Turuchansk im Russischen Imperium als Gebiet für politische Verbannung nicht weniger bekannt, als die berüchtigten Nertschinsker Bergwerke. Aber die schlimmste Berühmtheit der „Sibirischen Zwangsarbeit“ ist mit dem 20. Jahrhundert verbunden. Allein zwischen dem 23. August 1937 und dem 15. Juni 1938 wurden in der Region Krasnojarsk 11620 Personen erschossen und 5439 in Lager geschickt. Hunderttausende von Häftlingen wurden im Kraslag, Norillag, Gorlag, in der Siedlung Jenisejskoje und anderen Lagern festgehalten. Mit den Händen der Häftlinge wurde die Eisenbahnstrecke Salechard – Igarka verlegt ...

In diesen Jahren wurden 500.000 Sonderumsiedler in die Region Krasnojarsk verschleppt. Darunter befanden sich Deutsche von der Wolga und aus der Ukraine, pontische Griechen, Polen Weißrussen, Russen, Kalmücken. Die schreckliche Zahl von 60000 wegen erlogener Anklagen Verurteilter darf man an dieser Stelle nicht vergessen!

Die komplette Deportation der Deutschen aus der ASSR der Wolgadeutschen vollzog sich hauptsächlich in der ersten Septemberhälfte des Jahres 1941. Der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurde von allen Rußland-Deutschen als gesamtnationale Tragödie wahrgenommen. In den Jahren des Ersten Weltkrieges hatten sie noch in der Zarenarmee gedient. 1941 waren sie bereit, in den Reihen der Roten Armee zu kämpfen. In den ersten Kriegsmonaten gingen von Seiten der Wolgadeutschen 2500 Gesuche mit der Bitte ein, sie als Freiwillige an die Front zu schicken, 8000 zogen zu Felde.

Im Sommer 1941 zeigte sich in der ASSR der Wolgadeutschen die Unzufriedenheit der jungen Männer darüber, daß die Kriegskommissariate sie für die Einberufung in die Armee ablehnten. Diese diente als Anlaß für die nachfolgenden Ereignisse. Nach einer Visite von L.P. Berija und W.M. Molotow in der ASSR der Wolgadeutschen erging am 28. August 1941 der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, in dem von der Existenz von Spionen und Diversanten die Rede war, die sich angeblich unter der deutschen Bevölkerung aufhielten; die Bevölkerung wurde beschuldigt, Feinde der Sowjetmacht und des sowjetischen Volkes bei sich zu verstecken. Zur Vermeidung unerwünschter Folgen hielt man es für unausweichlich, die gesamte in den Wolgarayons lebende deutsche Bevölkerung in andere Gegenden des Landes umzusiedeln. Dazu wurden die Gebiete Nowosibirsk und Omsk, die Altai-Region, Kasachstan sowie andere Bezirke bestimmt. Zur Durchführung der Aussiedlungsoperation der Deutschen aus dem Gebiet Saratow in der ASSR der Wolgadeutschen wurden 1450 Mitarbeiter des NKWD, 3000 Mitarbeiter der Milit und 9650 Rotarmisten abgestellt. Die Abfahrt der Züge mit den deutschen Sonderumsiedlern wurde für den Zeitpunkt ab dem 3. September 1941 festgelegt. Es war geplant 21450 Familien in die Region Krasnojarsk zu verladen. Im Verlauf der Operation wurden 438.280 Deutsche aus der ehemaligen deutschen Wolga-Republik verschickt.

Am 2. September 1941 wurde im Büro des Krasnojarsker Gebietskomitees der WKP (B) die Anordnung „Über die Ansiedlung von aus der Deutschen Wolgarepublik, den Gebieten Saratow und Stalingrad, stammenden Umsiedlern in die Region Krasnojarsk“ verabschiedet. Zwei Wochen später, am 14. September, trafen zwei Züge mit Sonderumsiedlern in der Region Krasnojarsk ein – insgesamt 2270 Personen. Wenig später begann die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus anderen Regionen des Landes. Aber gerade die Wolgadeutschen machten den größten Anteil der Sonderumsiedler in den südlichen Bezirken der Region Krasnojarsk aus. Insgesamt trafen 67264 Deutsche aus der ASSR der Wolgadeutschen in der Region Krasnojarsk ein. Lediglich für 4 von 7 Bezirke der Region gelang es bisher, Angaben über den zahlenmäßigen Bestand der Sonderumsiedler zu machen.

So trafen am 16. und 17. September an der Anlegestelle der Stadt Minusinsk 2511 Personen ein, die in 25 Dorfsowjets des Minusinsker Bezirks sowie in der Stadt Minusinsk selbst untergebracht wurden. Aus dieser Gruppe wurden 133 Familien (etwa 520 Personen) in den Bezirk Ermakowo geschickt. Leider existieren beim Ermakowsker Bezirksexekutivkomitee keinerlei Dokumente zu dieser Angelegenheit. In der Hauptsache szammten die Sonderumsiedler aus den Städten Engels, Marxstadt, Saratow, den Dörfern Ditel, Krasnojar, der Bahnstation Pokrowsk und anderen. In den Idrinsker Bezirk kamen 380 Familien (1946 Personen in 35 Dorfsowjets), in den Bezirk Karatus 242 Familien (1070 Personen in 15 Dorfsowjets). Die Verantwortung für die Ablieferung der Umsiedler in den neuen Wohnorten oblag den Kolchos-Vorsitzenden und jeweiligen Dorfräten.

Zu ihren Pflichten gehörte auch die Bewilligung von Transportmitteln und Wohnraum. Für neu angekommene Deutsche wurden Arbeitsplätze in der Kolchose organisiert. Alle deutschen Umsiedler wurden akribisch registriert; innerhalb kürzester Zeit wurde die gesamte deutsche Bevölkerung erkennungsdienstlich behandelt. Die Bezirks- und Stadt-Exekutivkomitees waren verpflichtet rechtzeitig Informationen über Anzahl der Personen, die wirtschaftliche Lage der Sonderumsiedler-Familien, die in ihren Reihen stattfindende massenpolitische Arbeit und das etwaige Vorhandensein einer antisowjetischen Stimmung zu übermitteln. Die Mehrheit der Verschleppten Wolgadeutschen wurde in Kolchosen untergebracht. Wie die Verordnung der Volkskommissare der UdSSR besagte, durften die Sonderumsiedler von allen Bürgerrechten gebrauch machen, mit Ausnahme der festgelegten Beschränkungen, welche ihnen im wesentlichen gerade diese Bürgerrechte wieder nahmen. Sie besaßen nicht das recht, ohne Erlaubnis der Sonderkommandantur den Einzugsberich der Kolchose, Sowchose oder Stadt zu verlassen, waren verpflichtet, innerhalb von drei Tagen alle Veränderungen innerhalb der Familie zu melden und Disziplin und Ordnung in den Siedlungsorten strengstens einzuhalten. Bei Verletzung des Regimes unterlagen sie einer administrativen Bestrafung. Mit allen Fragen und problemen der Sonderumsiedler befaßte sich die Abteilung für Sonderumsiedler innerhalb der Sonderkommandantur, abgekürzt OSP.

1942 wurden aufgrund des Befehls N° 1123 (streng geheim) des Staatlichen Komitees für Verteidigung der UdSSR alle deutschen Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 55 Jahren einschließlich durch die Bezirkskriegskomitees in Arbeitskolonnen mobilisiert – die sogenannte Trudarmee. Zusammen mit den Sonderumsiedlern wurden auch ortsansässige Deutsche einberufen. Die Mobilisierten sollten Winterkleidung, Bettwäsche und Lebensmittel für 10 Tage mitnehmen. Gleichzeitig wurden unverzüglich alle Kriegsdienstleistenden deutscher Nationalität von der Front abgezogen – 33516 Mann, darunter 1609 Offiziere, 4292 Sergeanten, 27724 gewöhnliche Soldaten. Faktisch gehörten die Arbeitslager zum System des GULAG. Das Gelände war von vier Reihen Stacheldrahtzaun umgeben, an den Ecken standen Wachtürme mit Wachsoldaten und unten – weitere Wachen mit Hunden. Es herrschte eine strenge militärische Ordnung; die Menschen wurden in Reih und Glied zur Arbeit ausgeführt und auch wieder zurückgebracht. Erst 1948 kehrten die überlebenden Deutschen aus der Trudarmee an ihren vorherigen Wohnort zurück.

1942-1943 begann die zweite Etappe in der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung. So wurde beispielsweise in der Region Krasnojarsk, darunter auch in den südlichen Bezirken, eine Kampagnie zur Umsiedlung von Deutschen in den Norden durchgeführt, wo sie in der Fischindustrie arbeiten sollten. Und 1943 jagten sie dann auch noch die Heranwachsenden in die „Trudarmee“, aber diesmal hauptsächlich zum Arbeiten in der Erdöl- und Erdgas-Industrie im Süd-Ural.

1946-1947 wurden über alle erwachsenen wolgadeutschen Verbannten beim NKWD Personalakten angelegt. 1945 wurden aus den von der Roten Armee befreiten Territorien deutsche Repatrianten verschleppt, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren, sowie auch Deutsche aus der Litauischen, Estischen und Lettischen SSR.

Von September bis Dezember 1945 kamen 1099 Familien (4090 Personen) deutscher Repatrianten in der Region Krasnojarsk an. Und drei Jahre später kam ein neuer Ukas heraus, der bekräftigte, daß die Umsiedlung der Deutschen in entfernte Gegenden des Landes für immer galt.

1949 wurden alle bis dato nicht von einer Aussiedlung betroffenen Deutschen – Ortsansässige aus dem Ural, Sibirien, Fernost, Kasachstan und anderen Bezirken – unter an ihren ständigen Wohnorten bei der jeweils zuständigen Sonderkommandantur unter Meldepflicht gestellt. Dies war die letzte Aktion auf dem Weg zum vollständigen Entzug jeglicher Rechte in der deutschen Bevölkerung. Die Gültigkeit dieses Ukas erstreckte sich bis zum Jahr 1957.

Der erste Schritt zur Rehabilitierung des gesamten Volkes wurde 1956 gemacht.

Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung die „Allgemeine Deklaration der Menschenrechte“. Die Generalversammlung verkündete die Hauptaufgaben, nach deren Verwirklichung alle Völker und Staaten streben sollten, damit jedes Individuum, jedes Organ der Gesellschaft sich auf dem Wege der Aufklärung und Bildung darum bemüht, an der Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen mitzuwirken. In den Artikeln N° 3 und 5 heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“.

Nichtsdestoweniger wurden diese Rechte in den Jahren 1937-1955, unter Geheimhaltung, verletzt, und zwar sowohl beim Umgang mit Staatsbürgern russischer als auch deutscher Nationalität.

1989 wurde in Minusinsk die gesellschaft „Wiedergeburt“ gegründet. (Später wurde sie in „Zentrum der deutschen Kultur“ umbenannt).

Eine unermeßliche Freude für die Rußland-Deutschen war die Eröffnung des ZdK „Wiedergeburt“, die am 30. September 1997 stattfand. Gegenwärtig besitzt das ZdK 36 Filialen im Süden der Region Krasnojarsk, in Chakassien und Tuwa. Die größten Filialen befinden sich in den Städten Abakan, Sajanogorsk, Kysyl, Tschernogorsk, sowie in den Siedlungen Schuschenskoje, Krasnoturansk, Kuragino, Idra, Sajansk, Nikolajewka und Schira.

Die Hauptziele der ZdKs sind soziale Hilfe für Menschen im fortgeschrittenen Alter, die Organisation eines Informationsdienstes, Übersetzungsdienste, Vorschulunterricht, operative Arbeit, Unterweisung von Jugendlichen in traditioneller deutscher Kultur.

Die Lehrtätigkeit wurde durch die guten Beziehungen mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit in Deutschland (GTZ) möglich. Im Zentrum wurden 250 Studiengruppen in Sprachkursen organisiert, die es mehr als 3500 Personen gestatteten die deutsche Sprache zu erlernen.

Herr Titlo Bodenstein, Mitarbeiter der staatlichen Organisation in Deutschland, besuchte das ZdK in der Stadt Minusinsk. Ziel seines Besuchs war das Sichten und Sammeln von Materialien für die Schaffung eines allgemeinen Konzepts für die Entwicklung und Unterstützung ethnisch in Kultur und Sprache verwandter Bevölkerungsgruppen, die in Sibirien ansässig sind. Titlo Bodenstein zeigte sich äußerst zufrieden mit der Arbeit des ZdK, seinem Beitrag zu den Angelegenheiten der Region Krasnojarsk in Bezug auf die Unterstützung ethnisch verwandter Gruppen und die Entwicklung der deutschen Kultur. Er äußerte die Hoffnung, daß das von ihm gesammelte Material die Unterzeichnung einer ganzen Reihe von Abkommen über die weitere Finanzierung und mögliche Ausweitung der Aktivitäten des ZdK zuläßt.

Derzeit ist die städtische Einrichtung des Zentrums der Kultur „Wiedergeburt“ eines der größten ZdKs in Rußland.

Es koordiniert die Aktivitäten analoger Zentren im Norden, in Tuwa, Chakassien, Tschita, Burjatien und anderen Regionen Sibiriens. Die Deutschkurse im Zentren werden kostenlos abgehalten. Im vergangenen Jahr nahmen 450 Personen an den Kursen teil.

In einem der Gespräche mit der Direktorin des ZdK der Stadt Minusinsk – Ljubow Wilhelmowna Buksman – stellte ich die Frage: „Was hilft Ihnen in Ihrem derart aktiven Leben?“ Ljubow Wilhelmowna antwortete lächelnd: „Der Enthusiasmus einer Lehrerin, aber auch die Hilfe unserer zahlreichen Freunde. Wir streben danach, die Subkultur zu erhalten, die die Rußland-Deutschen geschaffen haben, und die Leute an diese reiche nationale Kultur heranzuführen. Im großen und ganzen geht die Verschmelzung voran. Wenn wir schon über die Kinder sprechen, so kann man sagen, daß das Eintauchen des Kindes in die Kultur und das kulturelle Milieu die Möglichkeit gibt ihre Interessen tiefergehend zu erkennen und zu fördern“.

Das ZdK war einer der Initiatoren für die Errichtung des Gedenksteins für die Opfer politischer Repressionen in der Stadt Minusinsk, wo jedes Jahr eine Gedenkversammlung zum Gedenken an die blutigen Kataklysmen des Stalinschen Genozid stattfindet.

Immer wieder erinnern wir uns daran, wie einst der einmal in Gang gesetzte Repressions-mechanismus die Schicksale von hunderttausenden Menschen überrannte: der Verlust des Wahlrechts, Entkulakisierung, Verbannung, Vertreibung, Verhaftungen, Erschießungen, Gefängnis und sogar Deportation ganzer Völkerschaften und nationaler Gruppen...

Mir scheint, daß, genauso wie eine Pflanze nicht ohne Wurzeln leben kann, auch der Mensch nicht lebensfähig ist, wenn er die Geschichte seiner Heimat und seiner Region nicht kennt. Gerade in der Geschichte liegen doch unsere Wurzeln, unsere Ursprünge. Ob sie gut oder schlecht sind spielt dabei keine Rolle, aber immerhin ist es unsere Geschichte. Egal wie sie ist – sie brauch nicht ausgeschmückt oder retuschiert werden. Man muß einfach nur über sie bescheid wissen, um auf keinen Fall eine Wiederholung zuzulassen.

Versengte Schicksale

Legendäre Menschen – Wladimir Karlowitsch Miller und Galina Edmundowna Lassing-Miller

Nachdem wir mit diesen bemerkenswerten Leuten gesprochen hatten, fiel es uns sehr schwer uns vorzustellen, welche schrecklichen Erfahrungen ihre Familien im Leben durchmachen mußten. Und ihre Familien war nicht gerade klein. In Wladimir Karlowitsch Millers Familie gab es 7 Kinder (3 Söhne und 4 Töchter); bei Galina Edmundowna, geborene Lassing – 4 Kinder (2 Söhne und 2 Töchter). Heute sind sie bereits in Rente, verdienstvolle und geachtete Leute. Aber damals war alles ganz anders ...

Wladimir Karlowitsch Miller wurde 1921 in der ASSR der Wolgadeutschen geboren, in der Stadt Pokrowsk (heute Engels). Sein Vater, Karlos Karlowitsch Miller (geb. 1899), ein Arbeiter aus Petersburg und Teilnehmer an den Revolutionsereignissen von 1917, war bei der Erstürmung des Winterpalastes dabei. Nach der Revolution wurde er an die Wolga geschickt, um dort seine Verwundungen auszukurieren. Dort begegnete er auch seiner zukünftigen Ehefrau – Ella Christianowna Ditz (geb. 1900). 7 Kinder wurden ihnen geboren, 4 von ihnn sind gegenwärtig noch am Leben. Alle Kinder erhielten eine gute Ausbildung. 1928 kam Wladimir Karlowitsch an die beispielhafte allgemeinbildende Schule in der Stadt Engels. Dort wurde der Unterricht in deutscher Sprache geführt, die Amtssprache war Russisch, und als Fremdsprache wurde Englisch gelehrt. Erfolgreich beendete er die Mittelschule. Da Wladimir sich noch nicht im klaren darüber war, welchen Beruf er ergreifen wollte, arbeitete er zunächst ein Jahr lang im Stadtkomitee des Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverbandes als Kursleiter für die sportliche Vorbereitung der Turnlehrer. 1940 immatrikulierte er am Leningrader Polytechnischen Institut. Dieses Institut war dadurch berühmt, daß dort M.W. Frunse und W.M. Molotow studiert hatten. 1941 begann der Krieg. Im Winter 1942 ging Wladimir (zu dem Zeitpinkt im 2. Studienjahr), zusammen mit anderen Genossen seiner Fakultät, als Freiwilliger an die Front. Er wurde als Helfer des Zugkommandeurs bei der Bewachung des Leningrader Hinterlandes eingesetzt. Im Januar 1942 wurden alle Soldaten deutscher Nationalität abberufen und zur Arbeitsfront ins Hinterland evakuiert. Ebenso erging es den Tschechen, Polen, Finnen und anderen Vertretern nicht-russischer Nationalität.. Wladimir wurde mit einer deutschen Kolonne in die Region Archangelsk verschickt. Er arbeitete ort bei der Holzbeschaffung, in der Holzfällerei. „Die halb verhungerten Menschen mußten von früh bis spät, bei jedem beliebigen Wetter, Bäume fällen. Aber es war nicht so sehr das Wetter, was das Arbeiten für sie so erschwerte, sondern vielmehr der furchtbare psychische Druck: die schiefen, hartem Blicke, die man von der Seite auf sie war, weil sie als Volksfeinde, als Feinde der Sowjetunion galten“, - berichtet Wladimir Karlowitsch – „Manche ertrugen das nicht, aber ich wußte: irgendwo sind meine Verwandten, meine Familie. Und ich fühlte mich keineswegs als Feind meiner Heimat, als Feind der Sowjetunion. Genau wie zuvor am Institut war ich auch hier Sekretär der Komsomolzen-Zelle. Es gab bei uns auch eine Parteiorganisation“. Ein schwerer Schlag war für Wladimir Karlowitsch die Nachricht über die Liquidierung der ASSR der Wolga-Deutschen. Alle Bewohner wurden ins tiefste Hinterland deportiert. Er kannte weder die Adresse seiner Angehörigen, nióch wußte er, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Mit Sehnsucht erinnerte er sich an die glückliche Vorkriegszeit im heimatlichen Prokopewsk, wo seine Vorfahren bereits seit „Peters“ Zeiten gelebt hatten. (Sie hatten sich dort, an den Ufern der Wolga, schon zu Zeiten Peters I niedergelassen). Sein Ururgroßvater war ein hervorragender Zimmermann gewesen und hatte am Bau von Schiffen teilgenommen. Die Mehrheit der Bewohner hatte Ackerbau betrieben. Die Nahrungsmittelindustrie hatte keine schlechte Entwicklung genommen. Und was für Spartakiaden jährlich in Prokopiewsk veranstaltet wurden! Wolga-Bewohner aller Nationalitäten nahmen daran teil. Die extra für die Spartakiade entworfenen Sportkleidung fertigten die Wolga-Bewohner in Balzer, dem Zentrum der Republik, selber an. All das ist nun Vergangenheit – und was die Zukunft bringen wird, das weiß niemand. Und mit der Familie passierte folgendes: am 28. August 1942 kam großes Elend über sie. Der Vater, Karlos Karlowitsch Miller, wurde verhaftet und zur Zwangsarbeit ins Norillag geschickt. Ella Christianowna, die Mutter, blieb allein mit der tauben Großmutter Anna Jakowlewna Lindel und ihren 6 Kindern am Rockzipfel zurück. Ella Christianowna selbst ging mit dem siebten Kind schwanger. Zum Packen gab man ihnen nur eine Stunde Zeit; sie durften nur das Allernötigste für unterwegs mitnehmen. Man brachte alle zur Bahnstation, verlud sie in Viehwaggons, die mit hölzernen Pritschen ausgestattet waren und transportierte sie ins tiefe Hinterland ab. Niemand wußte, wohin man sie bringen würde. Zweimal am Tag hielt der Zug, damit die „Passagiere“ ihre Notdurft verrichten konnten. Zu essen bekamen sie nur einmal pro Tag. Die Zughalte waren nur kurz; es kam vor, daß jemand es nicht rechtzeitig schaffte seine Suppenration und ein Stückchen Brot in Empfang zu nehmen. Es gab viele Kranke. Und viele starben während der Fahrt. Die Verwandten erhielten noch nicht einmal die Möglichkeit sie zu bestatten. Die Leichen wurden einfach herausgeholt und fortgeschafft. Es war überhaupt nicht möglich, später ihre Grabstätten zu finden. 20 Tage fuhren sie bis nach Krasnojarsk. Von dort aus wurden sie auf die einzelnen Taiga-Dörfer verteilt. Alle Töchter der Familie Miller wurden in die Monglische Trudarmee verschickt. Mutter, Großmutter und verbleibende Söhne kamen in den Bezirk Jermakowo, in das Dorf Kasanzewo. Die Millers wurden im hölzernen Badehaus untergebracht. In diesem kleinen Holzhäuschen lebten 6 Personen. Alle arbeiteten in der Kolchose. Der jüngste Sohn, Oskar, war erst 9 Jahre alt, mußte aber schon als Pferdepfleger arbeiten. Der fleißige Junge, der für sein Alter noch recht klein war, lieferte für die Brigaden und im Dorf Wasser aus. Die Kolchosbewohner benahmen sich den deutschen Umsiedlern gegenüber anständig und halfen ihnen, wo sie nur konnten. 1946 kehrte Karlos Karlowitsch nach Hause zurück. Die Familie konnte aber an keinen anderen Ort fahren, denn niemand von ihnen besaß einen Paß. Man hatte lediglich Bescheinigungen für sie ausgestellt. Wladimir Karlowitsch erfuhr den Aufenthaltsort seiner Familie erst im Kahre 1948, konnte allerdings nicht zu ihnen fahren, weil auch er außer dieser Bescheinigungkeine weiteren Dokumente besaß. Und nur weil er sich als fleißiger, verantwortungsbewußter Mann bewährt hatte, wurde es ihm im August 1948 erlaubt, seine Verwandten zu besuchen. Hier begegnete er auch seiner zukünftigen Ehefrau Galina Edmundowitsch Lassing. 58 Jahre leben die beiden nun schon zusammen. Die Familie Lassing bestand aus 6 Personen. Vater Edmund Julianowitsch Lassing, Mutter Klawdia Andrejewna Lassing uns ihre Kinder: Stanislaw, Galina, Eduard und Olga. Sie lebten in der Stadt Pokrowsk ganz in der Nähe der Familie Miller und hatten während der Deportation alles darangesetzt, um nur nicht voneinander getrennt zu werden. Bald darauf heirateten Galina und Wladimir, und man erteilte Wladimir die Erlaubnis zu seiner Familie ins Dorf Kasanzewo umzuziehen. Nach einiger Zeit zogen beide Familien nach Minusinsk. Der Stempel „Volksfeind“ haftete an ihnen. Jeden Monat mußten sie einmal ins KGB-Büro gehen, um sich dort zu melden. Damals war ein gewisser Medwedew Leiter des KGB in Minusinsk. Er war ein großer Sport-Fanatiker, amliebsten mochte er Fußball und Hockey. Und weil die Millers und Lassings hervorragende Sportler waren, kam D.W. Medwedew häufig zu den Fußballspielen und Trainingseinheiten, verfolgte das Spiel, „fieberte“ mit den Spielern oder geriet in Entzücken darüber, wie diese Menschen sich nach soviel Unglück eine derartige Seelenstärke bewahrt hatten! Aber es lagen noch nicht alle Kümmernisse hinter ihnen. An die Stelle des Kriegselends trat eine der Widrigkeiten des „friedlichen Lebens“ – die Arbeitslosigkeit. Nur mit ihren bescheinigungen in den Händen, aber ohne Paßdokument, gab niemand ihnen eine Stellung und erst recht keinen leitenden Posten. Wladimir mußte seine Familie ernähren und war wegen seiner Arbeitslosigkeit sehr verzweifelt. Man riet ihm sich an D.W. Medwedew mit der Bitte um Hilfe zu wenden. Und der schickte Miller auch tatsächlich in die Holz- und Chemie-Industrie – einer Vereinigung von örtlichen Genossenschaften der Waldwirtschaft. Nach dem man ihn schon bald darauf als tüchtigen Mitarbeiter anerkannt hatte, schickte man ihn als Normsachbearbeiter in die Genossenschaft „Molot“ (Hammer; Anm. d. Übers.). 1956 wurde die Genossenschaft reorganisiert und begann sich ausschließlich mit der Herstellung von Möbeln zu befassen. Diese wurden dort nach staatlichen Standards hergestellt. Hier arbeiteten auch Wladimir Karlowitschs Brüder. In diesem Jahr wurde Wladimir Karlowitsch zum technischen Leiter ernannt und 1961 – zum Direktor der Minusinsker Möbelfabrik. Zu jener Zeit wurde er auch rehabilitiert, und im Jahre 1957 wieder in die Partei aufgeommen. 28 Jahre stand er an der Spitze der Möbelfabrik, deren Produkte nicht nur erfolgreich innerhalb und außerhalb der Region, sondern auch ins Ausland verkauft wurden. Zu der Zeit hatten alle Brüder und Schwestern einen guten Arbeitsplatz gefunden. Seine Schwester Frieda Karlowna arbeitete ihr ganzes Leben als Buchhalterin im Minusinsker Mühlenkombinat. Die andere Schwester – Olga Karlowna – arbeitete, nachdem sie das Pädagogische Institut in Krasnojarsk beendet hatte, in der Minusinsker Fachschule als Lehrerin für Sporterziehung, und Erika Karlowna begann nach Abschluß des Instituts für Nahrungsmittelindustrie als Hauptingenuerin für Technologie im Konzern für Kantinenwesen in der Stadt Wladiwostok. Seine Ehefrau, Galina Edmundowna, beendete das Arzhelfer-Technikum in Abakan auf dem Spezialgebiet der Geburtshilfe. 38 Jahre lang arbeitete sie in der Minusinsker Tuberkulose-Fürsorgestelle. In Wladimir Karlowitschs Familie wurden zwei Söhne geboren: Wladimir (geb. 1950) und Sergej (geb. 1958). Alles scheint gut und schön zu sein. Eine liebevolle Familie, eine Arbeit nach Wunsch, der Sport - die Lieblingsbeschäftigung fürs ganze Leben. All das war die Belohnung für die zurückliegenden schweren Entbehrungen. Aber 1987 kam die „Perestrojka. Überall wurde reorganisiert – es begann eine absurde, unsinnige Zeit. Auch die Möbelfabrik war davon betroffen. 1989 verläßt Wladimir Karlowitsch die Fabrik und geht in Rente. Zu der Zeit konnte er ein mehr als 50-jähriges Arbeitsleben nachweisen. Seit 1989 befaßt er sich mit öffentlich-gesellschaftlichen Aktivitäten; er ist stellvertretender Vorsitzender des städtischen Veteranenrats. Er wurde bereits neunmal zum Abgeordneten des Stadtrates gewählt. Er arbeitete in der Budget- und Finanz-Kommission, in der Industrie- sowie auch der Sportkommission. 1990 ereilte die Millers ein schreckliches Unglück:plötzlich und unerwartet verstarb Sohn Wladimir, ein telentierter Künstler und Gestalter. Für Wladimir Karlowitsch und Galina Edmundowitsch war das ein schlimmer Schock, deren Folge bis heute nicht verschwunden sind. Um so mehr erfreut sie der jüngste Sohn – Sergej Wladimirowitsch – mit seinen Erfolgen. Er trat in die Fußstapfen des Vaters, beendete das technologische Institut in Krasnojarsk und ist heute Direktor einer Holzverarbeitungsfirma; er arbeitet und lebt in Krasnojarsk. Der älteste Enkel, Sergej Wladimirowitsch (Wladimirs Sohn) ist leitender Chirurg im städtischen Krankenhaus in Minusinsk; die Enkelin, Olga Wladimirowna, beendete die Polytechnische Universität in Abakan. Derzeit befindet sich Wladimir Karlowitsch, „Ehrenbürger“ der Stadt Minusinsk im wohlverdienten Ruhestand. Aber man kann ihn häufig in den Schulen der Stadt und auf der Sieges-Parade sehen. Er war auch schon Gast bei unserem Norilsker Kadetten-Korps. Er ist stets wohlwollend aufgelegt und bereit Hilfe zu leisten, sobald ihn jemand darum bittet. Weder die Deportation noch die Arbeit in der Trudarmee oder die unglückseligen Alltagsumstände konnten ihn zerbrechen. Nur eines bedauert er heute noch – e s ist ihm nicht gelungen, das polytechnische Institut in Leningrad zuende zu bringen – der Krieg kam dazwischen. „Aber ich führte ein sehr gutes akademisches Leben; es war zwar rauh und hart, besaß jedoch weitaus mehr Bedeutung, als jedes Diplom über den Abschluß einer Universitätsausbildung“, - meint Wladimir Karlowitsch lächelnd.

Schlußbemerkung

Nachdem ich mich intensiv mit dem Schicksal dieser äußerst interessanten Menschen beschäftigt und zahlreiche historische Materialien durchgearbeitet hatte, gelangte ich zu dem Schluß, daß wir unbedingt über die Geschichte Rußlands bescheid wissen müssen, und zwar alles – ohne Ausnahmen und ohne Auslassungen, ohne Wenn und Aber. Denn wenn wir sie auch weiterhin im geheimen Verborgenen belassen oder sie beschönigen und retuschieren, wie dies in der nicht allzu fernen Vergangenheit gehandhabt wurde – dann werden wir nicht ausreichend darauf vorbereitet sein, eine Wiederholung derartiger Geschehnissein der Zukunft zu verhindern.

Wenn ich an die Gespräche mit Wladimir Karlowitsch zurückdenke, muß ich mich immer wieder über seine Seelenstärke und den Charakter eines Menschen wundern, der trotz allerschwierigster Herausforderungen des Lebens nicht verroht, sondern ein heller, freundlicher Mensch geblieben ist. Während des Interviews stellte ich ihm die Frage: „Weshalb ist ihre Familie nicht nach Deutschland umgesiedelt? Schließlich haben Sie dort doch Verwandte!“ – Wladimir Karlowitsch dachte einen Augenblick nach, dann antwortete er: „Ich bin in Rußland geboren und aufgewachsen. Von der Nationalität her bin ich Deutscher, aber in der Selle – ein Russe“.

Ich fühlte in diesen Worten einen tiefen Sinn. Unsere kleine Heimat – das ist der Ort, wo wir lange Zeit leben oder gelebt haben (und das kann ein beliebiger Punkt auf der Erdkugel sein), der Ort, an dem wir gewissermaßen Wurzeln schlagen. Die Liebe zur kleinen Heimat vereint die Menschen aller Länder, unabhängig von ihrer Nationalität, denn wenn wir sagen, daß wir unsere Heimat lieben, dann meinen wir nicht in erster Linie die umliegende Landschaft, sondern die Menschen, die sich um uns herum befinden. (Vielleicht lieben wir sie auch gar nicht so sehr, sondern – verstehen einfach nur oder wir lernen wenigstens zu verstehen).

Genaus so wenig wie es eine gute oder schlechte Nationalität, Religion oder ein gutes oder schlechtes Land gibt, so kann es auch keine gute oder schlechte Geschichte geben. Neben den ruhmreichen, heroischen Seiten in der Geschichte Rußlands existieren auch schreckliche, unheimlch gruselige. Aber auch das gehört zu unserer Lebenserfahrung. Eine Erfahrung, für die wir einen unermeßlich hohen Preis gezahlt haben – mit hunderttausenden Leben und Schicksalen.

Es ist der Auftrag des Lebens, daß wir uns erinnern. Die ewig dauernde Erinnerung und Mahnung, daß wir in der Zukunft niemals wieder so etwas zulassen – das Resultat ist ja bereits bekannt. Andererseits darf man das Böse nicht verstärken und nicht mit Haßgefühlen leben. Wir sollten viel weiser sein und barmherziger mit der Erinnerung unserer Vorfahren umgehen – denn sie haben all ihre Rechnungen voll bezahlt und dürfen von niemandem mehr vor Gericht gestellt werden. Barmherzigkeit ist mehr wert als Reue. Gerade die Barmherzigkeit verschafft dem Menschen, bei all seiner scheinbaren Schwäche, eine starke Seele und gestattet es ihm, ein Mensch zu bleiben – selbst unter noch so schwierigen Bedingungen und Umständen.

Die Kerze zittert in der Hand. Eine Minute Stillschweigen.
„Friede eurer Asche!“ sagen wir in tiefer Trauer.
Und ich wiederhole verzweifelt Seine Worte:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Das Wesen des Gewissens – es ist ein Begriff, den man in keinem Buch nachschlagen kann,
Und wenn du dich an die blutigen Jahre erinnerst,
Dann höre nicht auf immer und immer wieder zu wiederholen:
Liebe deinen Nächsten!
Und vergeltet nicht Böses mit Bösem!

Literaturangaben

1. Buch der Erinnerung an die politischen Repressionen. Krasnojarsk, Herausgeber-Prokejte, 2004;
2. Erinnerungen von W.K. Miller und G. E. Lassing-Miller;
3. Erinnerungen von M.J. Gildenbrandt;
4. Materialien aus einem Interview mit dem Direktor des Zentrums der deutschen Kultur „Wiedergeburt“ der Stadt Minusinsk;
5. Das Ehrenbuch „Stolz des Minusinsker Bodens“;
6. Die Verfassung der UdSSR, 1936;
7. Menschenrechtserklärung, 1948;
8. Dokumente über die Deportation der Wolga-Deutschen. Staatliches Archiv der Stadt Minusinsk;
9. N.F. Bugaj. Liquidierung der woladeutschen Autonomie. Geschichte der UdSSR, 1991, N° 2, S.118.

Anhang

1. Fotomaterialien


1980. Die Familie Miller. Von links nach rechts: die Schwestern Olga Karlowna, Frieda Karlowna, Erika Karlowna, Ehefrau Galina Edmundowna.
Von links nach rechts: Wladimir Karlowitsch, die Brüder Oskar Karlowitsch und Iwan Karlowitsch.


1946. Heimkehr von Karlos Kalrowitsch (oben) aus der Trudarmee.
(Unten) Anna Jakowlewna Lindel (Großmutter),
Wladimir Karlowitsch, Oskar Karlowitsch


Die Eltern von Galina Edmundowna: Edmund Julianowitsch Lassing und
Klawdia Andrejewna.


1956. Die Familie Miller.
(Obere Reihe, von links nach rechts) Galina Edmundowna, Frieda Karlowna, Olga Karlowna, Erika Karlowna
(In der Mitte) Wladimir Karlowitsch, Karlos Karlowitsch,
Großmutter Anna Jakowlewna, Ella Christianowna,
Oskar Karlowitsch.
(Unten, in der Mitte) der älteste Sohn von Wladimir Wladimirowitsch


Stadt Minusinsk, 30. Oktober 2006.
Versammlung am Gedenkstein für die Repressionsopfer.


Stadt Minusinsk. Denkmal für die Repressionsopfer.
Urheber: A.W. Fomaidi.


Solche Akten wurden damals über jedes Repressionsopfer angelegt.


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