Gehört und aufgezeichnet von: Maksim Meleschko, 9.Klasse an der Schule Nr. 100 in der Stadt Schelesnogorsk.
Wissenschaftliche Leitung:
Stadt Schelesnogorsk
Jahr 2005
Oft habe ich die Erinnerungen meiner Großmutter gehört, wenn sie von ihrem Leben erzählte, und oft habe ich ihr gesagt: „Oma, Deine Erinnerungen würden reichen, um ein ganzes Buch damit zu füllen“. Ihre Antwort war nichts weiter als ein Lächeln. Ich wollte es dennoch versuchen. Viele freie Tage verbrachte ich mit ihr, hörte mir all ihre Berichte an, und alles, was ich hier zustande gebracht habe, erfuhr ich aus ihrem Munde – aus allererster Quelle ...
- Ich wurde am 26. Oktober 1923 in dem Dorf Barlakul geboren. Das liegt im Barabinsker Steppengebiet, etwa 300 km von der Eisenbahnlinie entfernt. Das Dorf war sehr groß. Es gab 350 Höfe. Die Hütten waren hauptsächlich aus ungebrannten Lehmziegeln mit Strohbeimischungen gebaut, denn in der Umgebung gab es praktisch keinen Wald. Irgendwo wuchsen ganz kleine Wäldchen und Haine – nur ein paar Birken standen dort, und zwischen ihnen niedriges Buschwerk. Soweit das Auge reichte – nur Felder und Seen. Die Dächer der Hütten waren mit Schilf gedeckt. Das macht jeder Hausherr selbst. Im Winter sammelte sich vom Federvieh jede Menge Stallmist an. Er wurde in der Mitte der Einzäunung zu Haufen aufgeschichtet, und im Frühjahr goß man dann Wasser darauf, bis der Haufen sich erwärmt hatte. Und dann trieben sie ein paar Pferde hinein, die den Haufen mit ihren Hufen durchkneteten, bis eine homogene Masse entstanden war. Wer kein Pferd besaß, trat selbst mit seinen Füßen darauf herum. Anschließend machten sie sich daran, Rohlinge in der Art von Ziegelsteinen herzustellen, die sie überall innerhalb des Zaunes zum Trocknen auslegten. Aufgabe der kleinen Kinder war es, sie von Zeit zu Zeit zu wenden, bis sie vollständig durchgetrocknet waren. Und sobald der See leicht zugefroren war, schnitten sie das Schilf mit
Sensen und transportierten es mit Pferdefuhrwerken auf ihren Hof. Sie legten sich soviel Vorrat an, daß es für den ganzen Winter ausreichte. Das war auch das wichtigste Brennmaterial. Denn die kleinen Wäldchen wurden von Forstaufsehern streng bewacht.
Mutter und Vater heirateten im Herbst 1918. Es war eine sehr schwierige Zeit. Mamas Familie waren Umsiedler aus dem Tschernigowsker Gouvernement. Vor der Revolution kamen die Menschen aus dem Westen nach Sibirien, wo es freies Land gab. Meine Großeltern, Matwej und Jelena Belinskij kamen mit zwei Pferden und sechs Kindern nach Sibirien: zwei Söhnen und vier Töchtern. Meine Mama war zu der Zeit mit 15 Jahren die älteste. In der Ortschaft Durmanka machten sie Halt; heute ist dies das Dorf Wjerch-Kargat. Ein großes Dorf. Mitten hindurch floß das Flüßchen Uluj, und beide Uferseiten waren mit einer Brücke verbunden. Und eben auf dieser Brücke begegnete mein Papa Semjon seiner Braut Anna. Es geschah an einem Feiertag, am Heiligen Pfingstfest, und er war bei ein paar entfernten Verwandten zu Besuch. Nachdem er nur ein paar Freunden gesagt hatte, daß er zu ihren Brautwerbern gehen wollte, fuhr er zu sich nach Hause – ins 70 km entfernte Dorf Barlakul. Zwei Wochen später standen die Brautwerber bereits bei meiner Mutter vor der Tür.
Und in Mamas Familie herrschte ausgerechnet jetzt soviel Kummer. Der Großvater war krank geworden, und wie meine Mutter sagte: „Nur drei Tage war er krank, und dann ist er gestorben“. Und so blieb die gesamte Wirtschaft auf den Schultern meiner Mama, die die Älteste war, und meiner Großmama hängen. Und nun auch noch die Brautwerber! Wie sehr Großmutter Jelena auch dagegen war, einigten sie sich doch schließlich darauf, daß im Herbst die Hochzeit stattfinden sollte. Und wieder fuhr der Bräutigam fort, in sein 70 km entferntes Heimatdorf , und bis zum Herbst sahen sie sich nur noch ein einziges Mal. In der übrigen Zeit paßten die Brautführer gut auf sie auf, damit sie sich nicht anderweitig vergnügte. Aber dazu war auch gar keine Zeit. Denn die ganze Arbeit im Haus und auf dem Feld lastete auf ihr. Und im Herbst brachte ihr Vater sie ins Dorf, und die Sibirjaken gaben ihr den Spitznamen „Chochluschka“ (Ukrainerin; Anm. d. Übers.).
Papas Eltern waren wohlhabende Leute. Sie lebten einträchtig miteinander und gingen der Arbeit nicht aus dem Wege. Außer dem ältesten Sohn Semjon, meinem Vater, hatten Opa Timojej Naumow und Oma Mawra noch eine Tochter und drei weitere Söhne: Andrej – er starb 1943 im Krankenhaus an seinen Verwundungen; Wladimir – kam 1945 bei der Einnahme Berlins ums Leben; Pjotr, der Jüngste, arbeitete während des Krieges in Tscheljabinsk als Stahlgießer im Traktorenwerk.
Großvater Timofej Jegorowitsch ging streng mit den Familienmitgliedern um, aber die ältere Schwiegertochter kam auf den Hof, gewöhnte sich ein und erwies sich als nützlich. Wenn er getrunken hatte, sagte er: „Meine Schwiegertochter, auch wenn du eine Ukrainerin bist, ... aber das wiegt ein Dutzend von unseren Sibirjaken auf“. Und son ging ihr Leben seinen Gang mit Arbeit und Sorgen. Und alles wäre gut gewesen, wenn nicht der Krieg gegen die Weißen angefangen hätte. Papa mußte in den Krieg ziehen. Er war Kommandeur bei den Partisanen. Im Nu waren die Einheiten organisiert. Alle Männer aus einem Dorf – und schon hatte man eine Einheit beisammen. Die Weißen ließen ihnen keine Ruhe. Kaum war man ins Dorf gekommen, um Lebensmittel zu holen oder ein Wannenbad zu nehmen, da sind sie auch schon da! Kaum haben die Partisanen mit ihren Pferden das Dorf verlassen, da kommen auch schon die Weißen von der anderen Seite herein. So lange sich die Partisanen im Dorf befinden, halten die etwas älteren Kinder Wache, damit die Weißen nicht plötzlich das ganze Dorf einnehmen. Die Weißen waren nicht sonderlich heftig in das Kampfgeschehen verstrickt, als ob sie miteinander Katz und Maus spielten. Aber irgendwo, weit von unserem Dorf entfernt, wurde gekämpft, denn man brachte uns Verwundete, und Mama und die Großmutter liefen hin und her, um wenigstens etwas über Papa zu erfahren. Im Herbst 1923 kehrte Vater verwundet nach Hause zurück und nahm danach nicht mehr an den Kämpfen teil. Bald darauf kamen auch die anderen Männer des Dorfes wieder, und erneut setzte ein friedliches Leben ein. Aber noch lange Zeit danach versteckte sich die männliche Bevölkerung immer wieder im Schilf, denn ab und an kam es noch vor, daß 5-6 berittene Weißgardisten einen Überfall vornahmen. Und da wurde ich geboren. Und vor meiner Geburt waren der Mama schon zwei kleine Jungs weggestorben – noch im Säuglingsalter. Ich hatte viele Kindermädchen, mal trug mich dieser, mal jener auf seinen Armen. Es kam sogar zum Streit, denn alle wollten die Wiege mit der Kleinen schaukeln. So hatte ich wohl bis zu meinem vierten Lebensjahr ein sorgloses Leben, bis ich noch zwei Geschwisterchen bekam. Da bekam ich schon manchmal einen Klaps, fing an zu heulen und war selber Kindermädchen. Und als die Kleinen dann schon etwas größer waren, nannten sie mich auch „Nana“ (Kindermädchen in der Kindersprache; Anm. d. Übers.).
Großvater Timofej wohnte nur im Sommer zuhause. Im Winter fuhr er mit Sohn Andrej auf Lohnarbeit. Er war ein guter Schuhmacher, und dieses Handwerk brachte er auch seinem Sohn bei. In seinem späteren Leben kam ihm dies sehr zugute. Sie nähten hauptsächlich Stiefel für die wohlhabenden Leute. Die Armen, die höchstens ein Hemd und „Hosen“ aus selbtgewebtem Leinen besaßen, gingen üblicherweise in Bastschuhen. Und so nähte er auch im Winter Stiefel aus Chromleder, und war im Sommer von früh bis spät auf dem Feld. Jeder im Dorf besaß ein kleines Stückchen Eigenland. Die Reichen säten auf ihrem gesamten Landanteil irgendetwas aus, und wer sich eigene Arbeiter leisten konnte, der beschaffte sie sich bei den Bauern gegen eine miserable Bezahlung. Die armen Leute säten, hier ein wenig Hirse, dort einen Streifen mit Weizen. Jedes Stück Land war nach dem Namen seines Herrn benannt, - dies Feld hieß Mitroch Kosoj, das dort Troschinko, denn der Herr hieß Trofim. Großvaters Stück Land hieß Arturzew, weil er in seiner Jugend in Port Arthur gedient hatte. Und wenn er sich einen Rausch angetrunken hatte, dann klopfte er sich an die Brust und sagte: „Ich bin ein Schütze aus Port Arthur“. Wenn der Großvater wegfuhr, nahm der Vater die Stelle des Hausherrn ein. Und die Wirtschaft war keineswegs klein, und wenn der Großvater seine Söhne nicht vorzeitig ausgezahlt hätte, wäre er mit Sicherheit von der Entkulakisierung betroffen gewesen. Auf den Fahrten durch die Dörfer hörte er viele Gespräche über die bevorstehenden Ereignisse und begann dieses und jenes zu verkaufen, sein Vieh zu schlachten und den Söhnen ihr Erbteil auszuzahlen.
Meinem Papa kaufte der Großvater eine „Strohhütte“ am Rande des Dorfes, gabihm ein paar Pferde, zwei Kühe, etwas Federvieh und sagte: „Du, Arina, bist eine gute Wirtschafterin, alles übrige kannst du selber züchten und anbauen, wenn sie dir nur die Möglichkeit dazu geben“.
So blieb der Großvater im Dorf ein durchschnittlicher Mittelbauer. Eine „Möglichkeit“ gab Mama kein Mensch, denn es begann die Zeit der Kollektivierung. Ohne lange nachzudenken brachte unser Papa die Kühe und Pferde zum Sammelplatz. Sie selbst kehrten in die Hütte des Großvaters zurück und begannen dort ein ziemlich armseliges Leben mit Tagesarbeits-einheiten zu führen, so wie es in den Kolchosen üblich war. Die Reste aus dem Gemüsegarten konnte man an niemanden mehr verkaufen, der Markt war weit entfernt. So lange sie noch Einzelbauern gewesen waren, hatte jeder mit seiner „Schindmähre“ dort das hingeschafft, was man noch verkaufen konnte, aber hier gab es nicht einmal etwas zum Trasnportieren. Alles war Kolchoseigentum, und versuch’ mal, bei denen etwas durch Bitten zu erreichen ...
Ich war schon etwas größer geworden und galt nun als Arbeiterin. Dabei war ich noch nicht einmal sechs Jahre alt, konnte aber schon selbständig die Gänse und Enten hüten.
Mama und Großmutter wirtschaften im Gemüsegarten, und ich sitze an der Ackergrenze und wiege Schwesterchen Klawa auf meinen Knien. Sie wurde 1929 geboren. Ljalka schreit, das Kindermädchen ist tränenüberströmt, aber die Erwachsen beachten sie nicht – sie sind zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt. Im Alter von acht, neun Jahren arbeiteten wir bereits den ganzen Sommer über auf den Kolchos-Feldern. Im Winter lernten wir. Zur Schule trug ich Mamas Rock und Jacke. Ich zog den Rock bis zu den Schultern hoch und band ihn mit einem Bindfaden fest. Die Jackenärmel krempelte ich hoch. Schnell noch irgentetwas an die Füße gezogen, und dann ging’s im Laufschritt zur Schule, die zum Glück in der Nähe lag. Viele lernten während der warmen Jahreszeit, und im Winter saßen sie am Ofen. Die Schulen auf dem Lande hatten nur vier Klassen. Danach, wenn man weiterlernen wollte, mußte man ins 15 km entfernte Nachbardorf fahren. Nicht alle Eltern konnten ihre Kinder in die Schule schicken, denn sie mußten ihnen für eine ganze Woche Lebensmittel mitgeben und die Wirtin fürs „Quartier“ bezahlen. An den Samstagabenden ging es nach dem Unterricht nach Hause, und sonntagabends zurück in die Schule, egal bei welchem Wetter. Es war schon gut, wenn der Kolchos-Vorsitzende Mitleid mit uns hatte und uns ein Pferd gab. Dann legten wir die Lebensmittel in den Schlitten und gingen selber zufuß nebenher. Die Lebensmittel – das waren zwei Weißbrote, ein Eimer Kartoffeln, und manch einer hatte auch ein Stückchen Speck oder Fleisch dabei. Im wesentlichen bestand das Essen aber aus Kartoffeln, aber zum Frühjahr hin konnte es sein, daß es auch die nicht gab. So lernten die weiter, die die Vierklassenschule abgeschlossen hatten und denen es möglich war. Im Sommer ging es erneut in die Kolchose zum Getreideabbrennen. Es war mit Gräsern unheimlich zugewuchert: mit Wolfsmilch, Gänsediesteln ... Tagsüber kam man vollends von den Kräften: der Kopf schmerzt von der Hitze, den Rücken kann man nicht mehr aufrichten, die Hände sehen schwarz-braun aus, die Beine sind zerstochen. Am Abend wäschst du dich mit Müh und Not, und dann ab ins Bett, und am Morgen geht’s wieder aufs Feld, denn während der Arbeit bekam man 400 g gebackenes Brot aus der Kolchos-Vorratskammer. Ob du willst oder nicht, aber du mußt gehen, denn einfach so bekam man kein Brot. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob auf unserem Tisch Brot stand. Wir setzen uns an den Tisch, Papa nimmt ein Weißbrot und schneidet jedem ein Stück davon ab. Auch für sich, aber er ißt selten. Wenn er ein oder zwei Bissen genommen hat, blickt er um sich. Wir haben unsere Ration bereits „hinuntergeschlungen“. Und da nimmt er sein Messerchen und fängt an, sein Stückchen auch noch für uns aufzuteilen. Ich war zu der Zeit schon etwas größer, und deswegen fiel es mir auf. Auch wenn es nur wenig war, aber wie es hieß, „lieferte“ die Kolchose einen Vorschuß: manche bekamen acht, andere zehn Kilogramm Mehl, und im Herbst, vor Neujahr, kam dann die Entlohnung in Naturalien für das ganze Jahr. Einige Kolchosbauern hatten bereits alles vor der Jahresendabrechnung bekommen, und am Jahresende gab es für sie nichts mehr. Auch Geld bekam man in Form von Zuschüssen, und am Jahresende zählen sie es zusammen, plus die Anleihen, die zur Wiederherstellung der Volkswirtschaft gezeichnet worden sind. Die Kolchose hat das Geld hereingebracht, und nun rechnen sie mit den Kolchosbauern ab, und das war sehr wenig – so gut wie nichts.. Es gab so manch einen, der von seinen Schulden nicht herunterkam und sie mit ins nächste Jahr hinübernehmen mußte. Anscheinend lebten wir in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt in die Kolchose vergleichsweise gut. Wir aßen unsere alten Vorräte auf, und als man zur allgemeinen Versorgung durch die Kolchosen überging, hatten viele nichts mehr zu beißen und fingen an, am Hungertuch zu nagen. In den Jahren 1933/34 herrschte eine solche Dürre, daß nicht nur das gesamte Getreide und alle Gräser vertrockneten. Viele Menschen starben damals, vor allem kleine Kinder. Zu jener Zeit war ich zehn Jahre alt. Den Papa hatten sie 300 Werst weit weggeschickt, zum „Roten Wald“, so nannte man bei uns die Kiefern und Tannen. Aus der Kreisstadt war ein Kontingentplan gekommen, damit unsere Kolchose 15 Fuhrwerke austeilte. Pferde gab es nicht, dafür hatten wir Ochsen. Man stellte vier Männer bereit, und schon bemühte sich jeder, seine Kinder mitzunehmen, denn unterwegs bekamen sie Getreide und Mehl. Vater nahm mich und meinen achtjährigen Bruder mit. Wir waren schon in der Lage, den Ochsen mit einer Gerte anzutreiben. Die halbe Ration ließen wir zuhause, einiges nahmen wir mit uns. Es herrschte eine fürchterliche Hitze. Die Ochsen wollten nicht laufen; meist fuhren wir in der Nacht. Wenn wir ohne Ladung fuhren, war es noch auszuhalten, aber auf dem Rückweg waren wir mit Holz vollgepackt. Die Hölzer waren jeweils 5-6 Meter lang. Unsere Kolonne erstreckte sich über einen ganzen Kilometer. An irgendeinem See machten wir halt, ließen die Ochsen weiden, aber so viel mochten sie gar nicht fressen. Sie wollten lieber ins Wasser gehen. Es ist uns nicht möglich, sie von dort wieder herauszubekommen. Wir Kinder sind irgendwo eingeschlafen, und für die Männer war es sehr schwer. Sie trockneten das Getreide in der lieben Sonne, damit die Körner nicht aufblühten. Anschließen weichten sie sie in Wasser ein und aßen sie. Erst einen Monat später kehrten sie nach Hause zurück. Dort heizten sie bereits das Badehaus – sie hatten schon auf uns gewartet. Und so ging es Jahr für Jahr ... Armselig lebten die Menschen bei uns im Dorf; sie hatten nichts außer Arbeit und Sorgen. 1937 starb die Großmutter, sie war stark gealtert, ganz müde und entkräftet von der vielen Arbeit. Wenngleich von kleiner Statur, so war sie doch flink und behende gewesen. Die beste Geburtshelferin im Dorf, deswegen kamen sie aus anderen Dörfern, damit nur sie die Geburten durchführen sollte. Im Winter fuhren sie mit Schlitten und waren dick in Hunde- oder Wolfsfelle eingehüllt. Bei uns in der Steppe gab es viele Wölfe. Man brachte die Großmutter zu den Kreißenden. Irgendwo hat sich die Oma dann erkältet, sie hatte sich nicht in acht genommen. Wir haben sie begraben. Und ein Jahr darauf starb auch Großvater Timofej. Zur Beerdigung kam aus Tscheljabinsk Papas Bruder Andrej. Zu der Zeit lebten bereits alle seine Brüder dort. Er nahm mich mit. Sie ließen mich fort, unter der Bedingung, daß ich dort lernen sollte. Das war 1938. Aber seine Ehefrau gab mir eine andere Anweisung. Sie selbst ging arbeiten, und so trug sie mir auf, mich um ihre beiden Kinder, die Kuh und den kleinen Gemüsegarten zu kümmern. Und so machte ich mich daran, die Kuh zu melken und auf die beiden Kinder aufzupassen.
Aber Papas Schwester konnte sich mit meiner Situation in der Familie des Bruders nicht anfreunden. Immer wieder machte sie ihnen Vorwürfe, weil ich bei ihnen Arbeiten verrichten mußte. Zu der Zeit lief ich bereits in schäbiger, abgetragener Kleidung herum, niemand kaufte mir irgendetwas, und so mußten sie mich irgendwo bei einer Arbeitsstelle unterbringen. Bei der Staatsanwaltschaft nahm man mich als Botin in Teilzeitbeschäftigung, denn ich war ja noch nicht volljährig. Die Leiterin, Klawdija Filippowna, war eine gute Frau. Ich tat ihr leid. Sie schickte mich nie umsonst mit Vorladungen und Briefsendungen, es gab immer etwas, was man mit der Post verschicken konnte. Ich bekam 97 Rubel, und das war schon mein eigenes Geld. Nach und nach begann ich mich einzukleiden. Ich kaufte mir ein Mäntelchen.
Noch heute kann ich mich ganz genau daran erinnern, wie er aus. Mit diesem Mantel fuhr ich auch ins Dorf – in meinem ersten Urlaub. Meine Eltern waren natürlich zufrieden, daß ihre Tochter sich selbst einkleidete und allen Geschenke mitbrachte, auch wenn es nur noch so kleine Mitbringsel waren. Am Abend kamen die Freundinnen und zogen mich fort in den Klub. Meine Freundinnen bekamen von mir auch alle ein kleines Geschenk, der einen ein hübsches Band, der anderen eine Brosche. Ola Korobowskaja bekam Ohrringe. Die trug sie auch, als sie im Dezember 1942 an die Arbeitsfront fuhr. Alle waren froher Stimmung, und ich – gleich dreifach. Sie alle arbeiteten ebenfalls in der Kolchose und versuchten jedes Jahr, die 7-Klassen-Schule zu beenden. Aber soweit ich mich erinnere, ist das in jener Zeit niemandem gelungen. Ich verbrachte dort also meinen Urlaub und fuhr zurück nach tscheljabinsk, aber ich ging nicht zu meiner Arbeitsstelle bei der Staatsanwaltschaft. Mein Onkel Andrej arbeitete als Leiter der Flick- und Schneiderwerkstatt, und bei ihm hatte gerade die Frau gekündigt, die für die ordnungsgemäße Abnahme der Näharbeiten zuständig gewesen war. Auf elterlichen Rat wurde beschlossen, daß ich beim Onkel arbeiten müßte. Und so nahm ich meine Tätigkeit in der Schneiderwerkstatt auf. Mit der Arbeit war ich schnell vertraut. Für alles gab es Preislisten. Die Arbeit gefiel mir. Ich kam immer mit Menschen zusammen. Die Zeit verging wie im Fluge, und nachdem ich ein Jahr dort gearbeitet hatte, fuhr ich Ende Mai 1941 wieder auf Urlaub in mein geliebtes Dorf., wo das Leben schon ein wenig in Ordnung gekommen war. Aber dann warf der ausbrechende Krieg alles erneut den Abhang hinunter. Am 17. Juni kehrte ich aus dem Urlaub zurück, und am 22. Juni begann der Krieg. Einen Monat später füllte sich die Stadt mit evakuierten Menschen. Auf dem Gelände der Traktorenfabrik traf ein Leningrader Panzerfahrer ein, mit voller Ausrüstung und all seinen Mitarbeitern. Zusammen mit dem Traktor der Marke TschTS begann die Fabrik auch KW-Panzer (benannt nach Kliment Woroschilow; Anm. d. Übers.) zu produzieren. Es tauchten eine Menge Soldaten auf, teils vorübergehend, teils für längere Zeit. Die meisten Leute hatten Kinder dabei. Die Evakuierten wurden in Wohnungen untergebracht. In der Stadt wurde es eng, die Geschäfte leerten sich. Danach begann man damit, bei den Behörden Listen zu verteilen. Auf den Trödelmärkten gab es alles zu kaufen, nur war es dreimal so teuer. Das Leben war schwer. Einmal sagte Onkel Petja, bei dem ich wohnte: „ Es wäre besser, wenn du im Dorf bliebest, Nichtlein“. Ich mußte also kündigen und ins Dorf zurückfahren. Und dort begann mein ländliches Kolchos-Leben. Jetzt mußte ich nicht nur wie eine Halbwüchsige arbeiten, sondern sogar Männerarbeit leisten. Die männliche Bevölkerung war erheblich weniger geworden, aber die ganze Arbeit war geblieben. Irgend jemand mußte sie machen. Auch das Vieh in der Kolchose hatte abgenommen, besonders die Zahl der Pferde. Es gab ein Fahrzeug, einen Eineinhalb-Tonner. Das hatte man zusammen mit seinem Fahrer an die Front geholt. Man fing an, die Mädchen, die etwas älter waren als ich, zur Holzbeschaffung zu schicken, und manche auch nach Nowosibirsk in die Fabriken. Auch die Männer in Papas Alter wurden eingezogen, und dabei war er schon fast fünfzig Jahre alt. Arbeitsfront nannten sie das. Wir dachten alle, daß sie Papa jeden Augenblick holen würden, aber ihm fiel ein ganz anderes Los zu. Es kam eine Anordnung Stalins zur Aushebung der älteren Partisanen heraus, die zu den Partisanen-Einheiten hinter der Front verlegt werden sollten. Neben uns wohnte Onkel Fjodor Teslenkow. Er hatte mit Papa als Partisan gekämpft, aber er war durchtriebener und wußte, wie man es anstellt, zum Bezirkskriegskommissariat zu fahren und vor die Kommission zu treten, nachdem er sich die Augen mit selbstangebautem Tabak, unter Zugabe von Zucker, dermaßen vollgequalmt hatte, bis sie anfingen, sich mit Tränen zu füllen und seine Lungeln vom Rauchen röchelten. Und so blieb er auch lange Zeit zuhause. Aber unseren Papa schickten sie fort, und wir sahen ihn nie wieder. Einen Brief schickte er noch, aber wo er sich aufhielt, was mit ihm geschehen war und wohin sie ihn gebracht hatten, das teilte er uns nicht mit. Fjodors Onkel zogen sie erst ganz gegen Ende des Krieges ein, und von beiden kam die Todesnachricht. Ich weiß nicht, wie es mit den Nachbarn steht, aber wir wissen bis heute nicht, wo, in welchem Gebiet und in wessen Erde die Gebeine unseres Vaters ruhen.
Soweit ich mich selbst erinnern kann, arbeitete Pawel Aleksejewitsch Durnjak als Rechnungsführer bei uns in der Kolchose. Er war schon betagt. Den Kolchos-Vorsitzenden holten sie an die Front, und Pawel Aleksejewitsch trat als Vorsitzender an seine Stelle. Die Kolchose blieb also ohne Rechnungsführer, und man beschloß auf einer Sitzung, mich in die Kreisstadt, an die Schule zur Ausbildung von Kadern, zu schicken, um dort die Buchführung zu erlernen. Aus welchem Grunde mir diese Aufgabe zusagte, weiß ich nicht, aber die Kolchosbauern stellten mich auf einer Versammlung einstimmig als Kandidatin auf. Ich fuhr also zum Studium nach Wjerch-Ujum, 40 Kilometer von unserem Dorf entfernt. Ich lernte auf Kosten des Kolchos, und man brachte mir Tagesarbeitseinheiten in Anrechnung. 10 Rubel zahlten sie für die Wohnung. Pro Monat erhielt ich drei Pud Mehl – mehr hatten sie in der Kolchose nicht zu geben. Mama versorgte mich mit Kartoffeln. Mein Studium fiel in die Wintermonate, und da war es bitterkalt. Es gab schweres Schneegestöber, und die Spatzen erfroren im Fluge. Und wenn so ein Schneesturm erstmal aufkam, dann dauerte er eine ganze Woche. An solchen Tagen konnte man keinen Fuß vor die Tür setzen. Gelegentlich vergaß die Leitung Lebensmittel zu schicken, und dann mußte ich zufuß nach Hause laufen. Es kam vor, dass ich mitten in der Nacht zuhause ankam und die Hunde nicht einmal kläfften, so verfroren waren sie. Die Familienmitglieder sprangen aus den Betten, und der eine zog einem die Filzstiefel von den Füßen, der andere rieb einem die Hände warm. Am Morgen gehe ich ins Kontor. Da erst erinnern sie sich an mich. Nach Beendigung der Kurse brachte ich einen Monat lang alle möglichen Frachtbriefe, Anfragen, Ersuchen in Ordnung, die ein halbes Jahr lang nicht beantwortet und liegengeblieben waren. Die ganze Soll- und Haben-Statistik mußte erledigt, Nachträge ins Lager- und Vorratsbuch gemacht werden – und alles ordentlich nach Zahlen und Monaten. Die Jahresbilanz machte ich mit Hilfe von Pawel Aleksejewitsch. Ihm sei Dank dafür! Ich selbst hätte zu jener Zeit eine derart komplizierte Aufgabe nicht bewältigen können. Und so verlief mein Leben in der Kolchose – tagsüber war ich im Kontor, abends noch auf einer anderen Arbeitsstelle – bei der Getreidereinigung. Fast die ganze Nacht hindurch drehst du die Kornschwinge und gehst dann morgens wieder an deinen Hauptarbeitsplatz. Aber gut. Dort sitze ich im Warmen, und es ist nicht schwer mit der Hand zu schreiben. Aber die anderen. Melkerinnen, Kälberhirtinnen – sie müssen schwere Arbeit leisten und dazu noch in der Kälte. Die Kuhställe sind kaum beheizt. Die Kühe melken, auf sie achtgeben, das Heu herausschaffen, und alles mit den Händen. Deswegen meldeten sich, als der Instruktor zu uns kam und dazu aufrief, sich zur Armee zu melden, fast alle Komsomolzen als freiwillige, darunter auch ich. Es verging einige Zeit, und dann bestellte man uns vier Mädchen in die Kreisstadt zum Kriegskommissariat. Die Lehrerin Jelena Trofimowna wurde sofort zurückgeschickt; es gab ja sonst niemanden, der die Kinder hätte unterrichten können. Katja Dawydowa und Olga Korobowskaja schickten sie ins Kreis-Exekutivkomitee, und dann von dort aus nach Nowosibirsk in eine Fabrik. Und mir wurde gesagt, ich solle nach Hause gehen und auf die Benachrichtigung warten. Die ließ auch nicht lange auf sich warten. Während ich mich noch auf dem fünfzig Kilometer langen Heimweg befand, hatte man sie Mama bereits ausgehändigt. Mama suchte für mich etwas Wäsche zusammen, einen Löffel, einen Trinkbecker. Und am 10. Januar 1943 war ich bereits in Nowosibirsk in einer Lehranstalt, die sich in der Jelzow-Straße befand. Man kleidete mich mit einem Uniformmantel ein, teilte mich für einen bestimmtem Zug ein und brachte mich in einem Raum mit Etagen-Betten unter. Um sehcs Uhr morgens – Weckruf, um elf Uhr abends – Zapfenstreich, in Reih und Glied, immer und überall, und dazu auch noch Lieder singen. Man ernannte mich zur Gehilfin des Zug-Kommandeurs, und das hieß, dass ich weniger schlafen konnte, mehr Verantwortung zu tragen hatte. Und wir begannen im freien Gelände Koch- und Küchenweisheiten zu erlernen. Das Zusammensetzen und Auseinandernehmen von Gewehren und Maschinenpistolen mußten wir mit geschlossenen Augen beherrschen. Mit dem Maschinengewehr mußte man uns erst bekanntmachen. Wir gingen zum Schießübungsplatz. Es gab auch unter den Mädchen gute Schützinnen, die geschosse fanden das vorgesehene Ziel. Unsere Mädels taten mir leid. Sie beklagten sich nie beim Zugführer. Es gab auch Verletzungen der Felddienstordnung, eigenmächtiges Handeln – fiele hatten Verwandte in der Stadt, aber man gab uns keine Urlaubsscheine, um sie zu besuchen. Ende Mai ging unsere Lehrzeit zuende. Ich bekam den Titel eines Ober-Sergeanten verliehen und sollte in dieser Position als Köchin arbeiten. Nach ein paar Tagen wurden wir auf einen Zug verladen und fuhren an die Nordwest-Front. Aber die Front als solche bekamen wir nicht zu sehen. Wir gerieten ins 89. Sonderbataillon für Technik und Bauwesen. Jeder wurde irgendwohin zugewieen. Wir drei Mädchen wurden in das Dorf Lugowiki geschickt. Vom Dorf blieb nur der Ortsname übrig, die Häuser wurden von den Deutschen zerbomt. Unsere Aufgabe war es, rechtzeitig das Frühstück und Abendessen vorzubereiten. Auch für das Mittagessen sorgten wir. Aber es wurde in Thermoskannen gefüllt und von den Wirtschaftern mitgenommen. Weshalb und warum und wo unsere Soldaten fast zwanzig Kilometer von der Frontlinie entfernt arbeiteten, das sagte man uns nicht. Es ging uns auch gar nichts an. Unsere Sache war das Kochen und Zuessengeben. Zu unseren Pflichten gehörte ferner die Essensversorgung der Marschkompanien, die unterwegs an die Front waren. Und wie lief die Leitung da eifrig und flink hin und her: sie lieferte uns Brennholz, und auch die Lebensmittelrationen waren größer. Hier wurde nicht zerbomt und geschossen, nur hörte man zuweilen das Aufheulen eines Aufklärungsflugzeugs, das über uns seine Runden drehte und dann in Richtung nach Hause abdrehte. In diesem Dörfchen gab es auch ein Feldlazarett, wohin man die Verwundeten brachte. Von hier aus wurde manch einer weiter ins Hinterland gebracht, andere, deren Behandlung beendet war, mußten zu ihrem Truppenteil zurück. Es gab auch solche „Herumtreiber“, die es gar nicht eilig hatten, in den Kugelhagel zurückgeschickt zu werden, zufällig auf eine nicht fortgeräumte Mine zu stoßen oder von einer verirrten Kugel getroffen zu werden. Der arme Teufel blieb liegen, bis jemand ihn hinausstieß, ihn herauspickte, damit er hier nicht noch demoralisiert würde. Begräbnisse gab es auch. Für diejenigen, die verschollen blieben. Aber das kam selten vor.
An diesem Ort hielt sich unser Batallion nicht lange auf. Mitten im Sommer 1944 gab man eine Essensration an uns aus, die für sechs Tage reichen sollte, verlud uns auf beheizte Waggons und brachte uns in den Ural. In Nischnij Tagil hieß man uns aussteigen. Unsere Soldaten hatten damit begonnen, das Waggon-Reparaturwerk für die Produktion von Panzern umzubauen. Am Rande des Geländes, neben dem Panzer-Reserveregiment, brachte man uns unter. Und wieder hieß es arbeiten – rechtzeitig Frühstück, Mittag- und Abendessen fertig haben. Das Leben wurde etwas abwechslungsreicher. Hinter dem Zaun befindet sich das Panzer-Regiment, die Panzersoldaten sind jung. Wir stellen eine Kiste beim Zaun auf, führen kurze Unterhaltungen, aber das gelingt nicht immer. Während der Transport zusammen-gestellt wird, entstehen flüchtige Bekanntschaften. Die Besatzungen, bestehend aus jeweils fünf Männern, erhalten einen Panzer, und schon geht’s hinauf auf die Plattform –„auf Wiedersehen, Ural“. Und dort hat Gott ein paar Jungs hingeschickt, denen das Glück hold war, die am Leben geblieben sind. Sie kamen zu eben dieser Fabrik, um erneut einen Panzer abzuholen – aber das waren Einzelfälle.
Bei einer dieser Kontaktaufnahmen brachte uns ein junger Panzersoldat, er hieß Semjon, auf den Gedanken, einen Bericht an die Leitung zu schreiben, mit der Bitte, in ihrer Lehrabteilung, in der Funker und Panzerfahrer ausgebildet wurden, studieren zu dürfen. Und das taten wir drei Mädchen auch. Einige Tage später kam der Diensthabende aus dem Brigadestab zu uns, wir packten unsere Rucksäcke und gingen mit ihm. Der Brigadekommandeur führte mit jeder von uns einzeln ein Gespräch. Ich war die letzte und kam nach meiner Freundin Valja Kuschkina an die Reihe, die ich später nie wieder traf. Der Brigade-Kommandeur hielt mir einen ganzen Vortrag darüber, dass wir nach Abschluß der Unterrichtseinheiten an die Front geschickt würden. Panzersoldaten verbrennen in der Regel in ihren Tanks oder werfen sich mit ihren brennenden Panzerfahrzeugen mit hinein in den Kugelhagel, wo sie ebenfalls den Tod finden können. Und überhaupt reichte ihnen eine einbeinige Panzerfahrerin. Damit meinte er Maria Lugowaja, die hier bereits zwei Panzer erhalten hatte und im letzten beinahe umgekommen wäre. Sie blieb am Leben, aber ohne Beine. Momentan wurde sie gerade im Krankenhaus in Swedlowsk behandelt. Dort erhielt sie Prothesen und kam dann hierher zum Regiment, wo ich sie mit Mittagessen versorgte. Jung war sie und hübsch, nur wenig älter als ich. Später, als bereits Frieden herrschte, sah ich sie einmal im Fernsehen, am Tag des Sieges auf dem Roten Platz, im Kreis von Kriegsveteranen – ich konnte mich nicht geirrt haben.
Nun, ein solches Gespräch führte er also mit mir, schrieb dan irgendetwas auf ein Stück Papier, rief den Diensthabenden herein, gab ihm den Breifumschlag und befahl, mich zum zweiten Panzer-Reserveregiment zu begleiten. So geriet ich auf die andere Seite des Zaunes un wieder in die Küche. Der Kommandeur erhörte meine Bitte nicht, dass mir doch auch in Friedenszeiten der Beruf einer Fahrerin zustatten käme – da könnte ich doch mit dem Traktor Getreide pflügen. Aber er hatte Mitleid mit mir jungem Mädel.
Man brachte mich zusamemn mit fünf anderen Mädels in einem Zimmer unter. Anja Lichatschewa arbeitete als Schreiberin im dritten Bataillon. Ihr Mann war Bataillonskommandant. Sie war die einzige verheiratete Frau. Walja war Dispatcherin in der Garage. Nadja war als Fahrerin tätig. Beide stammten sie aus dem Donez-Becken, aus Pjerwomajka. An ihre Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Dann war da noch Lena aus Kemerowo. Sie arbeitete wie ich in der Küche, allerdings in einer anderen Schicht. Wir wohnten einträchtig miteinander, es gab niemals Zank und Streit. Wir hatten nur wenig Gelegenheit uns zu erholen. Na ja,und wenn es schon einmal vorkam, dass wir eine Minute zusammensitzen konnten, dann öffneten wir die Lüftungsklappe und sangen so schöne Lieder, dass der Regimentskommandeur, Oberst Nagowizyn, unter das Vordach des Stabsgebäudes hinaustrat, sich mit dem Rücken zu uns hinstellte und unseren Gesängen lauschte. Die Hände hält er auf dem Rücken verschränkt und mit seinen Füßen rollt er auf und ab, auf die Zehenspitzen und wieder auf die Fersen. Egal, wie lange wir singen – er bleibt ebenso lange dort stehen. Mitunter gesellte sich Major Wariwoda zu ihm. Ihm fehlte die rechte Hand. Er arbeitete in der Sonderabteilung. Bei uns herrschte strenge Disziplin. Urlaub bekamen wir nicht. Auf der anderen Straßenseite gab es ein Kinotheater, wir hätten uns gern einmal einen Film angesehen. Unser Kommandant war Hauptfeldwebel Petja. Nach seiner Verwundung war er zu uns geraten. Sobald wir sehen, dass die Leitung fortgegangen ist, rennen wir zu ihm, damit er uns ins Kino gehen läßt. Er ließ uns, allerdings selten, und wenn er mal einen guten Augenblick erwischt hatte, dann begleitete er uns sogar dorthin.
Einmal gingen wir ins Kino, schauen in die Ecke und sehen im Foyer eine Frau mit einem Bastbesen stehen; sie weint. Meine Freundin und ich gingen zu ihr und fragten, was geschehen sei? Es stellte sich heraus, dass sie zu den Evakuierten gehörte, und nun hatte sie die Nachricht über den Tod ihres Mannes erhalten. In der Fabrik kann sie nicht arbeiten, denn sie hat zwei Töchter: Sweta – fünf Jahre alt, Lida – erst drei. Deswegen hat sie sich im Klub einer Arbeit als Tehnikerin gesucht. Sie wohnt nebenan in er Baracke. Die Kinder bleiben allein zuhause. Sie bindet sie mit einem Tau am Bett fest, damit sie nichts anstellen oder weglaufen. Und nun war sie gerade hinübergelaufen, um bei ihnen nach dem Rechten zu schauen: die Mädchen hatten sich losgebunden, saßen an der Tür und weinten. Sie band sie erneut fest, und gingen weinend zu ihrer Arbeitsstelle zurück. Nun wird sie erst gegen Mitternaht wieder nach Hause kommen, wenn die Kinder sich ausgeweint haben und eingeschlafen sind. Wir boten ihre unsere Hilfe an, und von der Zeit an waren wir häufig bei ihr zu Gast. Sie gab uns sogar den Schlüssel. Die Mädchen gewöhnten sich an uns und freuten sich, wenn wir kamen. Sofern es möglich war, brachten wir aus unserer eigenen Ration etws Brot mit und, offen gestanden, manchmal auch ein Stück Kotelett, das wir in Zeitungspapier gewickelt hatten. Denn als wir sie zum ersten Mal antrafen, hatten wir nichts weiter, als diese erschreckt dreinblickenden Augen in ihren Gesichtchen gesehen. Und einmal, da schickten sie mich zur Bahnstation, um einen Waggonmit Lebensmitteln zu entladen. Man gab mir zehn Soldaten und fünf Fahrzeuge mit. Ich war für das Entladen verantwortlich. Irgendein Waldgeist verführte mich, und so lief ich zu dieser Mascha, so hieß die Frau, und sagte ihr, sie solle zur Abladestelle kommen. Ich nahm ein Paket Reis-Konzentrat von ungefähr neun Kilogramm Gewicht, schob es einem Soldaten zu und zeigte ihm, wem er es geben sollte. Und der Frau selbst hatte ich bereits im voraus bescheidgesagt, welchen Weg sie am besten nehmen sollte. Aber wie heißt es so schön: alle Heimlichkeiten kommen irgendwann doch heraus. Sie mußte am Bahnhof vorbei, und dort standen überall Patrouillen. Sie brachten Mascha zur Kommandantur, und das Rad der Durchsuchung einer Verbrecherin kam ins Rollen. Was gab es da zu suchen. Wir waren alle dabei. Sie brachten den kleinen Soldaten vor die oberste Leitung, und da steht er nun, klein wie ein „Küken“, mit seinem Urteil, das da lautet: fünfundzwanzig Jahre. Ich erinnerte mich an meinen Bruder Lenja, der bereits an der Front zum Krüppel gemacht worden war und Taschkent im Krankenhaus lag. Und ich ging auf den kleinen Soldaten zu, schob ihn beiseite und sagte: „Ich war es, die ihr den Reis gegeben hat!“ Sie riefen beim Regiment an, schickten für mich einen Ersatz und brachten mich mitsamt der Fracht zur Kommandantur. Ich übernachtete dort, und am Morgen kamen der Mitarbeiter der Sonderabteilung Wariwoda und Regimentskommandant Petja zu mir. Vor lauter Verwunderung rissen sie die Münder auf, als sie mich sahen. Major Wariwoda sagt: „Die haben nicht mal auf Naumow gewartet. Was hast du da bloß angestellt!“ Aber mein Herzchen war aufgerüttelt, die Gedanken wollten einfachnicht aus meinem Kopf weichen. Es herrschten doch Kriegszeiten, und man wurde für jedes noch so kleine Vergehen bestraft. Sie verhafteten mich, und ich trottete mit gesenktem Kopf hinter ihnen her. Nach dem Mittagessen durfte man schon wieder zum Regiment zurückgehen. Sie sagten zu mir: „ Na komm schon, gehen wir. Wir wollen uns den Film „Neuland unterm Pflug ansehen“. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wir setzen uns, sehen den Film an. Mein Herz rutscht mir in die Hosen. Die Auseinandersetzung steht mir noch bevor. Wir fahren zum Regiment. Ich muß vor dem Kommandeur strammstehen. Ich stand und stand. Eine ganze Stunde lang hielt er mir seine Strafpredigt. Ich schweige, weiß nicht, wie ich mich rechtfertigen soll.Er brüllt mich an: „Zehn Tage Strafregime! Marsch an die Arbeit!“ Ich konnte nur sagen: „Jawohl! Zehn Tage Strafregime!“ Wie es heute ist, weiß ich nicht, aber damals waren die Regeln in der Armee so, dass, wenn ein Soldat eine Strafe bekommen und sie nicht innerhalb eines Monats abgegolten hatte, diese ihre Gültigkeit verlor. Ich arbeitete einen ganzen Monat wie im Nebel und betete mit allen nur erdenklichen Beschwörungsformeln zu Gott, damit er meine Bestrafung aussetzen möge. Ich sehe zufällig den Kommandanten und frage ihn, wieso dort noch keine Anordnung an der Tafel steht. Und ganz beiläufig antwortet er, dass „die da oben“ sich noch nicht geäußert haben. Zwei Tage waren noch nach. Ich rackere mich ab und denke: „Biitte, lieber Gott, laß mich auch diese beiden Tage noch überstehen!“ Aber nein! Am Abend komme ich von der Schicht, sehe aus dem Fenster und erblicke den Kommandantn. Hinter ihm geht ein Soldat mit einem gewehr. Das Herz rutschte mir in die Kniekehlen. Er nimmt mir meinen Gürtel und die Schulterstücke mit den Pilotensternchen ab. Und dann noch zu meinem Kummer irgend so eine militärische Aufstellung – das gesamte Regiment hat auf dem Platz Aufstellung genommen, und ich muß; unter Wachbegleitung an der ganzen Formation vorbei; zur Hauptwache gehen. Herrgott, was hab’ ich mich geschämt. Meine Beine sind wie aus Watte, wollen nicht gehen, die Augen wie mit Nebel verhüllt. Ich sehe nichts, ich stolpere. Wir passierten den Durchgangshof. Mir wurde ein wenig leichter ums Herz. Und der kleine Soldat marschiert mit umgehängtem Gewehr hinter mir her. Er übergab mich dem Diensthabenden. Man wies mir eine Zelle zu. Am Türpfosten blieb ich stehen und sah mich um: ein hohes, vergittertes Fenster, an den Wänden Pritschen - mehr nicht. Ich warf meinen Soldatenmantel auf eine derPritschen, legte mich darauf und brach in Tränen aus. Ich denke, wie dumm das alles von mir war und dass ich beim nächsten Mal vorher nachdenken werde. Und so begann meine Umerziehungszeit. Sie zwangen mich, die Kanzelei zu reinigen. Dort ist es dunkel, schwarz, die Wände grau, an einer Seite ein riesiges Fenster. Aber es kommt schon kein Licht mehr hindurch, so schmutzig ist es. Mir zur Hilfe schickten sie ebensolche, die auch ihre Strafe hier absitzen mußten, zwei Burschen. Ich fing an zu scheuern, zu weißen, zu waschen. Ich war totmüde. Abends kehrte ich in meine Zelle zurück und ließ erneut den Tränen freien Lauf. Oft und viel habe ich damals geweint. Am Morgen gings wieder zur Arbeit, den Lappen und die Bürste schwenken, und am Abend war ich sogar über die nackten Pritschenbretter froh, wenn gleich man sich darauf nur wenig ausruhen konnte. Ich scheuerte das Büro des Leiters der Hauptwache und dachte, dass damit dann meine ganze schmutzige Arbeit beendet wäre, aber das war ganz und gar nicht der Fall. Er lobte mich vor dem Leiter der Stadtkommandantur – was für eine Sauberkeit ich in das Arbeitszimmer gebracht hatte, und daraufhin mußte ich dann noch an vier Tagen unter Wachbegleitung quer durch die ganze Stadt gehen, um auch dort alles in Ordnung zu bringen. Mir kam es so vor, als ob die Tage sich endlos in die Länge zögen. Sie schienen mir wie eine Ewigkeit. Aber nach acht Tagen ließ mich der Leiter der Hauptwache zu sich kommen. Ich gehe über den Flur und höre die Stimme unseres Kommandanten Petja. Mich befällt eine unsägliche Freude, und erst recht, als ich meine Sachen auf dem Tisch liegen sehe. Auch meinen Gürtel, die Schulterstücke und die Fliegermütze gaben sie mir zurück. Wir fuhren zum Regiment, und wieder mußte ich meinem Regimentskommandanten vor die streng dreinblicknden Augen treten. Nun mußte ich ihm erzählen, wozu ich dieses Reiskonzentrat nötig gehabt hätte. Über die vielen Jahre habe ich all dies in der Erinnerung behalten, und mir scheint es so, als ob es gar nicht so schlimm gewesen ist. Und du denkst darüber nach, ob wohl all die Menschen, denen du auf deinem Weg begegnet bist, auch heil zurückgekommen sind ... So kehrte ich zu meinen Pflichten in der Küche zurück. An den Herd, der Tag und Nacht geheizt wurde, auf dem zahlreiche Töpfe und Behälter mit Essen standen. In diesem Regiment arbeitete ich bis zum Sieg. Von dort schickten sie mich beim ersten Aufruf zur Demobilisierung im Juli 1945 nach Hause – zuallererst uns Mädchen und alle geheilten Verwundeten. Sie gaben uns eine Trockenration für fünf Tage, brachten uns mit Fahrzeugen bis nach Swerdlowsk, wo wir uns dann auf die einzelnen Züge verteilten. Die Menschen fuhren in alle Himmelsrichtungen davon, und es waren furchtbar viele Menschen. Die Waggons waren überladen, ganz unterschiedliche Menschen fuhren zusammen davon: Zivilisten mit großen Körben und Soldaten vom Feld mit leeren Rucksäcken. Der Zug trug die Bezeichnung „die fröhlichen Fünfhundert“, überall sammelte er noch weitere Menschen auf, sogar die Durchgänge waren vollgestopft. Bis zum nächsten Morgen mußte ich am Fenster stehen, und dann überließ man mir einen der unteren Schlafwagenplätze. So fuhren wir eine Woche lang, bis wir Barabinsk erreichten, und dann noch einmal eine Woche, bis ins Dorf. Manche wurden unterwegs mitgenommen, andere liefen zufuß, den Rucksack auf den Schultern. Zu Hause erwartete mich niemand. Alle waren auf dem Feld, auch Mama und meine Geschwisterchen. Klawa war 1929 geboren, Brüderchen Wasja 1932. Als sie sich wiedersahen, konnten sie durch ihren Tränenschleier nichts mehr erkennen. Alle liefen zerlumpt, in schäbiger Kleidung herum. Alle waren abgemagert. Gearbeitet hatten sie, aber nichts dafür bekommen. Alles war „für die Front, für den Sieg“. Am nächsten Tag treffe ich auch Pawel Aleksejewitsch. Er war den ganzen Krieg hindurch Vorsitzender gewesen und befand sich nun gerade auf dem Weg zur Arbeit. Ich war so eine Art „Kolchos-Aufzieherin“, lernte auf Kosten der Kolchose den Beruf der Rechnungsführerin, und machte mich dann an die eigentliche Tätigeit heran. Ich ging durch mein Dorf, sah mir alles an und wurde von Schrecken ergriffen; alles ist im Krieg zerstört worden, alles ist verfallen. Die eigenen Dorfbewohner kenne ihr Dorf nicht wieder. Die Kolchose ist verelendet, die Menschen sind verarmt. Alles hat man mit Steuern belegt. Wenn jemand ein Ferkel hat, Gott bewahre, muß er es schlachten und durch den Fleischwolf drehen. Auf jeden Fall muß er das Fell abziehen und es bei der Beschaffungsstelle abgeben, aber zuallererst müssen die Borsten herausgerissen werden. Die muß man auch, aber gesondert, abgeben. Die Bevollmächtigten gingen von Hof zu Hof, zählten und notierten die Anzahl der Schafe, Hühner, prüften, ob Kühe vorhanden waren und wieviel Milch sie gaben. Und dann wurde alles besteuert – Milch, Wolle, Eier. Im Frühling wurde festgestellt, wieviele Kartoffeln, Zwiebeln, Wurzeln und Rüben gepflanzt worden waren. Und dann wurde wieder besteuert. Am Jahresende kommt dann die Bilanz, und es stellt sich heraus, dass einem nichts geblieben ist. Die Menschen murrten, waren ungehalten. Aber sie konnten nichts machen. Was für die Front war, war für die Front. Nach dem Krieg wurden die Steuern auch nicht weniger, aber nun waren sie für den Wiederaufbau der Volkswirtschaft gedacht, die durch den Krieg ruiniert worden war. Von meine Altersgenossen ist fast niemand am Leben geblieben. Mitja Baskakow, Flieger, kam ums Leben. Grischa Kostenko verbrannte in seinem Panzer. Wanja Teslenko kämpfte bei der Infanterie; auch er kehrte nicht zurück. Ilja Lanzow und Kolja Potschatkin wurden vor dem Krieg zum aktiven Militärdienst eingezogen, dienten an der Grenze, wo sie auch bereits in den ersten Kriegstagen ums Leben kamen. Viele wurden zu Krüppeln. Unser Dorf teilte sich in zwei Bereiche: Ukrainer und Sibirjaken. Die Burschen aus diesen beiden Teilen lieferten sich heftige Schlägereien wegen der Mädchen. Vor dem Krieg hatte es irgendwie mehr Jungs als Mädchen in den Dörfern gegeben, und so entbrannten ihretwegen Streitereien und Prügeleien. Aber nach dem Krieg gab es niemanden mehr, mit dem man sich hätte prügeln können.
Auch ich brauchte mich nicht lange ausruhen und in meinem Dorf arbeiten. Auch für mich fanden sich Brautwerber. Ich kannte ihn nicht sehr gut. Man kann nicht gerade sagen, dass ich über seine Ankunft sehr erfreut war, aber es bereitete mir auch keinen sonderlichen Verdruß. Die Brust voller Orden und Medaillen, den Arm in einer Schlinge – insgesamt gesehen ein Held. Und ich stürzte blindlings in diese Ehe hinein, wie der Kopf in eine Untiefe. Wenn ich gewußt hätte, was mir diese Ehe bringt oder wenn mein Schutzengel mir die richtige Wahl gewiesen, meinen Weg mit glühenden Nägeln vollgeschüttet hätte, damit ich mir die Füße daran blutig stechen sollte, dann wäre ich wohl zuhause geblieben. Aber niemand hielt mich auf, und so fuhr ich, wie unsere Dorfbewohner meinten, in reiche Gefilde, denn ringsumher gab es nur dichte Taiga – und das war doch schließlich Reichtum. Das Dorf lag in der Region Krasnojarsk, Olchowka hieß es, und mein Mann hieß Dmitrij Moisejewitsch Kabanzow. Seine Familie lebte in ganz schrecklicher Armut. Als wir dort im Sommer eintrafen, saß seine vierjährige Nichte splitternackt auf dem Ofen, denn sie besaß nichts, was sie hätte anziehen können. Die übrigen steckten in irgendwelchen Lumpen, nur um den sündigen Körper irgendwie zu bedecken. Du liebe Güte! Herrscherindes Himmelreiches, was mußte ich nicht alles durchmachen in den zwanzig Jahrenmeiner Ehe. Wieviele Male unternahm ich den Versuch wegzufahren, aber ringsumher waren alles nur fremde Menschen, ich hatte keine einzige Kopeke in der Tasche, denn alles was wir verdienten, bekam mein Mann, und das Geld wurde strikt nur für Brot ausgegeben. Etwas von ihm zu erbitten war schlichtweg sinnlos. In der Kolchose wollte er nicht arbeiten. Und wenn er endlich eine Arbeit bekommen hatte, dann dauerte es nur ein paar Monate, bis man ihn aufforderte zu kündigen, denn er ging mit den Leuten äußerst grob um. Nach dem Krieg wr er Invalide dritten Grades, so dass man sich ihm gegenüber recht wohlwollend verhielt. So bestand auch seine ganze Arbeit darin, seine Flinte zu Schultern und in die Taiga zu gehen, weit weg von Kummer und Sorgen. Na ja, und ich arbeitete in der Kolchose. Im Sommer Heumahd, anschließend Getreideernte. Das machten hauptsächlich Frauen. Mit Sicheln schnitten wir das Korn. Im Winter wurde das Getreide verlesen. Die besten Körnchen nahmen wir für die neue Saat. In der Mitte des Speichers stand ein langer Tisch, darauf das Korn, und wir, die Frauen, sitzen zu beiden Seiten wie Vögel auf der Stange. m eine Tagesarbeitseinheit zu verdienen mußten wir drei Kilogramm verlesen, aber kaum jemandem gelang das. Mit Mühe und Not zwei, aber auch nur dann, wenn du nicht zum Mittagessen gehst. Am Abend kommt der Brigadier, prüft, schreibt jedem seinen Arbeitsbachweis auf. Und so ging das bis zum Frühjahr. Das war im Jahre 1948. Sogar meinen Mann zwangen sie zur Arbeit. Ein ganzes Jahr hindurch arbeiteten wir. Vor Neujahr kam dann mein Hausherr, um das Verdiente zu bekommen. Er brachte 17 Kilogramm Weizen mit, der ganze Dreck war noch daran, und ein bißchen Geld. Er warf den Weizen in die Ecke, nahm den Schultersack, ging zum Parteikomitee, legte das Parteibuch auf den Tisch und verließ die Kolchose. Denn damals war es schwierig, aus der Kolchose herauszukommen, es mußten schon schwerwiegende Gründe vorliegen. So zogen wir zur Station Tschernoretschenskaja um. Er fand eine Arbeit als Zugbegleiter bei der Schützenwache. Und auf mir lasteten alle häuslichen Sorgen. Zu jener Zeit hatten wir bereits einen Sohn, und dann wurden auch noch Zwillinge geboren. Die Weiberpflichten reichten mir voll und ganz. Einer sitzt ruhig da, der andere weint – oder umgekehrt. Und der Älteste, Walerij, ist erst drei Jahre alt. Während ich Serjoscha bade, hat Fedja sich bereits heiser geschrien. Und der Hausherr kehrt von seiner Schicht zurück, legt sich schlafen. Und als er das Schreien hört, dreht er sich um und schläft sich erst mal von der anstrengenden Arbeit aus. 1958 machten wir uns an den Bau unseres eigenen Hauses. Fünf Kinder hatten wir da schon, und die Verwandten meines Mannes vom Lande wohnten auch noch bei uns. Die Nichten gingen zur Schule, aber im Dorf gab es keine. Sobald es Sommer geworden war, fing Walerij an das Vieh zu hüten, und das tat er, bis er zur Schule kam. 400 Rubel bekam er dafür. Von diesem und von meinem Geld kleidete ich die Kinder ein, damit sie zur Schule gehen konnten. Mein Mann gab uns nur Geld für Brot. Wenn es möglich war, arbeitete ich in der Kantine. Mein Beruf, den ich im Kriege erlernt hatte, halfmir hier aus der Not. Unser Hausherr arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr. Er hatte Angst davor, dass, wenn er arbeiten würde, man ihm die Anerkennung als Invalide absprechen könnte. Und dann noch die Bauerei. Wir machten ja alles selbst, niemanden stellten wir dafür ein. Es tat ihm jedesmal leid Geld auszugeben. Und so bauten wir. Während ich bei der regulären Arbeit bin, sind die Kinder sich selbst überlassen. Zwölf Stunden arbeitete ich immer, ohne freie Tage. Erst spät komme ich von der Arbeit heim, und ich weiß nicht, was ich zuhause als erstes machen soll. Die Zwillinge spielenmit hungrigen Mägen, der kleine Tolja, geboren 1952, weint. Er ist über und über beschmutzt. Der Kleine ist krank. Den ganzen Tag oder die ganze Nacht hindurch bei der Arbeit auf den Beinen, und dann zuhause nicht zum Schlafen kommen. Zwischen Krankheitsfällen und Geburten mußte ich immer arbeiten. Und so verlief auch mein ganzes Leben. Die Kinder wuchsen heran, sie mußten eingekleidet werden. Ich mußte ihnen Schuhe kaufen. Und offensichtlich empfand mein Mann das als schwere Bürde. Er ließ uns im Stich, die jüngste Tochter war fünf. Das war 1963. Er fuhr weg, um fortan in einem Waldgebiet zu leben. Alles, was wir uns angeschafft hatten, wurde vom Gericht aufgeteilt: Stühle, der kleine Laden, Eimer. Ich blieb mit den Kindern in einem leeren Haus zurück und schuldete meinem Mann auch och Geld, denn alles, was er mitgenommen hatte, war nicht soviel wert, wie die Kosten für das Haus. Und so lebte ich mit den Kindern – schwer war es, aber alles ging nun ruhig und friedlich zu. Die Kinder waren nicht verwöhnt, aber sie wußten, was arbeiten heißt. Der Älteste fuhr nach Beendigung der 7-Klassen-Schule nach Krasnojarsk. Er wollte Fahrer werden. Die Zwillinge gingen zur Schule, im Sommer arbeiteten sie in der Försterei, jäteten Unkraut, pflanzten Stecklinge. Die Nachbarn warenneidisch, dass ich so wohlerzogene, folgsame Kinder hatte, und welche Mutter hört nicht gern ein solches Lob. So kam unser Leben nach und nach in Ordnung, und wir lebten nicht schlechter als die anderen. Zu jener Zeit arbeitete ich als Versicherungsagentin bei der staatlichen Versicherungsgesellschaft, die jüngeren Kinder gingen zur Schule. Die Siedlung Tschernoretschenskaja, in der wir lebten, war groß: zwei Waldwirtschaften, eine Sowchose, eine Werkshalle für Container. Die Station galt als Verkehrsknotenpunkt. Und es gab zwei 10-Klassen-Schulen. Im großen und ganzen gab es Arbeit und Einrichtungen, in denenman lernen konnte. Meine Kinder beendeten die Schule, dienten in der Armee und zogen dann irgendwo hin. Es ging alles nach dem Motto „leb’ frei und freu’ dich des Lebens“. Die Kinder haben mich nicht vergessen. Sie scheiben Briefe, kommenin den Ferien her. Ich habe auch schon Enkelkinder. Aber das Schicksal hat mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Wieder durchzog ein schwarzer Streifen mein Leben.
1972 starbmeine Mama, wir weinten, trauerten eine zeit lang, obwohl sie schon sehr alt gewesen war und ihr Leben gelebt hatte. Aber es war trotzdem schade. Gerade eben war ich mit diesem Kummer fertig geworden, da starb 1975 mein ältester Sohn Walerij. Er war erst 29 Jahre alt. Zur Heuernte mobilisierte man ihn. Sie fuhren ihn durch das halbe Land, brachten ihn von der Stadt Tscherdomyn bis in den Fernen Osten, in den Krasnoturansker Bezirk. Fast bis nach Hause. Was das für ein System war, habe ich bis heute nicht verstanden. Ein Mensch, der im Alter von acht Jahren schon in einer Armee dient, mit der Familie lebt, arbeitet. Da schicken sie einen Soldaten wegen der Technik mit dem Zug durchs ganze Land. Gab es denn keinen anderen Soldaten in Krasnoturansk außer meinem Sohn? Er starb bei einem Autounfall, als er die Arbeitskolonne von der ersten Ernte nach Krasnoturansk begleitete. Hinter dem Lenkrad saß ein junger Soldat. Er verstand nichts vom Autofahren, das Fahrzeug kippte um. Und mir brachten sie mit einem Auto den Sarg nach Hause, mit der Leiche des Sohnes, und vor mir verblaßten alle klaren Farben. Mein ganzes Leben rutschte plötzlich von einem hohen Felsen herab in einen tiefen Abgrund. Noch hatte ich mich über diesen Schmerz nicht ausgeweint, als meinem Sohn Sergej das Söhnchen starb, mein Enkel Dimotschka. Zwei Jahre erst stand er mit seinen Beinchen auf der Welt. Ich kam nicht zur Besinnung. 1979 wurde mein Sohn Fedja in Atschinsk ermordet. Er rannte nach der Arbeit zur Elektrischen. Er war auch erst 29 Jahre alt. Sieben Personen waren es, alle noch nicht volljährig, darunter zwei Zigeuner. Sie fragten, ob er etwas zu rauchen hätte, aber er war Nichtraucher. Sie stürzten sich alle zusammen auf ihn, schlugen ihm auf den Kopf, traten ihn in den Schmutz und verspotteten ihn noch, als er bereits im Sterben lag. Aus den Handgelenken schnitten sie ihm Kreuze heraus. Fedja wurde neben seinem älteren Bruder begraben. Zurückblieb seine schwangere Ehefrau Ljuda mit dem vierjährigen Sohn. Sie bekam später zu unserer aller Freude ein Mädchen namens Tanja. So zog auch sie zwei Kinder allein groß. Jetzt sind sie schon erwachsen und haben ihre eigenen Familien. Natürlich habe ich sie auch nie vergessen, habe ihnen geholfen, so gut es ging. Ich überstand auch die Gerichtsverhandlungen, aber unser Gericht ist human. Der eine bekam fünf, der andere sieben Jahre, ein weiterer gar keine Strafe, weil er noch nicht volljährig ist. Und die Zigeuner fanden sie gar nicht erst. Bald darauf kam eine Amnestie, alle wurden freigelassen, aber die Söhne konnten mir weder das Gericht noch die Regierung zurückgeben. Nur ihre Gräber sind mir geblieben. Fast täglich gehe ich dorthin. Son bin ich mit meinem Gram allein geblieben. Jetzt haben sich auch eitrige Hauterkrankungen meiner bemächtigt. Die beine wollen nicht mehr, ich mußte die Arbeit aufgeben. Ich war bereits in Rente gegangen, arbeitete aber trotzdem noch. Haus und Garten in Ordnung zu halten fällt mir immer schwerer. Sohn Sergej kann auch nicht immer aus Atschinsk zu Besuch kommen. Er hat ja seine eigene Familie. Ich mußte alles verkaufen und zu meiner Tochter nach Schelesnogorsk fahren, um dort zu leben. Das war 1988. Die Tochter bekam ihr drittes Kind, sie erhielten eine Zweizimmerwohnung von der Fabrik. Und ich blieb in der alten Einzimmerwohnung. Hier verlief mein Leben ohne dörfliche Sorgen. Ich brauche kein Brennholz beschaffen, kein Wasser aus dem Brunnen heranschleppen, keinen Schnee räumen. Die Rente bringen sie auch zu mir nach Hause. Aber ein Kummer stand noch ins Haus, mein Schicksal konnte mich auch hier noch nicht in Ruhe lassen. Im August 1992 starb Sohn Sergej durch einen Herzanfall. Auch den Sarg dieses Sohnes brachte ich zum Friedhof und ließ ihn neben seinen beiden Brüdern bestatten. Und da liegen sie nun auf dem Friedhof, einer neben dem anderen. Alle waren sie so jung, so gesund, waren niemals krank. Leben, nur leben wollten sie und ihren Kindern auf die Füße helfen; aber das Leben disponierte anders. Jetzt bin ich einmal im Jahr bei ihnen zum Geburtstag. Inzwischen bin ich schon 81 Jahre alt, und manchmal denke ich, weshalb mir Gott so wehgetan hat, mir meine Söhne fortzunehmen. Habe ich denn in meinem Leben so viele Sünden begangen?! Meine Kinder werde ich wohl immer vor Augen haben, so lange ich sie nicht für immer geschlossen habe, und sie bleiben immer in meinem Herzen. Weinen kann ich schon nicht mehr, alle Tränen sind bereits aus mir herausgeflossen, geblieben ist eine nicht enden wollende Sehnsucht. Vor drei Jahren ist dem jüngsten Sohn die Ehefrau gestorben. Er lebt in Murmansk. Die Kinder sind schon groß, aber auch sie könnten noch eine Mutter gebrauchen, ganz besonders Töchterchen Anetschka, sie ist die jüngste – 22 Jahre alt. Laut schreit es aus meiner mütterlichen Seele heraus, aber in diesem Leben konnte ich meinem jüngsten Sohn schon nicht mehr helfen. Ich kannihn nur noch an mein Herz drücken und ihm über den Kopf streicheln. Und so lebt auch er jetzt allein, und mein Herz schmerzt in dem Wissen, dass sie in der feuchten Erde liegen und zu Erde werden. Für die Lebenden ist es jetzt noch schwerer, sich an das heutige Leben anzupassen, denn das Leben diktiert seine Bedingungen.
So verranmein Leben mit Arbeit und Sorgen. Oft denke ich an meinen Dienst in der Armee zurück, wo ich ebenfalls Tag und Nacht arbeiten mußte. Ein Glück nur, dass das Hinterland nicht bombardiert wurde. Ein größeres Glück gab es im Leben scheinbar nicht. Man bemühte sich zu leben, strebte nach irgendetwas, freute sich über jede Kleinigkeit. Und jetzt kommt der Enkel, nimmt mich mit inden Laden, sitzt bei mir und erzählt, wie es in der Schule geht. nd ich freue mich auch darüber wie ein Kind. Von der Verwaltung schicken sie Glückwünsche zum Feiertag – wieder eine Freude. Sie haben mich nicht vergessen. Auch zu Konzerten laden sie mich ein, aber meine Hautwunden gestatten es mir nicht immer dorthin zu gehen, aber trotzdem – es ist schön die Einladung zu bekommen. Es nähert sich der Feiertag des Sieges. Viel wird darüber in den Zeitungen geschrieben, im Fernsehen gezeigt. Und bei uns Alten fließen die Gedanken über das vergangene Leben durch den Kopf, wie ein schnelles Bächlein bei Hochwasser. In langen, schlaflosen nNächten denke ich über alles nach und rufe mir die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurück. Und ich bin überzeugt, dass ich mein Leben nicht umsonst gelebt habe. Die Kinder sind erwachsen geworden, Enkel und Urenkel wachsen heran. Nein, mein Leben war nicht umsonst!“
Man könnte den Lebensweg meiner Großmutter Maria Semjonowna Kabanzowa, noch lange fortsetzen, aber ich meine, dass auch aus dem hier vorliegenden Text ersichtlich wird, dass die ältere Generation, trotz aller unglückseligen Lebensumstände, ihren natürlichen Optimismus und die Fähigkeit Freude am Leben zu empfinden, nicht verloren hat, egal wie schwer sie es auch hatten. Durch die Erzählungen meiner Großmutter erfuhr ich die Geschichte meines Heimatlandes. Danke Omilein! Möge Gott dir noch lange Jahre Gesundheit schenken!