XIV. jährlicher allrussischer Wettbewerb historischer Forschungsarbeiten von Schülern der höheren Klassenstufen
„Der Mensch in der Geschichte . Russland – 20. Jahrhundert”
Städtische allgemeinbildende Einrichtung “Wjerchnekuschebarsker allgemeine Oberschule namens W.P. Astafjew“
Anna Neljubina
Leitung der Forschungsarbeit: Aleksander Michailowitsch Morschnjow,
Geschichtslehrer,
Jelena Wladimirowna Selina, Technologie-Lehrer, Pädagoge für weiterführende
Bildung.
Ortschaft Wjerchnij Kuschebar
2013
1. Einleitung
2. Mamas Erinnerungen
3. Schlussbemerkung
Unsere Pflicht ist es, die Erinnerung an die Vergangenheit zu wahren. Deswegen stellen wir auch Mini-Archive zusammen, zeichnen die Erinnerungen noch lebender Zeugen an die tragischen Ereignisse der Vergangenheit auf. Ich kann nur sehr wenige Familien-Dokumente in meinen Händen halten. Den Grund dafür sehe ich darin, dass das Aufbewahren oder Vorhandensein derartiger Papiere bei weitem nicht ungefährlich war – fast in jeder Familie gab es irgendein „kompromittierendes“ Material. In diesem Sinne war es für den mustergültigen Sowjetmenschen (besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) besser, einen nicht so langen Stammbaum und keine umfangreiches Archiv zu besitzen. Deswegen zerrissen die Leute vorhandene Fotografien, verbrannten Briefe und Tagebücher, vernichteten Dokumente. Und wenn es nicht die eigenen Besitzer waren, welche dieses Material liquidierten, wenn sie einem nicht bei der Verhaftung oder während der Haussuchungen abgenommen wurden, dann gingen sie irgendwann bei einem der zahlreichen Umzüge, Aussiedlungen und Evakuierungen verloren oder verbrannten im Feuer des Krieges.
Die Klärung der Geschichte der Schicksale unserer Großväter und Urgroßväter, Angehörigen und entfernten Verwandten – all das fördert die Festigung der inneren Verbindung, der interfamiliären Achtung voreinander.
Meine Familie ist deswegen so interessant, weil sie international ist. Mama, Sinaida Iwanowna Neljubina, ist laut Dokumenten Russin, aber in Wirklichkeit fließt deutsches und russisches Blut in ihr. Papa, Jurij Iwanowitsch Ljubin, ist Russe. Wie könnte ,am alldiejenigen nicht achten und maßlos lieben, die in ihrem Leben unter den größten Erschwernissen und Mühen unser Heute und unser Morgen gesichert haben.
Die Erzählungen meiner Mutter, meine Kindheitserinnerungen plus Archivangaben, die es gelang zu beschaffen (staatliches Komitee für Archiv-Angelegenheiten im Gebiet Tscheljabinsk; das Buch „Erinnerung an die Trudarmee-Arbeiter des Tscheljabinsker Metallurgie-Trusts“) bildeten die Grundlage für diesen Bericht. Zudem habe ich versucht, meinen Stammbaum zu erstellen, der in dieser Arbeit ebenfalls vorgestellt wird (soweit es mir möglich war).
Nur ist es sehr schwierig, jene andere Welt auf die Gegenwart zu übertragen. Aber man muss es versuchen, es ist auch Tradition, die Weitergabe an die Generationen, die Erinnerung – und sie, die Vergangenheit ist dazu aufgerufen uns, den heutigen Nachfahren, dabei zu helfen, über diese Vergangenheit nachzudenken und aus ihr die Lehren für das Wohl der künftigen Generationen zu ziehen.
Mir ist, wie wohl allen anderen auch, der Weg, den meine Familie in der Geschichte gegangen ist, wichtig. Die Erzählungen meine Mutter Sinaida Iwanowna Neljubina (Mädchenname Frieling) – enthalten nicht nur Berichte über sich selbst, sondern auch über andere Mitglieder unserer großen Familie. Was in ihrem Leben geschah und wie sie ihr Leben verbrachten ist im Wesentlichen verständlich. Aber es ist schwierig zu begreifen, wie schrecklich und schweres zu der damaligen Zeit war, einfach nur zu leben.
Nicht genug damit, dass es sich um die Stalin-Zeit (Repressionen) handelte, nein – es herrschte ja auch noch Krieg. Und trotzdem konnten die Menschen sich noch freuen, hegten Hoffnungen und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Alles ist bei den Leuten so wie immer.
Alles beginnt mit den dramatischen Ereignissen der Geschichte der Wolga-Deutschen. Im Sommer 1941 bedeuteten die beträchtlichen Misserfolge an der Front, das Herannahen der deutschen Truppen an die Wolga sowie die nach Moskau gelangten Informationen über „antisowjetische“, „faschistische“ Aussagen einzelner Staatsbürger deutscher Nationalität in der ASSR der Wolga-Deutschen bereits eine erste Vorentscheidung für die Schicksale der Wolga-Deutschen. Die sowjetische Führung fasste den Beschluss über die Liquidierung der Republik und eine Umsiedlung der Deutschen in die östlichen Gebiete des Landes.
Der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 war dazu berufen, der ungesetzlichen Aktion im Hinblick auf die Aussiedlung eines ganzen Volkes zumindest in irgendeiner Weise einen gesetzmäßigen Charakter zu verleihen.
Das Jahr 1941 warf die gesamte Geschichte der Familie über den Haufen. Die Autonome Republik der Wolga-Deutschen hörte auf zu existieren. Die Deportation begann. Mein Großvater Iwan war damals 16 Jahre alt und sein Bruder Immanuel, geboren am 27. Dezember 1926 – 15. Die Schwestern: Lidia, geb. am 20. Februar 1922 – 19; Klara, als Jüngste, geb. 1931, war gerade erst 10 Jahre alt.
Der Großvater berichtete, dass er sich, auch wenn er noch ziemlich jung war, doch gut daran erinnern konnte, wie man die Nachbarn mit ihren kleinen Kindern auf ein Fuhrwerk steigen ließ und sie dann zur nahegelegenen Bahnstation und von dort ins Unbekannte abtransportierte. Am frühen Morgen wurde die Familie durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Ein Vertreter der Macht teilte dem Vater meines Großvaters leise etwas mit und ging dann wieder fort. Allen war klar – sie sollten sich zur Abfahrt bereit machen.
Mit ihren Habseligkeiten (nicht mehr als 36 kg pro Person) wurden sie auf Fuhrwerke verladen und zur Bahnstation gebracht. Aus den Erinnerungen des Großvaters erfuhr ich folgendes: nachdem seine Familie am Bahnhof eingetroffen war, wurde sie, zusammen mit weiteren Familien, auf Güterwaggons verladen, die eigentlich für den Transport von Vieh vorgesehen waren, und unter unmenschlichen Bedingungen nach Sibirien verschickt.
Bei der Ankunft an ihrem neuen Bestimmungsort, und das war das Dorf Schalagino im Bezirk Karatus, Tscherjomuschensker Dorfrat, brachte man die Familie in einem leerstehenden Haus unter. Nur gut, dass sie wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten – in dem Punkt hatten sie Glück. Oft war es so, dass die deutschen Umsiedler-Familien bei der Ankunft am Verbannungsort sich ihren Wohnraum selber bauen mussten. In den meisten Fällen handelte es sich bei diesen Wohnungen um eine Erd-Hütte, die jede Familie für sich selber aushob.
Die Fahrt dauerte lange und war schrecklich: es herrschten Kälte und Hunger.
Alte Menschen, Kinder und Kranke starben – sie wurden nicht einmal beerdigt, sondern einfach aus dem Waggon geworfen oder, im günstigen Fall, aus den Waggons getragen, wenn der Zug einmal für kurze Zeit hielt. Nach einer solchen Prozedur setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und die Angehörigen hatten nicht einmal das Recht, ihre Kinder, ihre Verwandten oder ihnen Nahestehenden zu bestatten. Der Zug eilte immer weiter und weiter dahin – ins weit entfernte, unbekannte Sibirien.
Am 3. September 1941 wurde der Großvater vom Melitopoler Bezirkskriegskommissariat in die Trud-Armee mobilisiert. Nach den Angaben in der Bescheinigung, welche von der Verwaltung für innere Angelegenheiten der Verwaltung der Region Krasnojarsk am 18. Juli 1994 ausgestellt wurde, wurde „Iwan Augustowitsch Frieling im September 1941 zur Arbeitsarmee ins Gebiet Molotow mobilisiert, 1944 ins Gebiet Kujbyschew verlegt und 1945 ins Gebiet Swerdlowsk“. An diese Zeit erinnerte sich Iwan Frieling nicht gern, weil es außer Schrecken, Kränkungen und Spott nichts gab, woran er sich hätte erinnern können. Die Bedingungen, unter denen er lebte und arbeitete, standen hinter denen, die im Lager herrschten, keineswegs zurück. Auf dem Weg zur Arbeit wurden sie von Soldaten begleitet.
Im Lager selbst blühte die Willkür der Lagerleitung. Das Wort „Fritz“ in der Bedeutung „Feind“ oder „Faschist“ waren nicht nur bei den Untergebenen im Gebrauch, sondern auch bei den Lagerkommandanten. In all dem Elend, den Erniedrigungen und der Enge starben viele Arbeitsarmisten an Hunger und manche einfach aus Verzweiflung, vor Kälter oder aufgrund der alle menschlichen Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit. Besonders schlimm waren diejenigen dran, die erst 16 Jahre alt waren.
Nachdem er zurückgekehrt war, vertrat der Großvater bis ans Ende seiner Tage die Meinung, dass ihm großes Glück beschieden gewesen sei, weil er überlebt hätte!!!
Also, mein Großvater Iwan Augustowitsch Frieling wurde am 25. Oktober 1925 im Gebiet Saporoschje, Bezirk Kuybschew, in der Ortschaft Eisenfeld geboren. Die Familie war groß: zwei Brüder und zwei Schwestern – ich habe von ihn bereits früher berichtet. Wie die Angaben aus dem Archiv bezeugen, wohnten sie in der Ortschaft Bejdek (heute Ortschaft Lugawskoje, Krasnoarmejsker Bezirk, Gebiet Saratow).
Bei A.N. Minch im geschichtlich-geographischen Wörterbuch des Saratower Gouvernements [S. 1002-1005] finden wir:
„Talowka, Bejdek, auch Bajdek, deutsche Kolonie im Kmyschinsker Landkreis, Sosnowsker Amtsbezirk, 2. Polizei-Stützpunkt, Lage: 51°10‘ nördlicher Breite / 15°20 ½‘ östlicher Länge von Pulkowo, an der Poststrecke des Saratowsko-Astrachansker Trakts und dem Flüsschen Talowka, 2 Werst von der Grenze des Saratower Landkreises entfernt. Nach Informationen der Amtsbezirksregierung wurde die Kolonie vor 1770 gegründet, nach Zeugnissen der Selbstverwaltungsbehörde des Gouvernements und (unserer Kolonie) Klaus kamen 1764-1767 lutherische Deutsche hierher, die aufgrund des Manifests von Katharina II zugereist waren, zum größten Teil aus Sachsen – unter anderem 25 Familien, die sich bei ihrer Ansiedlung auf insgesamt 40 Höfe verteilten. Nach den Listen der ausländischen Siedler, die 1859 erstellt wurden, gehörte die Kolonie Talowka zum Sosnowsker Gebiet; dazu gehörten:
nach der 5. Revision 1788 – 74 Familien, 254 Seelen männlichen Geschlechts,
265 Frauen;
nach der 6. Revision 1798 – 92 Familien, 311 Seelen männlichen Geschlechts, 270
Frauen;
nach der 7. Revision 1816 – 126 Familien, 485 Seelen männlichen Geschlechts, 457
Frauen;
nach der 8. Revision 1834 – 196 Familien, 825 Seelen männlichen Geschlechts, 749
Frauen;
nach der 9. Revision 1850 – 201 Familien, 1298 Seelen männlichen Geschlechts,
1173 Frauen;
nach der 10. Revision 1857 – 288 Familien, 1583 Seelen männlichen Geschlechts,
1529 Frauen.
IN der Liste der Ortschaften des zentralen statistischen Komitees, Ausgabe 1862, wird die Kolonie Talowka, und auch Bejdek, am Post-Trakt Saratow- Astrachan erwähnt, am Flüsschen Talowka, 124 Werst von der Landkreis-Stadt Kamyschina entfernt, und besaß 1860 insgesamt 228 Höfe, 1640 Seelen männlichen Geschlechts, 1570 Frauen, insgesamt 3210 Seelen beiderlei Geschlechts; lutherische Kirchen – 1; eine Lehranstalt; Poststation und Tuchfabrik – 2.
Laut Volkszählung der Selbstverwaltung im Jahre 1886 waren in Talowka, und auch in Bejdek, 496 Hausbesitzer, 2141 Seelen männlichen Geschlechts, 1976 Frauen, insgesamt 4117 Seelen beiderlei Geschlechts; sie waren Siedler und Eigentümer aus den Reihen der lutherischen Deutschen; außerdem waren 195 Familien ständig abwesend, eine Familie mit vier Seelen beiderlei Geschlechts lebte woanders; lesen und schreiben konnten 1175 Männer und 1080 Frauen. Es gab 537 Wohnhütten – 396 aus Stein, 138 aus Holz, 3 aus ungebrannten Lehmziegeln; 12 verfügten über ein Blechdach, 258 waren aus Baumstämmen errichtet, 254 aus Stroh, 13 aus Lehm. Produktionsstätten – 10, Schankstuben – 3, kleine Läden – 6. Den Siedlern gehörten laut Volkszählung: Pflüge – 439, Hakenpflüge – 2, Getreide-Mähmaschinen – 3, Mähmaschinen -1, Kornschwingen – 59, Dreschmaschinen – 3; Arbeits- und andere Pferde – 1800, Ochsen – 420, Kühe und Kälber – 1304, Schafe – 2551, Schweine – 1000, Ziegen – 694. An jährlichen Zahlungen und Verpflichtungen kamen 1985 von der Gemeinde 17751 Rubel; Einnahmen aus Zinszahlungen – 2448 Rubel. Gesamtbestand an Gemeindeland: 11072 Desjatinen geeignet (davon Ackerboden – 8225 Desjatinen) und 2206 Desjatinen ungeeignet, insgesamt 13278 Desjatinen. Die zugeteilten Ländereien befanden sich rings um die Siedlung, ebenso wie Weideflächen; drei Werst entfernt, in südöstlicher Richtung – Wald; zehn Werst weiter südlich – der Fluss Lesnoj Karamysch, an dem sich auf einer Länge von 8 Werst Wiesen, teilweise von Ackerland unterbrochen, befanden; in die Wiesen waren kleine Seen eingebettet. Südlich des Vorwerks, in einer Entfernung von 4 Werst befindet sich ein See inmitten der Ackerflächen – er hat einen Umfang von etwa 5 Werst, aber im Sommer trocknet er fast vollständig aus. Ungefähr die Hälfte der gepflügten Fläche besteht aus einer circa ¼ Arschin dicken Schwarzerde-Schicht, daran schließt sich ¼ Lehmboden an, der Rest ist salzhaltiger, sandiger und steiniger Boden; der Untergrund – rötlicher Ton. Die Gegend ist reich an Hügeln, Anhöhen und Schluchten mit schwierigen Zuwegen, und genau so verhält es sich auch mit der Bearbeitung der Böden. Ursprünglich wurde das Land auf die Familien aufgeteilt; es wurde zu gleichen Teilen nach der Qualität des Bodens und der Entfernung vom Vorwerk umgelegt; jede Familie durfte nur die ihr überlassenen Flächen umpflügen. Diese Art der Besitzverteilung fand bis zur 5. Revision statt; danach ging man zum Pro-Kopf-Besitz über; eine grundlegende Neuverteilung des Bodens wurde dann von Revision zu Revision vorgenommen; in der Zeit dazwischen, so etwa alle 3-5 Jahr gab es in Bezug auf die Bodenqualität Umverteilungen. 1880 erfolgte die erste Umverteilung des Bodens auf die vorhandenen 2350 männlichen Seelen, 1371 laut 10. Revision); bei der Aufteilung taten sich jeweils 20 Seelen für eine Auslosung zusammen. Der Wald wurde 1860 in 28 Reviere aufgeteilt, von denen jedes Jahr eines abgeholzt wurde; bewacht wurde er von zwei Feld- und Wald-Aufsehern; 4 Jahre zuvor (1883) hatte man einen Teil des Waldes auf den Lichtungen umgepflügt. Die in der Nähe des Gutes gelegen Stellen – Tennen und Gärten befinden sich im Hofbesitz und sind mit ¼ Kopeke pro Quadrat-Saschen belegt. An zwei Stellen gibt es Kohlfelder – direkt am Gut und in 10 Werst Entfernung bei Lesnoj Karamysch – auf urbarem Boden. 1887 zählte man bis zu 18 Gärten, aber später waren besondere Bestrebungen festzustellen, sie noch weiter auszudehnen. Im Dorf gab es 4 Brotläden. Vorherrschendes Getreide war – Weizen; die Roggenanbaufläche beträgt etwa 1/3 der Weizenfläche, Hafer – etwa 1/3 der Roggenfläche; Hirse, Gerste, Flachs, Hanf, Erbsen und Sonnenblumen werden in kleiner Menge angebaut. Die Felder werden nie gedüngt, lediglich auf den Kohlfeldern werden kleine Mengen Stallmist ausgebracht. Das Getreide verkaufen sie in der Kolonie Sosnowka (an der Wolga, 8 Werst, in nordwestlicher Richtung, von Talowka entfernt). Das Vieh weidet auf den brachliegenden Feldern, nachdem diese abgeerntet und gemäht sind, und auf den Stoppelfeldern; im Winter füttert man das Vieh mit Stroh, Spreu und einem Gemisch aus Spreu und Kleie. Heu wird im Winter in ganz kleinen Gaben lediglich an die Arbeitspferde verfüttert; man legt es bis zum Pflügen beiseite. Einige Hausherren pachteten (1887) von einem privaten Grundbesitzer Ackerland zu jeweils 5-8 Rubel für 1/40 Desjatine, etwas mehr für ein Sonnenblumenfeld, und von einem anderen im Landkreis Saratow – mit einer Bezahlung für den guten Boden in Höhe von 15 Rubel für 1/40 Desjatine; die Menge des gepachteten Bodens vergrößerte sich von Jahr zu Jahr. Etwa 25 Familien pachteten Land hinter der Wolga, im Gouvernement Samara – und zwar zu 3-6 Rubel für 1/40 Desjatine. Im Frühjahr, nach Abschluss der Feldarbeiten, beschäftigen sich, ebenso wie im Herbst, viele Leute mit Fuhrunternehmungen mit Pferden oder Ochsen; sie transportieren Mehl aus Schirokoje nach Sosnowka (40 Werst) – hzu jeweils 3-5 Kopeken das Pud, und von Sosnowka nach Kopen (50 Werst) und Balanda (100 Werst) bringen sie Holz zu je 10 Kopeken pro Werschok nach Kopen und 18-20 Kopeken bis nach Balanda. Der Gemeinde gehören zwei Wassermühlen am Fluss Karamysch, in denen Getreide zu Mehl gemahlen wird. Jede der beiden Mühlen verfügt über vier Mahlwerke. Einer der Mühlen ist für 1162 Rubel im Jahr verpachtet (der Pachtvertrag läuft über 12 Jahre), die andere wird von der Gemeinde genutzt, die dafür einen Müller eingestellt hat; früher war sie ebenfalls f+r 1016 Rubel pro Jahr verpachtet. Außerdem verpachtet die Gemeinde 5 Stellen als Mühlen, jede zu 15 Rubel jährlich; durch die Verpachtung von Boden nimmt die Gemeinde jedes Jahr 60 Rubel ein und durch Fischfang 9 Rubel. In der Ortschaft gibt es zwei schulen: eine (deutsche) Kirchengemeinde-Schule und eine genossenschaftliche – letztere existiert seit 1878, sie erhält finanzielle Mittel von der Selbstverwaltung, 32 Familien wirken an dieser schule mit, 1887 lernten dort 29 Jungen und 6 Mädchen; die beheizbare Räumlichkeit für die Schule kostet jährlich 30 Rubel. (Sammelwerk der Gouvernementsselbstverwaltung, B. XI, 1891). Laut Informationen des statistischen Gouvernementskomitees für das Jahr 1981 besaß die Kolonie Talowka, die 23 km von der Regierung des Amtsbezirks entfernt lag, 371 Höfe, 2961 männlichen Seelen, 2848 Frauen, insgesamt 5809 Seelen beiderlei Geschlechts. Nach Angaben der Sosnowsker Amtsbezirksregierung für das Jahr 1894 gibt es in der Kolonie Talowka, und auch in Bejdek: eine Kirche – aus Stein gebaut und mit einem Blechdach versehen; sie wurde 1846 geweiht; das Haus der Barmherzigkeit „Bethanien“, gegründet 1891, in dem bis zu 70 Menschen unterhalten werden – Gebrechliche und Waisenkinder, die sonst über keinerlei Existenzmittel verfügen; einen Gemeinde-Pastor; eine deutsche Kirchengemeinde-Schule – seit der Gründung der Siedlung; eine Genossenschaftsschule – seit 1878; eine Semstwo-Station mit 6 Pferden; eine Post- und Telegraphen-Abteilung. 1894 befanden sich hier 426 Höfe; die Gebäude der Siedler sind alle aus Holz, unbehauenem Stein und Ziegeln, der Großteil ist mit Stroh gedeckt, etwa 1/3 mit Stämmen und 8 der Steinhäuser mit Blech. Die Dorfsiedlung ist in Viertel aufgeteilt. Einwohner – 2944 männliche Seelen, 2853 Frauen, insgesamt 5797 Seelen beiderlei Geschlechts, Siedler-Eigentümer, Deutsche lutherischen Glaubens, die eine Gemeinde ausmachen und sich mit Getreideanbau und mit bis zu 100 Personen mit dem Weben feinen Baumwollgewebes beschäftigen. Das urbare, gut geeignete Gemeindeland umfasst 11071 Desjatinen und ist für die Dauer von 12 Jahren nach der Anzahl der vorhanden Männer aufgeteilt. Bis zur Amtsbezirksortschaft Ust-Solicha sind es 23 Werst, nach Pobotschnyj Umet -30, nach Saratow – 56 und nach Kamyschin – 123“.
1948 traf er am Wohnort im Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk, ein und wurde auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 unter Beobachtung durch eine Sonderkommandantur gestellt.
Wie man meinem Großvater Iwan und meiner Großmutter Katja (geb. am 5. August 1925; Geburtsort Ortschaft Saratow, Rynkosker Bezirk, Gebiet Petropawlowsk) begegnete – das ist heute schon ein Rätsel. Früher interessierten sich weder Kinder noch Enkel dafür, und sie selber kamen überhaupt nicht auf den Gedanken darüber zu reden. Jekaterina hatte bereits ihren Sohn Viktor (geb. 1941) von ihrem ersten Ehemann Wasilij, der an der Front fiel. Laut einer vorliegenden Bescheinigung traf Iwan Frieling also am Wohnort im Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk, ein und wurde unter Kommandantur-Aufsicht gestellt, aber in der Geburtsurkunde von Sohn Wladimir, geb. am 5. Mai 1949, ist als Geburtsort die Ortschaft Burgon im Artjomowsker Bezirk ausgewiesen. Ebenfalls ist es bis heute ein Rätsel geblieben, wie sie nach Burgon gerieten.
Ihre Beziehung ließen sie später registrieren, das war bereits 1950, aber Oma Katja behielt ihren Nachnamen Jewdokimowa; den Familiennamen ihres Mannes wollte sie nicht annehmen.
Am 18. Juni 1951 – das war bereits im Dorf Schalagino – wurden Zwillinge geboren, Valerij und Lidia. Beide waren sehr schwächlich. Lidia wog bei der Geburt nur wenig mehr als ein Kilogramm. Aber wie man sagt – wachsen Kinder nicht in Tagen, sondern in Jahren.
Am 20. Oktober 1954 wurde mein Großvater Iwan auf Grundlage eines Befehls des Ministeriums für innere Angelegenheiten vom 20. August 1954 aus der Sonderansiedlung freigelassen.
Am 31. Oktober wurde in Iwans und Jekaterinas Familie noch eine Tochter geboren – Sinaida (meine Mutter). Sie lebten ohne Trübsal, arbeiteten von Früh bis Spät und unterhielten eine ziemlich große Hofwirtschaft: Hühner, Gänse, Puten, Schweine und eine Kuh. Die Kinder halfen in Haus und Hof, die älteren gaben auf die jüngeren acht.
Bald darauf konnte Jekaterina wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr gehen (die Gelenke waren durch Polyarthritis geschädigt). Man versuchte sie zu behandeln, doch alles schien zwecklos. Mit Mamas Worten: „Wie ich mich jetzt erinnere, gehen wir durch den Wald, um Beeren zu suchen, und Pilze (der Wald war ganz in der Nähe, gleich hinter dem Gemüsegarten – und unser Haus war das zweite vom Dorfrand aus) – und die Mama nehmen wir auch mit, damit sie sich nicht langweilt und es für uns auch fröhlicher zugeht. Sie erzählte uns von Pilzen und Beeren, welche wie wachsen und wie man sie abreißen muss. Als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren, schoben wir die Mama (sie saß zur der Zeit im Rollstuhl) immer an einen Ameisenhügel heran, damit die Tierchen in ihre Beine bissen; es war wohl so, dass sie Erleichterung davon verspürte, und den Ameisen nützte es ebenfalls“.
1. Reihe – Oma Katja, ihre Schwester Jewdokia,
2. Reihe – Enkelin Jelena, Opa Iwan und Schwägerin Augustina
Die Kinder wuchsen heran, verließen das elterliche Haus, aber alle, außer Sinaida, blieben ihrer kleinen Heimat treu, lebten und arbeiteten im Dorf Schalagino. Viktor heiratete bevor er zur Armee kam, er brachte seine junge Frau ins elterliche Haus und trat dann selber den Armeedienst an. Doch die junge Frau konnte nicht bei den Eltern ihres Ehemannes wohnen, sie verließ das Haus, ohne Viktor eine Adresse zu hinterlassen. Als dieser aus der Armee zurückkehrte, heiratete er zum zweiten Mal, ein Mädchen namens Maria; die beiden bekamen zwei Söhne. Wladimir hatte seine zukünftige Frau während des Dienstes fürs Vaterland kennengelernt. Das war in der Stadt Saratow, und Augustina arbeitete dort auf dem Bau als Isolier-Arbeiterin. Noch dort wurde den beiden das erste Kind geboren – Tochter Jelena, welche sie im Alter von drei Monaten in Wladimirs Heimat brachten, sobald er den Militärdienst abgeleistet hatte. Außer Jelena wurden ihnen noch zwei Söhne geboren – Sergej und Pjotr. Auch Lida heiratete, bekam ihre erste Tochter, aber diese starb an einer Kinderkrankheit noch bevor sie ein Jahr alt war. Später bekamen sie noch Tochter Swetlana und Sohn Alexander. Aber lange blieb Lidia nicht mit ihrem ersten Ehemann zusammen, sie ließ sich scheiden. Die zweite Ehe ging sie mit Wasilij Lebedew ein und bekam mit ihm Sohn Andrej und Tochter Aljona. Es schien, als ob einem das Leben nur noch Freude brächte: zwei Söhne, zwei Töchter, aber 1989 ging Swetlana, als sie in einem Teich badete, plötzlich unter und ertrank. Zwei Jahre später ließ Lidia sich auch von Wasilij scheiden und blieb danach mit ihren drei Kindern allein. Sie wohnte gegenüber des Elternhauses in einer Wohnung der Sowchose, die auf vier Familien aufgeteilt war. Auch Wolodja wohnte anfangs gegenüber des Elternhauses, zog jedoch später in eine neue Wohnung um, welche die Sowchose ihm zuwies. Auch Viktor lebte mit seiner Familie im Dorf Schalagino, auf der anderen Straßenseite /das Dorf war klein und besaß nur eineinhalb Straßen). Valerij wollte noch vor dem Armeedienst heiraten, aber die Eltern erlaubten es ihm nicht. Später gründete er dann auch keine eigene Familie mehr, sondern blieb bei den Eltern. Sina (meine Mutter) heiratete einen Burschen namens Jurij aus dem Nachbardorf Arsapka, wohin sie dann auch umzog, um mit ihrem Mann zusammen zu leben. Am 1.Januar 1980 wurde Sohn Wladislaw geboren, am 29. Juni 1981 Sohn Iwan, fünf Jahre später Tochter Tatjana und 11 Jahre später Anna (das bin ich).
1986 zogen sie in die Ortschaft Wjerchnij Kuschebar um.
Oma Katja starb am 9. Oktober 1993. In der ersten Zeit blieb Großvater noch, zusammen mit Sohn Valerij, in dem Haus wohnen, aber 1997 zog er zu Sohn Wladimir und seiner Schwiegertochter Augustina; am 18. April 1998 starb Vladimir, und der Großvater lebte noch ein Jahr bei der Schwiegertochter. Danach kam er zu uns nach Wjerchnij Kuschebar und blieb dort bei seiner Tochter. Er half meiner Mutter, kümmerte sich um mich, freute sich, konnte sich nicht sattsehen. Er liebte mich sehr, sagte immer, ich sei seine Lieblingsenkelin. Es bedeutete großes Glück, dass ich zum richtigen Zeitpunkt geboren wurde – damit ihm sein eigenes Alter nicht so zu Bewusstsein kam. Und er meinte, dass ich nicht so wäre, wie alle anderen, nicht so verrückt. Ich war immer bemüht ihm nachzueifern, ich liebte ihn und bedauerte, dass er der einzige überlebende Großpapa war.
Es kam vor, dass der Großvater mir, wenn er irgendwo spazieren gegangen war (und
das kam vor), etwas Leckeres mitbrachte, weil ich doch sein Liebling war.
Er hatte auch eine Lieblingsbeschäftigung: mit seinem Schwiegersohn ging er
einmal die Woche auf Jagd; er meinte, dass er sich dort wunderbar von der ganzen
Alltagshektik erholen könne. Das Leben in Wjerchnij Kuschebar gefiel ihm nicht
sonderlich gut, weil es für ihn weder eine konkrete Beschäftigung noch Leute
gab, die er gut kannte – und arbeiten konnte er schon nicht mehr. Bald darauf
entschied er sich dafür in ein Altenheim umzuziehen: wie sehr wir auch
versuchten ihn zu überreden, er blieb beharrlich bei seiner Meinung – wie immer.
Aber ein halbes Jahr später kehrte er wieder zu uns zurück und wohnte dann noch
ein Jahr bei uns. Dann verließ er uns erneut; warum – das weiß niemand. Wir
schrieben Briefe, telefonierten miteinander, unterhielten uns mit ihm. Dann
brach die Verbindung plötzlich ab. Wir fuhren hin, um ihn zu besuchen, und waren
furchtbar erschrocken. Möge niemand so etwas erleben; nicht einmal sprechen kann
man darüber. Er erkannte uns nicht, doch später, nachdem wir ihm erklärt hatten,
wer wir waren, versuchte er aufzustehen, flehte uns an, wir sollten ihn zu uns
holen – aber leider war es bereits zu spät. Schmerzlich ist die Erinnerung
daran. Unter Tränen fuhren wir nach Hause. Dort hatten sie uns gesagt, dass er
sich nicht mehr lange quälen müsse – und dann kam der Moment. Am 29. Juni 2006
klingelte das Telefon und man teilte uns mit, dass mein Großvater gestorben war.
Wir begruben ihn neben seinen Söhnen und seiner Frau auf dem Dorf-Friedhof von
Schalagino. Am 18. April 2008 starb sein Sohn Valerij aus dem Grunde, weil
manche Menschen für andere einfach kein Mitgefühl haben. Der Mann hatte um Hilfe
gebeten, und die Leute hatten schlicht und ergreifend vergessen, seinem Vetter
bescheid zu sagen.
Das also ist die Geschichte unserer Familie. Genau wie bei allen anderen auch, gibt es Freud und Leid. Die Blutsverwandtschaft verpflichtet einen, und deswegen wird die Erinnerung an den Großvater, an alle anderen Verwandten, von denen ich erfuhr, immer mit mir sein, in meinem Herzen. Mit den Worten eines Gedichts von A.M. Morschnjow, meines Geschichtslehrers, will ich meine Arbeit beenden „Menschliche Schicksale, in Jahren vergessen…“.
Menschliche Schicksale, in Jahren verweht,
Unvergessen, nicht vernachlässigt.
Durch die Erinnerung wird es einem schwer ums Herz,
Ein feines Lächeln erhellt das Gesicht.
Die Jahre vergehen wie im Fluge,
Die Zeit-Substanz – sie eilt dahin.
Der Kreislauf des Lebens ist auffallend irdisch,
Der Beigeschmack der Ereignisse und lebendiger Geruch.
Der Wechsel der Epochen, des Jahrhunderts fließen schnell dahin,
In der Strenge der Zeit liegt keineswegs die Ewigkeit.
Im Kaleidoskop der schnellen Folge
Bleibt ein Platz für Traum-Gefühle.
Wir haben gelebt, geliebt, bisweilen gehasst,
Mit Unterbrechungen das Glück gesehen.
Blut haben wir vergossen – für Russland,
Kummer und Unglück wurden nicht niedergemäht.
Wir haben das Geschlecht fortgesetzt und heilig geglaubt:
Die Ansichten der Nachfahren werden unvoreingenommen sein.
Alles traditionsgemäß – Gedenken und Ehrgefühl,
Wo banale Botschaften ganz fehl am Platze sind.
Wir haben euch klar vor Augen, Großväter, Urgroßväter,
Hören die Legenden, die ihr uns mitgegeben habt.
Und es ist nicht schlimm, dass die Jahre so verweht sind,
Denn in Vergessenheit geraten sind sie nicht.
Juni 2012
Familien-Stammbaum von Iwan Augustowitsch Frieling und Jekaterina Petrowna Jewdokimowa