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Die Unsrigen – die Fremden


Autoren: Anastasia Prokopewa. Jelena Goloschtschapowa

Städtische Bildungseinrichtung
Karatussker Oberschule No. 2
Klasse 10 b

Leitung: Tatjana Michailowna Trubinowa – Geschichtslehrerin

Dezember 2006

Der Große Vaterländische Krieg (1941-1945) richtete großen Schaden an, verursachte unermeßliches Leid, nicht nur unter den Soldaten, sondern auch bei den einfachen Menschen.

Die ersten Kriegsmonate waren sehr schwierig. Hitlers Truppen strebten gen Moskau, viele Soldaten gerieten in Gefangenschaft, einUnzahl kam ums Leben, aber die Rußland-Deutschen, die bereits seit Jahrhunderten in der Republik der „Wolga-Deutschen“ lebten, wurden nicht zur Front einberufen. Die Vertreter der Staatsmacht hatten beschlossen, ihnen ein Anderes Los zukommen zu lassen.

Am 28. August 1941 unterzeichnete der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, M.I. Kalinin, das Dekret „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen“. Wie uns Elisabetha Augustowna Schwabenland und Alekasander Augustowitsch erzählten, „begann unsere Aussiedlung am 2. Juli 1941“.

Weshalb wurden sie bereits vor der Verabschiedung des Dekrets verschleppt? Vielleicht, weil die Sowjetmacht davor Angst hatte, daß die Rußland-Deutschen auf die Seite der Faschisten übertreten würden. „Aber wie hätten wir das wohl tun können? Wir sind doch Russen, wenn auch deutscher Abstammung. Unsere Vorfahren lebten bereits seit der Zeit Katharinas II. in Rußland“, sagt Elisabetha Augustowna.

„Wir lebten in dem Dorf Straub; dort gab es drei Kolchosen. Wir hatten eine große Wirtschaft, hatten unsere schönen Häuser, viel Haus- und Kleinvieh“, - erzählen Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch. „Die Eltern arbeiteten, und wir gingen zur Schule, aber der Krieg vertrieb uns in unbekannte Ferne“.

„Zum Packen gaben sie uns zwei Stunden Zeit. Kleidung nahmen wir nicht mit. Stattdessen eine Axt, das Gebetbuch und Essen für uns und die jüngeren Geschwister. Dem Vater gelang es noch, kurz vor der Abfahrt die Kuh abzugeben und das Federvieh zu füttern“. Wie konnten sie nur ein Volk aussiedeln und ihm zum Packen seiner Habseligkeiten nicht mehr als zwei Stunden zur Verfügung stellen. Schließlich hatten sie doch einen sehr weiten Weg vor sich.

„Am 15. September erreichten wir Abakan, von wo aus sie uns weiter nach Tscherepanowka schickten. Zusammen mit uns kamen noch wir weitere deutsche Familien dorthin: die Familien Schwabenland, Winter, Will (Wihl?) und Schefer (Schäfer?)“, - berichtet Elisabetha Augustowna.

„Unsere Familie wurde nachd er Ankunft in Abakan die Ortshcaft Nikolajewka zugewiesen“, sagt Aleksander Augustowitsch.

Insgesamt erreichten 1070 Personen unseren Bezirk (585 Frauen, 485 Männer). Aber wie konnte man sie an diesen neuen Ort umsiedeln, wo sie noch nicht einmal warme Kleidung oder eine Behausung besaßen? Das will uns einfach nicht in den Kopf. Und wenn nicht die Ortsansässigen dagewesen wären, dann wären die Umsiedler kurze Zeit später gestorben. Die Ortseinwohner halfen so gut sie konnten: sie spendeten Kleidung, stellten ein Häuschen zur Verfügung, gaben von ihrem Essen ab.

Aber warum hatten die Aussiedler so lange gebraucht, um nach Sibirien zu gelangen? Und vor allem – wie?

„Zuerst verfrachteten sie usn auf einen Lastkahn. Dann brachten sie uns an eine Bahnstation und hießen uns in Viehwaggons einsteigen. Wir waren schrecklich lange unterwegs, denn der Zug hielt sehr oft an. Manchmal standen wir tagelang auf irgendeinem Abstellgleis, und wir wollten ständig essen“, sagt Aleksander Augustowitsch.

Ja, es war ein schwieriger Weg. Elisabetha Augustownas kleine Schwester war gerade erst zwei Monate alt. Es war unwahrscheinlich, daß sie diese „Höllen“-Fahrt überleben würde.

„Das Leben in Sibirien gestaltete sich sehr schwer. Und im Dezember wurden auch noch alle Männer in die Arbeitsarmee geholt, und nur drei von ihnen kehrten später nach Tscherepanowka zurück, zwei weitere nach Nikolajewka. „Das war eine schwierige Zeit. Wir waren Kinder. Ich war gerade 12 Jahre alt, aber ich versuchte schon Arbeit zu finden, um mich selbst, Mama (schwerkrank) und die kleinen Geschwister zu ernähren. Die Aussichten standen schlecht, weil wir kein Russisch konnten. Ich bemühte mich, irgendwie unsere kleine Kate einzurichten, in der früher Arzneimittel aufbewahrt worden waren“, - erzählt Elisabetha Augustowna. Es ist verwunderlich, daß diese alte Frau bis heute mit Dankbarkeit an jene Ortsbewohner zurückdenkt, die ihnen halfen zu überleben.

Mit 13 Jahren durfte ich in der Kolchose arbeiten. Ich sollte Kühe melken, Hühner füttern und Schweine hüten. Bruder August ging mit 12 zum Arbeiten in die Kolchose. Nach einem halben Jahr gaben sie uns 10 kg Honig. Das war herrlich. Aber im Winter reichten weder Kleidung noch Essen. Den Brüdern nähte ich aus einem alten Teppich Oberhemden. Im Winter lief ich in geflochtenen Bastschuhen herum, sammelte gefrorene Beeren, grub eßbare Wurzeln aus“. Auch Aleksander Augustowitsch fand eine Arbeit in der Kolchose – als Pferdepfleger.

Die ganze Zeit standen die Deutschen „unter Kommandantur-Aufsicht“, hatten kein Recht sich zu Entfernen und mußten sich täglich einmal beim Kommandanten melden und registrieren lassen.

Eine Tatsache wundert uns: daß sie nämlich keinen Aufruhr anzetteln, daß sie sich nicht gegen die Sowjetmacht erhoben, sondern demütig und ohne zu murren ihrer Arbeit nachgingen,mohne die Sowjets zu verfluchen. Sehr lange brauchten sie, um die russische Sprache zu erlernen, und das vollzog sich auch hauptsächlich während der Arbeit.

„1953-1954 verlegten sie uns von Tscherpanowka nach Karatus. Und 1956 wurde die „Kommandantur“ abgeschafft. Wir brauchten uns nicht mehr regelmäßig melden. Aber zuvor ereignete sich folgender Zwischenfall. Ich hatte mich zu lange in der Kolchose aufgehalten, wir waren mit der Heumahd beschäftigt, und als ich zur Registrierung ging, dachte ich, sie würden mich festnehmen, denn ich sollte um 8 Uhr abends dort sein; als ich ankam, war es schon 10 Uhr. Aber alles ging ohne Unannehmlichkeiten ab“.

Wenngleich sie die „Kommandantur“ abschafften - das Leben trotzdem nicht einfacher. „Ich erinnere mich noch genau. Ich mußte für die Kühe unter dem Schnee Heu abmähen. Mutter starb. Wir bekamen eine neue Wohnung, aber man konnte sie nicht heizen. Wir bauten selbst einen Ofen aus Lehm und benutzten ihn als Heizung“.

Nachdem die Dekrete „Über das Recht auf Rehabilitierung“ verabschiedet worden waren, fühlten die Deutschen, wie der politische Druck nachließ. Aber die größte Ungerechtigkeit von Seiten der Sowjetmacht ist die, daß nur diejenigen für eine Rehabilitation anerkannt werden, die damals ihre Papiere mitnahmen, aber die meisten Deutschen taten das nicht – wozu auch? Man hätte sie ihnen ja sowieso irgendwann weggenommen.

Neue Ausweise wurden nach der Abschaffung der Kommandantur ausgeben, aber sie waren für eine Rehabilitationsersuchen nicht geeignet. „Früher als alle anderen aus unserer Familie wurde Bruder August rehabilitiert, denn er galt als vorbildlicher Traktorist in der Dimitrow-Kolchose. Wenn er auch keine vernünftige Schulbildung hatte, so schaffte er es doch, die Traktorenkurse zu beenden und Bestarbeiter zu werden. Er erhielt zahlreiche Medaillen für gute Arbeitsleistungen und sogar den Arbeitsorden des Roten Banners. Inzwischen ist er schon tot; er starb früh, denn er war völlig überarbeitet, aber Sibirien hat er geliebt, obwohl ihm die heimatliche Wolga immer im Gedächtnis geblieben ist. 1967 reiste ich sogar mit meinem Bruder durch das Land, um wenigstens durch das Zugfenster unsere heimatlichen Gefilde zu sehen, als wir durch das Gebiet Saratow fuhren.

Wir sind K.R. German (Hermann?) sehr dankbar für seine Hilfe beim Erhalt unserer Ausweispapiere. Er half den Deutschen Gesuche zu schreiben, damit sie wieder in ihre Rechte als Bürger der UdSSR zurückgesetzt wurden“.

Gegenwärtig besteht die Möglichkeit, wieder in die historische Heimat zurückzufahren. Wir stellten Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch diese Frage.

„Wir haben niemals danach gestrebt, nach Deutschland umzuziehen, denn unsere Heimat ligt hier, auf russischem Boden; immer denken wir an unser Dorf, an Straub, zurück, obwohl wir wissen, daß es zum Fundament für den großen Wolga-Stausee wurde. Ja, und es stimmt, du willst niemals in deine historische Heimat zurück, wenn du sie vorher gar nicht selbst gesehen hast. Du willst viel lieber dahin zurück, wo du geboren und aufgewachsen bist, dahin, wo sich deiner Meinung nach deine Heimat befindet. Im tiefsten inneren waren wir wütend über die Sowjetmacht; sie hätten uns nicht einfach aussiedeln dürfen, ohne Rechte, wie Tiere. Wir sind Menschen! Wir sind Russen, allerdings mit deutschen Wurzeln. Unsere Vorfahren lebten in Rußland, wir selbst sind in der UdSSR geboren - warum haben sie das mit uns gemacht? Die Ortsansässigen haben uns gut geholfen zu überleben“, - sagen Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch.

Ja, das finden wir auch. Mit Menschen so umzugehenist einfach unmenschlich. Zu jener Zeit,. als an der Spitze der Sowjetmacht Tyrannen standen, mußte das einfache Volk leiden. Sie hätten die Emotionen sehen müssen, mit denen Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch sich an die Ereignisse jener Tage erinnern. Dieser Anblick war nur schwer zu ertragen, und noch viel schwerer war es, ihnen zuzuhören. Man kann sich vorstellen, wie schwer es ihnen ums Herz war, das alles ins Gedächtnis zurückzurufen.

Ein schweres Leben hatten die Deutschen nach ihrer Umsiedlung.

Erstens konnte keiner von ihnen Russisch, man verständigte sich hauptsächlich durch Gesten, aber nach einiger Zeit begannen sie ein paar Worte zu sprechen und allmählich die Sprache zu erlernen. Meistens lernten sie während der Arbeit.

Zweitens gab es zu Beginn einige Unstimmigkeiten bezüglich Religion und Kultur. Alle Deutschen übten die katholische Religion aus, während die Russen griechisch-orthodoxen Glaubens waren. Daher gab es bei Feierlichkeiten des öfteren Schwierigkeiten.

„In dieser ganzen Zeit habe ich nicht ein einziges Mal das Gebetbuch aus der Hand gegeben, das mir Mama gegeben hat; ich las daraus den jüngeren Geschwistern vor. Obwohl ich nicht streng religiös bin, so bin ich doch bemüht, die Riten und Gebräuche einzuhalten, und die Feste feiere ich immer nach katholischer Art. So begehen wir beispielsweise Weihnachten am 25. Dezember und das Drei-Königs-Fest am 6. Januar“.

Die Beerdigungsbräuche unterscheiden sich: „Wir bedecken den Verstorbenen nicht mit einem Tuch und halten für ihn auch nicht an ganz bestimmten Tagen nach dem Tod Gedenkfeiern ab; und es gibt auch erst nach der Beerdigung ein warmes Essen und das alles. Die Hände des Toten werden auf dem Bauch gefaltet. Auch das Kreuz unterscheidet sich deutlich vom griechisch-orthodoxen und wird am Kopf plaziert. Es gibt keinen „Toten-Gedenktag“.

„ In den Jahren des Krieges wollten wir, daß die Russen den Sieg erringen“, - sagen Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch.

Viele Deutsche hatten bereits hier, im Bezirk Karatus, russische Frauen oder Männer geheiratet.

Es will uns einfach nicht in den Kopf, wie Menschen unter Bedingungen überleben konnten, wie die „Rußland-Deutschen“ sie vorfanden, und sie hegen noch nicht einmal Wut, Verbitterung oder Haß gegen die Sowjetmacht. Wie konnte ein zwei Monate altes Kindchen überleben? Als wir die Berichte von Elisabetha Augostowna und Aleksander Augustowna darüber hörten, wie sie abtransportiert wurden und wie sie überlebt haben, da kam sogar bei uns ein gewisser Haß auf die Staatsmacht auf. Wir fühlten, daß es ihnen sehr schwer fiel und schmerzlich für sie war, sich an all das zu erinnern und davon zu erzählern, was mit ihnen damals geschah, wenngleich sie von manchen Dingen sogar auf scherzhafte Weise sprachen. Wir begreifen die Sowjetmacht nicht; wie konnte sie die Menschen nur so behandeln? Es sind doch ebensolche Menschen wie die Russen. Vielleicht hätten wir noch ein gewisses Verständnis aufbringen können, wenn die Ausgesiedelten nicht gearbeitet oder rebelliert hätten, aber sie haben doch nicht schlechter als die Russen gearbeitet, möglicherweise sogar noch besser. Was mußten sie alles erleiden! Und auch andere Menschen begriffen nicht, wie schlecht es den Deutschen ging, sondern begegneten ihnen mit Mißtrauen und Hochmut. Und diese Menschen, die der Sprache nicht mächtig waren, die die Region nicht kannten, in die man sie gebracht hatte, fingen an zu arbeiten und der russischen Front zu helfen, nicht der deutschen, und sie wollten, daß die UdSSR den Sieg davon trug. Es ist sehr erstaunlich, daß die Kinder der Aussiedler, wie Elisabetha Augustowna, is heute ihre Volkstraditionen und ihren Glauben bewahrt haben und sich bemühen, diese auch an ihrer Abkömmlinge weiterzugeben. Wir denken, daß man es den russischen „Deutschen“ schuldig ist, ein für alle Mal mit dem Genozid aufzuhören. Heute sind nur noch wenige Rußland-Deutsche am Leben. Daher ist es sehr wichtig, daß die junge Generation sich intensiv mit diesem Problem befaßt und ihre Meinung zu den Tatsachen der Geschichte äußert, die für unsere Region und unseren Bezirk charakteristisch sind. Das ist unsere Geschichte.

Quellenangaben:

1. Artikel vonMarina Konstantinowa „Die Deutschen Umsiedler in den 40er und 50er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts“. Zeitung „Banner der Arbeit“, 2002.
2. Artikel von Tatjana Konstantinowa „Pominalnaja semljanika“. Zeitung „Banner der Arbeit“, 2006.
3. Artikel von Tatjana Konstantinowa „Die Truhe aus der kleinen Heimat“. Zeitung „Banner der Arbeit“, 2006.

Das Material basiert auf Interviews mit Elisabetha Augustowna und Aleksander Augustowitsch Schwabenland.

An dieser Arbeit mitgewirkt haben:

1. Anastasija Aleksandrowna Prokopewa: Bearbeitung der Interviews, Auswahl und Zusammenstellung der Informationen nach biographischen Gesichtspunkten, Druck des vorliegenden Materials, Verfassen des logischen Referat-Ablaufes.
2. Jelena Gennadewna Goloschtschapowa: Bearbeitung der Artikel, Auswahl und Zusammenstellung der Informationen nach biographischen Gesichtspunkten, Bereitstellung von Fotografien zum vorliegenden Thema.
3. Tatjana Michajlowna Trubinowa: Beratung, Hilfestellung bei der Durchführung der Interviews.


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