Agentur für Bildung der Krasnojarsker Regionalverwaltung
Bildungsbehörde der Verwaltung des Kansker Bezirks
Städtische Bildungseinrichtung „Braschensker allgemeinebildende Mittelschule“
Forschungsarbeit
Autorin: Ljudmila Pylenok, Schülerin der 11. Klasse
Wissenschaftliche Leitung: Tatjana Arkadjewna Rachmanowa, Lehrerin der Geographie
Ortschaft Braschnoje
2010
Einführung
Die Geschichte dreier Familien
I Fremde unter Ihresgleichen
II Familiengeschichten
III Schwere Kriegsjahre
IV Langersehnte Rehabilitation
Schlußbemerkungen
Durch dich verlor ich einst mein Vaterhaus.
Erbiedrigt mußt’ ich in die Welt hinaus...
Doch deiner Lieder traute Melodien
ließ leise ich in meine Seele ziehen.
(Erna Hummel „An meine Muttersprache“,
in der Übersetzung von Robert Weber)
Die Familien von Larisa Jakowlewna Pylenok, Iwan Abramowitsch Tews und Maja Georgiewna Lunjowa lebten viele Jahre in großer Angst: „... sie werden kommen und uns holen, und sie werden keine Erklärung abgeben ... Warum? Mit welchem Recht?“ Und all das nur, weil sie politisch Verfolgte und zur Umsiedlung Verdammte waren.
Lange Zeit lebten die Familien, die in jenen trostlosen Jahren im Dorf eingetroffen waren, in aller Stille. Sie hatten nur unmittelbar untereinander Kontakt und bildeten dabei ein Gefüge, als wären sie ein Ganzes, eine Einheit, und jeder half jedem. Nachdem ich die Familien in meinem Dorf eine Zeit lang beobachtet hatte, bemerkte ich, dass in anderen Familien, ganz im Gegensatz zu den deutschen, eine solche Geschlossenheit, gegenseitige Hilfsbereitschaft, Verständnis und Respekt nicht herrscht. Man muß hinzufügen, dass die eingetroffenen Familien alle äußerst fleißig, höflich und ausgesprochen gut erzogen waren: die Achtung vor den alten Leuten ging ihnen über alles. Die Kinder verhielten sich ehrfürchtig und mit großem Respekt gegenüber den erwachsenen Familienmitgliedern, die Eltern redeten sie mit „Sie“ an. Als ich darüber nachdachte, beschloß ich die Geschichte meiner Familie Pylenok und anderer Familien, wie die der Tews und Lunjowychs eingehender zu studieren.
Gegenstand meiner Forschungsarbeit wurden die Familien von Larisa Jakowlewna Pylenok, Iwan Abramowitsch Tews und Maja Lunjowa...
Hilfsmittel – Familienarchiv, der Artikel „Vom Winde verweht“, Materialien aus dem Schulmuseum „Arbeits- und Kriegsruhm“.
Ziel der Forschungsarbeit: das Aufzeigen der Besonderheiten der Rußland-Deutschen.
Aufgabenstellung:
1. Studium der Dokumente des Familienarchivs
2. Analyse derLebensbedingungen der drei Familien
3. Erklärung der Gründe für die „nicht erwiesene Schuld“
Während ich dabei war, mehr über die nationale Zusammensetung des Dorfes herauszufinden, sah ich, dass die Deutschen innerhalb der Dorfbevölkerung zahlenmäßig den dreitten Platz nach Russen und Ukrainern belegten. 1938/1939 – die Jahre, als auf dem Territorium des Kansker Bezirks das Kraslag geschaffen wurde. Es handelte sich um ein Holzfällerlager, in dem Bäume geschlagen und die Stämme dann abgeflößt wurden. Zu jener Zeit war Kansk eine „hölzerne“ Stadt. Holz wurde überall benötigt: bei der Eisenbahn (zur Herstellung der Schwellen), bei der Papierherstellung, bei der Produktion von Möbeln, auf dem Bau usw.
Die Arbeitsbedingungen beim Holzabflößen waren äußerst hart, deswegen wurden aus den „geplanten“ Umsiedlern auch „Zwangs“-Arbeiter für die Holzflößerei mit herangezogen, vor allem Deutsche.
Heute zählen die Höfe der drei Familien zu den besten im Dorf:, allein schon
wegen der gepflegte Vorgärten: im Sommer kann man nicht daran vorübergehen, ohne
seine Blicke auf die Vielfalt der Blumen zu richten. Diese Leute werden von den
anderen Dorfbewohnern hoch geachtet ... Aber kaum jemand weiß, was sie alles
durchmachen mußten. Ihrer Nationalität nach sind sie „Deutsche“; als sie zur
Schule kamen, redete man hinter ihrem Rücken oder sagte es ihnen auch mitten ins
Gesicht, dass sie Deutsche wären – aber was für Deutsche denn, wenn sie schon in
Rußland geboren waren, hier geheiratet und Kinder großgezogen hatten? Sie gaben
all ihre Kraft, ihre Gesundheit für den Dienst am russischen Staat. Und der
Staat blieb ihnen nichts schuldig: Larisa Jakowlewna Pylenok bekam die
„Mütterschafts“-Medaille verlieren; sie zog fünf Kinder groß. Alle fünf
erhielten eine gute Ausbildung. Der Jüngste – Wladimir Wladimirowitsch Pylenok,
ist Produktionsbestarbeiter, der beste Mähdrescherfahrer im landwirtschaftlichen
Unternehmen „Staatliche Kansker
Sortier- und Rangierstation“.
Iwan Abramowitsch Tews bekam die Medaille „Für heldenhafte Arbeit“ verliehen.
Auch er besaß eine kinderreiche Familie. Einer seiner Söhne blieb später im Dorf
– Jakob Iwanowitsch Tews. Ein geachteteter Dorfbewohner, Deputierter des
Dorfrates; seit einigen Jahren arbeitet er als Mechaniker in der ersten
Abteilung der „Staatlichen Kansker
Sortier- und Rangierstation“.
Maja Georgiewitscha Lunjowa hat zwei Söhne großgezogen: Wladimir und Oleg. Sie verhalf ihnen zu einer vernünftigen Ausbildung; beide arbeiten in Krasnojarsk in der Mähdrescherfabrik. Der Staat behandelte sie wie Ausgestoßene, bestrafte sie, bestrafte sie unverdient, ungerechtfertigt, aber das russische Volk nahm sie an, gab ihnen die Möglichkeit, an sich und die Zukunft ihrer Kinder zu glauben, nicht über alles und jeden in Zorn zu geraten, sondern die ihnen innewohnende Güte, Treue und Respekt gegenüber der Familie und ihren Fleiß zu bewahren.
Meine Großmutter heißt Larisa Jakowlewna Pylenok. Sie wurde 1952 in der Region Chabarowsk, in der Siedlung Ugolnaja Schachta (Kohleschacht; Anm. d. Übers.) geboren.
Die Urgroßmutter hieß Gerta (Herta) Friedrichowna Renz. Sie wurde in der Ukraine geboren. Mein Urgroßvater, Jakob Petrowitsch Braun, wurde in der Altai-Region geboren. Sein Nachname klang nur so, als ob er ein Deutscher wäre. Aber die Vorfahren meiner Familie waren Abkömmlinge aus Deutschland. Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde Rußlands Territorium im Süden der Ukraine erheblich ausgedehnt - dort, wo die Bevölkerungsdichte noch sehr gering war. Um diese Ländereien urbar zu machen, brachte Katharina II. ein Manifest heraus, in dem sie ausländische Staatsbürger dazu aufrief, sich in Rußland anzusiedeln, um dort die Güterproduktion voranzutreiben. In dem Manifest hieß es ferner, dass die ausländischen Bürger sich niederlassen konnten, wo sie wollten, dass sie von er Steuerzahlung befreit würdenuns sogar Privilegien zugesichert bekämen.
Auf diese Weise wurden auf dem Gebiet der West-Ukraine deutsche Siedlungen gegründet.
Meine Großmutter hat fünf Kinder, und von Kindesbeinen an lernten sie bereits, was Arbeiten bedeutet. Es waren gute und kluge Kinder, die vor sich eine Menge Ziele und Aufgaben sahen und danach strebten, einmal etwas Größeres zu erreichen.
Das Jahr 1941. Iwan Abramowitsch Tews lebte in der Amur-Region, ging zur Schule und wohnte im Internat. Am 15.November kam ein Auto auf den Schulhof gefahren; alle Schüler wurden zusammengerufen und man sagte ihnen, dass der Unterricht beendet sei und sie nach Hause gehen sollten. Und al sie zuhause ankamen, erwartete sie bereits die Neuigkeit – wir werden ausgesiedelt! Die Bewohner mehrerer Dörfer wurden in den Norden des Amur-Gebiets verschleppt, in den Selemdschansker Bezirk. Dort mußten sie Holz sägen, aber auch Gold im Bergwerk waschen. Irgendwie mußten sie überleben, und wenn sie heute daran denken, wie sie es taten – dann ist das eine schreckliche Erinnerung ...
In Braschnoje gründete Iwan Abramowitsch eine Familie; Kinder wurden geboren. Diese Kinder sind heute Menschen, die in ihrem Leben viel erreicht haben, sie werden von vielen Leuten geachtet und ein jeder kann sie sich nur zum Vorbild nehmen.
Maja Georgiewna Lunewa lam 1976 nach Braschnoje. Aus ihren Kinderjahren kann sie nichts besonderes erinnern. Sie weiß nur noch, dass die Dorfbewohner ewig mit dem Finger auf das kleine Mädchen zeigten, das von all dem nichts begriff, und tratschten, dass sie ein „Faschisten Sprößling“ wäre. Was sollte das, wo doch ihre Eltern und die älteren Geschwister schon so lange in Rußland lebten?
Während des Krieges fürchtete die Regierung, dass die Rußland-Deutschen sich auf die Seite der Eindringlinge stellen und gegen die Sowjetunion kämpfen könnten. Da begannen die Deportationen. Die Familie meines Urgroßvaters wurde zusammen mit anderen Familien auf Vieh-Waggons verladen und unter unmenschlichen Bedingungen ins ferne Sibirien abtransportiert.
Unterwegs mußten sie schreckliche Szenen beobachten. Die Familien, die von der Wolga kamen, fuhren besonders lange, sie litten unter furchtbarem Hunger und der strengen Kälte. Viele alte Leute und Kinder hielten nicht stand und starben; begraben wurden sie nicht – man warf sie einfach aus den Waggons. Im günstigsten Fall kam ein Konvoi-Soldat, um sich zu vergewissern: gibt es keine Toten? Wenn dies der Fall war, dann wurden sie an irgendeiner winzigen Bahnstation aus den Waggons herausgetragen, wobei man den Angehörigen noch nicht einmal die Erlaubnis erteilte, von ihnen Abschied zu nehmen.
In der ersten Zeit lebten sie in Erdhütten und Baracken, wo es ständig feucht und kalt war.
Die deutschen Familien lebten still und zurückgezogen. Sie wußten, dass die Deutschen nirgends gern gesehen waren, und demzufolge hängten sie ihre Nationalität auch nicht an die große Glocke. Sie waren bemüht, offiziell kein Deutsch mehr zu sprechen, sondern benutzten diese Sprache allenfalls noch im engsten Familienkreis.
Am schrecklichsten war es, wenn die Menschen vor Hunger starben. Die Frauen bemühten sich, wenigstens mit irgendwtas die hungrigen Mäuler ihrer Kindchen zu stopfen. Sie waren äußerst geschickte Handarbeiterinnen. An den langen Winterabenden strickten und häkelten sie große Tücher, Servietten, Tischdecken – und all das tauschten sie dann ein gegen Brot und Kartoffeln. Und die schon etwas erwachseneren Frauen standen an hölzernen Webstühlen, die sie mit ihren eigenen Händen zusammengebaut hatten, und webten Teppiche. Teppiche waren in Sibirien etwas Seltenes, Wundersames; die Sibirjaken wußten nicht, was sie damit anfangen sollten, bis manihnen zeigte, dass sie sie an die Wand hängen oder auf den Fußboden legen konnten.
Deutsche und russische Frauen säten, pflügten, hackten Holz, gebaren Kinder und zogen sie groß.
Meiner Ansicht nach lebten die Menschen für die Idee. Sie träumten ohne jede Ausnahme von der „lichten“ Zukunft. Aber hätte denn irgendjemand sich vorstellen können, dass nach dem Krieg so viele von ihnen auf eine Vielzahl größter Schwierigkeiten stoßen würde? Natürlich nicht. Erneut gab es Verhaftungen, setzte eine Welle der Unterdrückung ein.
IV. Die langersehnte Rehabilitation
Es kam der langersehnte Moment, dass die Familien von Larisa Jakowlewna Pylenok, Iwan Abramowitsch Tews und Maja Georgiewna Lunjowa rehabilitiert wurden. Aber in ihrer alte Heimat konnten sie schon nicht mehr zurückkehren – in all den Jahren war es ihnen gelungen ihr Dorf Braschnoje „liebzugewinnen“.
Zu der Zeit kannte man die Ortschaft bereits in fast ganz Rußland. Zwischen 1947 und 1991 waren mehreren Dutzend seiner Bewohner die unterschiedlichsten Regierungsauszeichnungen verliehen worden. 1973 lebten und arbeiteten auf dem Gebiet des Braschensker Dorfrats 22 Helden der sozialistischen Arbeit! Das hatte es früher nicht nur in der Geschichte des Dorfes Braschnoje noch nie gegeben, das war auch in keiner ländlichen Ortschaft der Region und wahrscheinlich wohl ganz Rußlands jemals zuvor vorgekommen.
Für die Verleihung von Regierungsauszeichnungen wurden auch Larisa Jakowlewna Pylenok, Iwan Adamowitsch Tews und Maja Georgiewna Lunjowa für würdig befunden.
1941-1942 wurden 134 Personen nach Braschnoje evakuiert; 63 Deutsche trafen allein im Verlauf des Oktober 1941 dort ein, die Kinder nicht mitgerechnet.
Heute stellen die Deutschen einen ziemlich großen Anteil der Bevölkerung von Braschnoje dar.
Nachdem ich die Geschichte der drei Familien eingehend studiert hatte, begriff ich eine Wahrheit: wie ein Mensch, der am eigenen Leibe alle Erschwernisse und Widrigkeiten des Lebens, wie sie dem russischen Volk zufielen, erfahren mußte, allein aufgrund der Tatsache, dass er einer anderen Nationalität angehörte, ein „Fremder“ war.
Wenngleich die Großväter und Urgroßväter ihr Leben lang „Fremde unter Ihresgleichen“ waren, können wir nicht wirklich nachempfinden, was sie durchgemacht haben. Wir führen ein ruhiges Leben und halten uns für Russen. Aber natürlich werden wir niemals vergessen, wer unsere Vorfahren waren und was sie alles miterleben mußten.