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„Mal genießend, mal betrübt folge ich dem geliebten Weg…“ Igor Mironowitsch Guberman

Autorin: Swetlana Olegowna Rudenko
Arbeitsstelle: Zentrale gemeinsame Siedlungsbibliothek „N.S. Ustinowitsch“ der Kommunalen Kultur-Einrichtung „Siedlungsbibliotheken-Vereinigung des Nischne8ingaschsker Bezirks.

 

In einem Land, in dem eine beliebige Macht, sei es die Macht eines Kollektivs auf niedriger Ebene, eine bürokratische auf mittlerem Niveau oder eine despotische auf der obersten Stufe, sich immer feindlich gegenüber freien Meinungsäußerungen gezeigt hat, welche den verabschiedeten Satzungen zuwiderliefen und sich überhaupt gegen die ureigene Natur dieser Macht selber richteten. Zudem konnte dies unter den Bedingungen der Repressionen der Dissidenten mit ihrem Ausdruck einer radikalen Opposition und alternativen politischen Konzepten, die vor dem Staat die Persönlichkeitsrechte verteidigte, einfach nicht spurlos an den breiten Massen der Gesellschaft vorübergehen. Unzufriedenheit und Missfallen traten zur Zeit der Sowjets auf unterschiedliche Weise in Erscheinung.

Die aktivsten Formen des Protests waren im Wesentlichen charakteristisch für die schöpferische Intelligenz.

Zu jener Zeit bekundete die wechselnde Spitze der politischen Macht von den ersten Tagen an ihre Entrüstung über das kulturelle Tauwetter. Im September 1965 wurden die Schriftsteller A. Sinjawskij und J. Daniel verhaftet, weil sie im Ausland unter Pseudonymen ihre Werke herausgebracht hatten, die anschließend in die Sowjetunion importiert wurden. Im Februar 1966 wurden sie zu mehreren Jahren Lagerhaft verurteilt. Es handelte sich dabei um den ersten öffentlichen politischen Prozess der poststalinistischen Periode. Er war als abschreckendes, warnendes Beispiel gedacht. Im Grunde genommen rief das eine Welle der Empörung unter den Schriftstellern und anderen Vertretern der Intelligenz hervor. Auch wenn es von keiner bedeutenden Resonanz begleitet war, brachten auch andere Gesellschaftsschichten ihren Protest zum Ausdruck, unter ihnen auch das sowjetische Judentum.

1979 wurde I. Guberman verhaftet und zu fünf Jahren Freihei9tsentzug verurteilt. Damals verurteilten sie ihn wegen des Ankaufs gestohlener Ikonen. Obwohl alle verstanden, was der wahre Grund war: er war Jude.

- Ich erinnere mich, wie sie mich zum KGB bestellten und mir anboten, den Hauptredakteur der Zeitschrift „Die Juden in der UdSSR“, mit dem ich damals zusammenarbeitete, ins Gefängnis zu bringen – oder mich selber einzusperren. Eine Wahl gab es für mich nicht, – erzählte Igor Guberman bei einer der Begegnungen mit begeisterten Anhängern seines Werks.
- Sogleich fanden sie Kriminelle, die bewiesen, dass ich bei ihnen fünf offenkundig entwendete Ikonen gekauft hatte. Aber da sie diese bei der Durchsuchung bei mir nicht fanden, was wohl auch verständlich ist, verurteilten sie mich auch noch wegen des Weiterverkaufs dieses Diebesguts. Insgesamt hatte ich maximal eineinhalb Jahre zu erwarten. Doch die Richterin räumte ein, dass ich volle fünf Jahre absitzen würde, weil dem Direktor des Museums in Dmitrowo meine Ikonen-Sammlung so gut gefiel. Und konfiszieren könne sie die nur, indem sie mir eine so hohe Strafe verpasse.

Lange hatte er gebraucht, um diese Kollektion zusammenzustellen. Und denkwürdig war die Tatsache, dass ein Großteil davon aus Gaben bestand, die er von lieben und ihm nahestehenden Menschen erhalten hatte. Sie verurteilten ihn. Die Jahre, in denen er seine Strafe absaß, können keineswegs als leichte Jahre bezeichnet werden. Aber es gibt etwas, worüber er immer dankbar geblieben ist…

Igor Mironowitsch Guberman wurde am 7. Juli 1936 in einer nicht gerade wohlhabenden Familie geboren. Die Mutter hatte das Konservatorium und das juristische Institut absolviert, konnte ihre Talente jedoch nicht in die Realität umsetzen. Schon früh hängte sie ihren Beruf als Beraterin in Rechtsfragen an den Nagel, und somit lag die ganze Last der materiellen Verantwortung auf den Schultern des Vaters. Der Vater, der jüdischer Herkunft war, arbeitete, wie die Mehrheit der Juden in der damaligen Zeit, als Wirtschaftsexperte.

Später äußert sich Igor mit besonderer Dankbarkeit über seine Mutter. Sie förderte seine Entwicklung in vielerlei Hinsicht. Ihr hat Igor es zu verdanken, dass er bereits in frühen Jahren seine Liebe zum Lesen entdeckte und ein guter Schüler wurde. Erst nachdem er sein Studium am Institut aufgenommen hatte, wurde er, wie man heute sagen würde, ein „Vagabund“.

Das Moskauer Institut für Ingenieure im Eisenbahn-Transportwesen, an dem viele Juden ohne Beschränkungen ihr Studium antraten, nahm auch Guberman in seine Reihen auf. Als Spezialbereich wählte er „Elektro-Ingenieur“ und arbeitete in diesem Beruf nach Abschluss des Studiums viele Jahre. Und während seiner Studienzeit beginnt er ein aktives Leben im Bereich der Literaturwissenschaften zu führen.

Ende der 1950er Jahre lernt er A. Ginsburg, der eine der ersten Zeitschriften im Selbstverlag – „Syntax“ – herausbringt, sowie eine Reihe anderer freiheitsliebender Philosophen, Literaten und darstellenden Künstler kennen. Jede dritte Ausgabe der Zeitschrift - Gedichte Leningrader Poeten, darunter auch Verse des damals noch fast unbekannten J. Brodskij – war anhand von Materialien zusammengestellt, die Guberman von seinen Dienstreisen in die nördliche Hauptstadt geschickt hatte. Er schrieb auch das Vorwort zur vierten Ausgabe, die wegen Ginsburgs Verhaftung nicht veröffentlicht wurde; darin wurde eine Menge über den jungen, talentierten Künstler Igor Schibatschew geschrieben.

Die Arbeit mit seinen literarischen Aktivitäten verbindend, schreibt er gemeinverständliche und dokumentarische Bücher sowie Drehbücher für Dokumentarfilme. Und vieles andere mehr. So handelt eines der Bücher von der Arbeit des Gehirns in der zeitgenössischen Psychiatrie „Wunder und Tragödien des schwarzen Kastens“. Ein weiteres Buch, das nicht weniger Popularität erreichte „Bechterew. Seiten des Lebens“.

Und zu der Zeit fangen sie an, im „Samisdat“ („Selbstverlag“; Anm. d. Übers.) Gubermans Gedicht-Miniaturen zu verbreiten, die später die Bezeichnung „Gariks“ erhalten (Garik – so wurde Igor Mironowitsch zu Hause genannt). Insbesondere aus dem Zyklus „Die Führer sind uns doppelt teuer, / Wenn sie bereits an der Wand stehen, einschließlich einem Dutzend Vierzeiler. (Der Anführer war Geist und stimme der Menge, / in ihm verwirklichte sich die Mehrheit; / er war eine große Null, / weshalb er auch zur Gottheit wurde; Mein Vaterland – ich liebe es. Und wer weiß es jetzt nicht, / dass wahre Liebe mit Qual und Leid geschwängert ist? / Und die Heimat verändert mich großzügig / mit ihren Schweinehunden, Halunken und Miststücken).

1970 ist Guberman aktiver Mitarbeiter und Autor der im Selbstverlag herausgebrachten Zeitschrift „Die Juden in der UdSSR“. Die Macher dieser Zeitschrift (man nannte sie „Kulturniks“), sahen ihre Aufgabe in der Verbreitung von Kenntnissen über Religion, Geschichte und Sprache ihres Volkes unter den Juden; die Frage der Emigration hielten sie für ein persönliches Problem eines jeden.

1978 wurden die von Hand zu Hand weitergereichten „Gariks“ gesammelt und ein separates Buch herausgegeben. Und 1979 wurde Guberman verhaftet und zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt, obwohl die Zeitschrift „Die Juden in der UdSSR“ schon im Jahr 1978 nicht mehr herausgegeben wurde. In dem Wunsch, einen weiteren politischen Prozess zu vermeiden, „schusterten“ die Behörden Guberman einen Strafrechts-Paragraphen zu. Die Region Krasnojarsk, Nischneingaschsker Bezirk, an der Grenze zum Irkutsker Gebiet ist ein echter Mittelpunkt Sibiriens. Die Siedlung Wjerchnaja Tuguscha – für die Eisenbahn die Station Chairjusowka - liegt an der Trasse der einst bedeutenden Komsomolzen-Bauprojekts Abakan – Taischet. Dorthin also schickte man den völlig unschuldigen I. Guberman zur Strafverbüßung.

Am 5. Februar 1938 entstand aufgrund des Befehls N° 20 des NKWD der UdSSR das Krasnojarsker Umerziehungs- und Arbeitslager (Kraslag). Seine industrielle Hauptbestimmung war die Holzbeschaffung und Verarbeitung von Nutzholz (die Herstellung von Bahnschwellen, Skiern, Möbeln, den Bau von Holztransportwegen) und anderen Arbeiten. Ursprünglich befand sich die Verwaltung des Kraslag in Kansk. Je nach Holzeinschlag wurden die Lagerabteilungern in östliche Richtung verlagert, bis man an die Grenze zum Irkutsker Gebiets gelangte. So wurde die Kraslag-Verwaltung in die Siedlung Reschoty im Nischneingaschsker Bezirk verlegt. Zu seinem Bestand gehörten die in Wjerchnaja Tuguscha, Nischnij Ingach, Reschoty und der Siedlung Tilitschet gelegenen Umerziehungs- und Arbeitslager.

„Es handelt sich um ein Lager mit allgemeiner Haftordnung, der schwächsten – für diejenigen, die zum ersten Mal einsaßen. Manch einer sitzt dort auch schon zum zweiten oder dritten Mal, wenn das Gericht sein Verbrechen für nicht allzu schwerwiegend befunden hatte; und deswegen war er hier untergebracht, und nicht in einer Haftanstalt mit verschärftem oder strengem Regime. Nur ist in Wirklichkeit das allgemeine Regime am schwersten zu ertragen, während man es unter strengen Haftbedingungen leichter hat. Das haben sie mir schon vor langer Zeit erklärt. Weil sich nämlich unter allgemeinem Regime Ro0tzlöffel, aggressive und noch gänzlich „grünes“ Jungvieh befindet.. Die hochgewachsenen und gesunden Bewohner im Alter von 18 bis 20 Jahren und ein bisschen mehr – waren im vollen Sinne des Wortes noch keineswegs vollwertige Menschen. „Männer“, wie Igor Mironowitsch in seinem Tagebuch notierte, das er während seiner Strafverbüßung führte und das später aus dem Lager herausgeschafft und veröffentlicht wird. Dieses Buch wird den Titel „Spaziergänge um die Baracke“ tragen, und in seinem Inhalt geht es um nicht mehr, als die Zeit, die er im Lager verbrachte.

„Zum Sommer hin kam ich dem Lager näher, nach dem ich schon fast zwei Monate unterwegs war. Im Hochsommer trafen wir dann endlich in der Lagerzone ein. Und als sie uns aus dem Waggon aussteigen ließen, empfanden wir den Duft der vielen sibirischen Gräser als so schwer und wohlriechend, von der ersten Sekunde an derart betäubend, dass wir uns einfach hinkauerten, und ich war von dem Geruch fast betrunken und glücklich wie ein Dummkopf“ – meinte Igor. Aber trotzdem ist das nur ein kleiner Anteil der aufrichtig wahren Gefühle, die in den Erinnerungen an dieses abgeschiedene Fleckchen Erde verblieben sind. Etwas später schreibt er in seinem Buch etwas anderes.

„… eine Menge authentisch schreckliches könnte diese sumpfige Erde berichten (und das Lager selbst ist mitten in einem Sumpfgebiet gelegen), doch die Erde schweigt. Auch unsere Insel aus Hobelspänen, die sich inmitten eines Sumpfes befindet, schweigt, und auch der Sumpf selbst, der gleich hinter dem Stacheldrahtzaun beginnt“.

Dieser Ort war tatsächlich von einem Zaun umgeben. In der Mitte lag der sogenannte Platz. Die Baracken verliefen seitlich: neue, steinerne, zweigeschossige. Jede Baracke war von einem Zaun eingegrenzt und dadurch auch von den anderen Baracken abgetrennt, - „damit die Häftlinge nicht unnütz durchs Lager liefen, sondern in ihren Pferchen sitzenblieben. Das waren die sogenannten Lokalki (Areale, die eine einzelne oder ganze Gruppen von Baracken innerhalb einer Lagerzone umgaben; Anm. d. Übers.) – jeder Trupp sollte für sich leben, denn je isolierter wir hier gehalten werden, um so zuverlässiger geht es mit der Disziplin zu“. Für deren Missachtung war eine Bestrafung vorgesehen, sofern man jemanden in einer fremden Baracke antraf. Dazu gab es den Isolator. In dieser Isolierzelle gab es wenig Angenehmes. Und trotzdem gingen einige. „Auf einem fremden Hof schaut man den Ankömmling schief von der Seite an. Interessant ist sogar, dass eine Äußerung in der Art „eingetroffene Gans“ und „der Passagier ist nicht von hier“ in Erzählungen und Geschichten nicht einfach nur als Bezeichnungen für einen Fremdling dienen, sondern für einen offensichtlich schon vom Schicksal gezeichneten Menschen – der schon bald Raub, Prügeln und einer lästigen, keineswegs wohlwollend gemeinten Aufmerksamkeit ausgesetzt sein wird“ – erklärte Igor. Ein Stückchen weiter, hinter dem Zaun, konnte man den Friedhof sehen. Nicht alle kehrten nach Hause zurück – viele starben. Keinerlei äußere Merkmale ließen auf das Vorhandensein eines Friedhofs an dieser Stelle schließen. Traditionell wurde er mit der Nummer des letzten Trupps benannt – „früher gab es hier sieben Trupps, und so nannte man ihn den Achten, aber nach dem Eintreffen unserer Etappe stellten sie die achte Einheit auf und nannten den Friedhof unverzüglich den Neunten“.

„Nein, es dauerte ein wenig, bis ich mich hier eingelebt hatte. Es gab vieles, was mich nicht nur erschreckte und beugte, sondern mich auch schon bald bis zur Verzweiflung und Schwermut zerrüttete“, - konstatiert Igor in seinem Roman traurig. Denn die Satzung und Ordnung, nach der der ganze Trupp lebte, passte nicht in seine Vorstellungen von den gegenseitige Beziehungen unter Bürgern, Menschen, Freunden. Ein paar Monate zuvor hätte er nicht einmal über Geben oder Nichtgeben, Bewirten, Teilen oder Nichtteilen nachgedacht… Und jetzt?

Seine ganz Aufmerksamkeit galt einmal dem Tabak. „Tabak verwandelte sich in ein gewisses Kleinod, um das sich die Leute versammelten, sich zu Freunden erklärten und Kontakte bewertet wurden. Nackter und unverhüllter Eigennutz – nicht auf Gold basierend, sondern auf Tabak! – nistete sich in unsere Beziehungen ein“.

Sehr lange zog sich jener Tag in die Länge, an dem er darüber nachdachte, wie er sich hier künftig weiter verhalten sollte und wie sich der Verstand, der ihm eine gewisse Grobheit und Zurückhaltung diktierte, mit Herz und Gewissen vereinbaren ließen.

Die Fähigkeit sich anzupassen förderte die Kommunikation untereinander. Aber nicht bei allen Dingen. „… ihre Gespräche, Hänseleien, Streitereien, denn es war schon lange bemerkt und gesagt worden, dass sich ein Mensch ohne seine gewohnte Umgebung unentwegt in einen Freitag (Anspielung auf eine Gestalt bei Robinson Crusoe; Anm. d. Übers.) verwandelt. Ich verfügte über dieses Umfeld“.

Einmal führte einer der erfahrenen Häftlinge eine ziemlich lehrreiches Gespräch.

- Die alten Jungs, die schon in den Lagern gesessen haben, können die Menschen durch und durch voneinander unterscheiden – das wirst du noch lernen. Aber einstweilen bist du, trotz deiner fünfjährigen Haftstrafe, deiner grauen Haare und deiner gehobenen Bildung, noch naiv wie ein junger Hund. Wahrscheinlich wirst du dich im Lager einleben. Vor einem aber will ich dich gleich warnen, wenn ich schon einmal mit dir rede. Du leidest an einer Krankheit, die sogar im freien Leben äußerst selten vorkommt – zu bist zu allen viel zu gut. Und innerhalb der Lagerzone ist das nicht einfach nur dumm, sondern gefährlich. Gutes darf man nur im Falle absoluter Notwendigkeit tun, aber tu es nach Möglichkeit – niemals. Sie geben dir dafür nichts Gutes zurück, bestenfalls – gar nichts. Aber meistens bezahlen sie dich dafür mit Bösem. Es kommt ganz von selbst und taucht wie aus dem Nichts auf…

Das war allen Einsitzenden klar, auch Guberman, doch irgendwie ließ sich all das nicht in sein Leben einfügen. Ihm passierte so etwas nicht. Es wurde ihn nicht nur einmal gelehrt. Schwer war es sich einzugewöhnen, aber mit der Zeit kam alles an seinen Platz. Das täglich Leben wurde zur Gewohnheit. Nur manchmal entstanden Situationen mit gruseligen Szenen. Hauptsächlich handelte es sich dabei um die Zähmung von Gefangenen, und es spielte keine Rolle, wer das war. Jeder konnte in eine ähnliche Lage geraten. Es war keine Seltenheit, wenn Leute sich nach dem nächsten Rennen (dies hatte nichts mit einem gewöhnlichen Rennen gemeinsam; in der Umgangssprache bedeutete es „sich aussprechen“, alles zu sagen, was sich angesammelt hatte), in Schweigen hüllten und sich abschotteten.

„… du kannst genau sehen, wie ausdruckslos der Mensch wird, wie er in sich geht. Kontakten geht er aus dem Weg, beteiligt sich nicht an Gesprächen, strebt unverhüllt danach, mit sich allein zu sein. (Was innerhalb des Lagers sowieso schon schwierig ist, so dass dich der andauernde Versuch sich zurückzuziehen, hochgradig ermüdet; besonders wenn man es gewohnt ist, möchte man doch wenigstens ab und zu ein wenig allein sein). Der Mensch denkt, schwer und beharrlich, erlebt etwas, macht etwas durch, begreift, quält sich, findet keinen Platz für sich, wird schwermütig und grämt sich. Er weicht allen aus, huscht trübsinnig umher oder liegt herum, lenkt den Blick in die Ferne, sieht jedoch nichts, und des scheint ganz so, als ob er auch nichts hört“.

Es war nicht viel zu tun, und Zwangsarbeit gab es auch nicht. Die Überbelegung des Lagers zu jener Zeit machte sich bemerkbar: der Industriesektor konnte nicht allen einen Arbeitsplatz garantieren. Und deswegen wurde viel geredet. Es herrschte Langeweile. Lediglich das, was er schreiben konnte, auch wenn dies in aller Heimlichkeit geschah, gab ihm das Gefühl etwas zu tun. „Ich schrieb in der Zelle auf Papierfetzen. Da sie mich zu den Verhören zerrten, wurden diese Fetzen von der gesamten Zelle in Verwahrung genommen – in Stiefeln, Halbschuhen, …“.

Es wird die Zeit kommen, dass man ihn heraus ruft, um zu entscheiden, ob er seine Freilassung verdient oder nicht.

„An die Gesichter der Kommission kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war viel zu aufgeregt, als ich Meldung machen sollte, welcher Gefangene ich war, aus welcher Einheit, welchen Paragraphen ich hatte und dass ich zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Ich sah lediglich den grauhaarigen Vorsitzenden in Zivilkleidung, neben ihm eine ältere Frau in Uniform - mit den Schulterstücken eines Oberstleutnants, und dann bekam ich noch aus dem Augenwinkel mit, dass auch ein Leutnant der Einsatztruppe, der Sicherheitsoffizier im Lager, höchstpersönlich ebenfalls anwesend war… Der Grauhaarige blätterte einige Minuten in meiner Akte herum, fragte den neuen stellvertretenden politischen Leiter, ob mir gar keine Verletzungen der Lagerordnung angekreidet worden wären und sah mich dann (Gott sei Dank!) wohlwollend an. Die anderen hoben noch nicht einmal ihre Köpfe; sie waren mit irgendwelchen Papieren beschäftigt und schrieben und schrieben; offensichtlich mussten sie irgendwelche Dokumente fertig machen – und dabei war es schon längst Zeit, um etwas zu essen und zu trinken.

Die Frau Oberstleutnant fürchtete ich auch aus irgendeinem Grund; deswegen sah ich sie an, aber auch sie riss hob den Blick nicht von ihren Papieren“.

- Sie werden freigelassen, - sagte der Grauhaarige. – Zum Aufbau der Volkswirtschaft. Sie können gehen. – An den Rest des Tages konnte er sich nicht mehr gut erinnern.

Nach der Freilassung konnte er das Buch „Spazierging durch die Baracke“ veröffentlichen, von dem ich weiter oben erzählt habe. Im Wesentlichen ging es darin um die Geschichte des Menschen, der es versteht genau dort ein Mensch zu bleiben, wo Demütigung, Angst und Trübsinn den Menschen eigentlich zu Vieh erniedrigen.

Konnte er jetzt glauben, dass es jenes Dorf schon nicht mehr gab?

Es war noch nicht so viel Zeit vergangen – da erinnerte das Dorf einen nur noch an ein paar Ruinen. Erst vor weinigen Jahren verließen es die letzten Einwohner. Waldbrände verwandelten das einst bemerkenswerte Dorf in einen Haufen Asche und verfallene Überreste von Wohnhäusern.

- Ich lebte dort, - sagt N.I. Prudnikow, einer der aus Tuguschinsker Erde gebürtigen Männer – und soweit ich weiß, lebten die Menschen gerne dort. Einst arbeitete man hier und zog die neue Generation groß. Die Straßen waren gut, die Häuser gepflegt; es gab eine Schule, ein Kontor, eine Schmiede… Im Großen und Ganzen lebte man dort nicht schlecht. In einiger Entfernung befand sich die Lagerzone, umgeben von einem Zaun. Dort arbeitete ich. Dort gab es nichts Interessantes für einen gewöhnlichen Spießbürger. Daran, dass dort heute berühmte Leute ihre Strafe verbüßten, gibt es nichts Besonderes. Zur damaligen Zeit saßen viele … und viele für nichts und wieder nichts.

Ich glaube das hätte ihn verwundert.

Igors Werk hatte, ebenso wie das Leben, Fortbestand. Er schrieb Romane, Drehbücher zu Dokumentarfilmen und Verse unter dem Titel „Gariki“.

- Ich schrieb den Roman „Striche zum Porträt“. Ich wollte auch noch über die Gefangenen der Stalin-Ära schreiben. Und dann sammelten wir uns zur abfahrt… Ich hatte das Empfinden, dass der Herrgott uns vorschlägt, ein anderes Leben zu leben. Wir fuhren keinesfalls aus zionistischen Beweggründen fort. 1988 „half“ man mir ein weiteres Mal. Meine Frau und ich waren beim OWIR (Abteilung für Visa- und Passangelegenheiten; Anm. d. Übers.) – die Gedichtchen waren schon ziemlich weit verbreitet, - und die weibliche Beamtin sagte, dass das Innenministerium den Beschluss über unsere Ausreise getroffen hatte.

Es schien nach all den erlebten Jahren im Lande, mit der besonderen Haltung gegenüber den Juden, dass es nichts Besseres geben könnte, als dorthin auszureisen, wo du deine Anerkennung findest. Doch uns standen noch zahlreiche Schwierigkeiten bevor.

-Als wir in Israel eintrafen, war es, als ob wir ins kalte Wasser gesprungen wären. Ich war bereit, jede beliebige Arbeit anzunehmen! Ich bin ein ganz miserabler Ingenieur. Dass ich später hunderte Leser haben würde, konnte ich nicht vermuten. Der Emigrantenzustand ist – ein sehr ausgewogener.

Jahre später bleiben nur noch die Erinnerungen. Und selbst die schwermütigsten Zeiten erfreuten einen. Das liegt an der Erfahrung: der Erfahrung des Alltags, die einem eine kolossale Abhärtung für die Zukunft verleiht.

- Das war eine bemerkenswerte Zeit! Ich bin der Sowjetmacht dankbar dafür, dass sie mich meine Strafe absitzen ließ. Ich begegnete einer Menge interessanter Leute! Ich schrieb zwei Bücher! Allerdings schrieb ich sie in aller Heimlichkeit. Russland ist für mich genauso Heimat wie Israel! In meiner zerrissenen Seele bin ich an beide Länder gebunden, - rief Igor bei einer der Begegnungen mit Kennern seines Werks aus.

In Israel veröffentlicht er den Roman „Striche zum Porträt“. (Die Erstausgabe in Russland erfolgt – 1994). Sein Hauptheld ist der Journalist Ilja Rubin (die Gestalt ist ganz offenkundig autobiografischer Natur), der Material für ein Buch über Nikolj Aleksandrowitsch Bruni sammelt – einem Splitter des „silbernen Jahrhunderts“, einem Renaissance-begabten Mann, der 1938 in einem der sibirischen Lager erschossen wurde. Im Umgang mit seinen Altersgenossen, von denen die meisten solche wie er sind, die ebenfalls Lagerhaft und Verbannung durchgemacht haben, schafft Rubin (das heißt Guberman) ein breites historisches Gemälde vom Beginn des 20.Jahrhunderts bis hin zur Mitte der 1970er Jahre, als Rubin selbst bereits unter die Räder der Straf-Maschinerie gerät.

Und schon 1996 kommen in Jerusalem seine Memoiren „Ältere Notizen“ heraus. Ein Buch über Erinnerungen an die Kindheit und Jugend und erneut – über die Jahre, die er im Lager und in der Verbannung verbrachte, über Menschen, mit denen das Schicksal ihn zusammenführte: bekannte wie D. Samoilow, M. Swetlow, S. Gerdt, weniger bekannte wie die Künstler A. Okun und O. Turowskij, der Mathematiker M. Desa und viele ganz und gar unbekannte, die dem Autor jedoch auf irgendeine Weise in (guter oder schlechter) Erinnerung geblieben waren.

Dieses Thema setzt er in seinem „Buch der langen Reise“ (Jerusalem, 2001) fort. Wieder handelt es vom Leben in Russland, von Menschen, die sich auf ihrem Lebensweg begegnet sind, aber diesmal handelt es sich ausschließlich um „einfache“ Leute (aber jeder von ihnen verfügt über das „gewisse Etwas“) Und die Lebensphilosophie ist hier genau dieselbe, wie wir sie in allen Werken Gubermans finden.- „Mit kalter und ruhiger Ehrerbietung verhalte ich mich gegenüber den Menschen, die sich beeilen und anstrengen, die etwas rechtzeitig schaffen und erreichen, die aufsteigen und etwas bekommen wollen… Sie wollen das und gebe es ihnen Gott. Aber ich möchte das alles nicht einmal umsonst haben“.

Egal wie interessant Gubermans Prosa auch sein mag, auf jeden Fall aber haben ihm die „Gariks“ Ruhm gebracht. Das förderte in nicht geringer Weise sein Auftreten – „in Konzertsälen und Sporthallen, in Kinotheatern und Cafés, Restaurants und Konservatorien, Schulen und Instituten, Theatern und Synagogen, in christlichen Kirchen ganz unterschiedlicher Richtungen (wenn es keinen Abendgottesdienst gibt), in Altersheimen und Jugendclubs, in Sitzungs- und Museumssälen … zuerst in Israel, später in Amerika, Russland, Deutschland…“. Die Zahl der „Gariks“ stieg auf über fünftausend. (wobei der Autor sich selbst zu den Anhängern der Faulheit zählt). Zusammen genommen bilden sie einen gewissen „Hypertext“ – eines der hellsten Beispiele der russischen Postmoderne.

Guberman ist keineswegs Atheist, und schon gar kein militanter. Aber er gehört auch nicht zu den Gläubigen. Die Sorge um das Leben außerhalb des Sarges quält mich nicht; irgendetwas ins Ewige hineingießen – und schon werde nicht mehr ich das sein. Er ist bereit, eine beliebige Wahrheit zu nehmen, selbst wenn es sich herausstellt, dass sie der Heiligen Schrift zuwider läuft (… ich fürchte nichts, / es ist Zufall, wenn ich der Wahrheit näher komme), mit Argwohn steht er jeder beliebigen Doktrin gegenüber und möchte niemandes Sklave sein (nicht einmal der Sklave Gottes). Und – er ist überzeugt – außerhalb jeden Verdachts kann nur die Ehefrau Cäsars stehen (und das wahrscheinlich auch nicht ganz). an allem anderen kann man zweifeln. Moral – das ist keine Kette, sondern ein Spiel, / bei dem es eine Wahl gibt – auf jeden Fall; Grundlage der Vollständigkeit ist das Gute – in der Freiheit liegt ihre Vollendung.

Die künstlerischen Methoden in seinen Gedichten sind typisch für die Postmoderne: ironische Umschreibungen bekannter Ausdrücke (… ich dachte, Herr Ermittlungsrichter, aber ich existiere), die der Phraseologie einen ganz gegensätzliche Sinn verliehen (…wurde als Sonntagskind geboren, was in Russland / stets zur Zwangsjacke führte), ein Glücksking (es gibt Frauen in russischen Siedlungen – eine allein kann es nicht auf ihren Schultern tragen), ein Überfluss an nicht zensiertem („nicht normativem“) Wortschatz.

Man muss sich nicht wundern, dass nicht alle Kritiker und auch nicht alle Leser von Guberman begeistert sind. Guberman selbst nimmt das als gebührend hin – „… diejenigen, die mich rühmen, haben Recht, und die, die mich verachten, schlechtes über mich reden – haben auch Recht“.

Ich kann mich erinnern, dass ich schon in meiner Kindheit diesem Namen begegnete. Und ich war verwundert, dass ich kein Buch besitze; mein Vater hat Guberman sehr gelobt. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich fragte die Eltern danach, aber die konnten sich leider nicht mehr erinnern. In ihren Gedächtnis war nur noch die stimme des Jubels und eifriges Gestikulieren mit den Händen geblieben.

Das konnte nur bedeuten, dass man Ende der 1990er Jahre in unserer einfachen Siedlung bereits von ihm gehört und ihn vielleicht sogar gelesen hatte. Seine Prosa, seine Gedichte streiften Themen, über die zu sprechen sich nicht gehörte, aber bei jedem waren diese Themen präsent…

Um die Wahrheit zu sagen, mir konnte sein Werk nicht gefallen. Aber es regte mich auch nicht sonderlich auf. Möglicherweise deswegen, weil es in mir kein Verständnis für jene Zeit gibt, die er größtenteils beschrieben hat. Daher löst es nur Interesse bei mir aus, sowohl zu seinem Werk, als auch zu den Überresten der Vergangenheit. Ich glaube nicht, dass ich ganz allein dieser Meinung bin.

In einem der Bücher schreibt er über die Einschätzung des Lebens durch seine Vater.

„… irgendwann am Tag kam mein Vater in die Küche – ich rauchte dort, sann friedlich über irgendetwas nach, - und er hielt mir einen langen Monolog. Dass ich nicht richtig leben würde, dass sich im Haus gefährliche, nicht sowjetische Leute aufhielten, dass ich meine gefährlichen Verse ganz umsonst schriebe, dass Trunksucht und Rauchen mich umbringen würden, dass ich eine große Familie hätte und ich für sie keinerlei Verantwortung empfände. Und vieles andere wurde noch gesagt, darunter gerechte und zugleich kränkende Dinge. (Ich verteidigte mich, ohne mich zu rechtfertigen, und weil ich bei meiner Meinung blieb, entbrannte der Streit erst richtig, aber genau so plötzlich, wie der Vater den Raum betreten hatte, verließ er ihn auch wieder. Ich verharrte noch etwa zehn Minuten dort, in der Vermutung, dass der Vater nur zur Toilette gegangen war; dann ging ich, um nachzuschauen, ob er in seinem Zimmer war. Der Vater lag da und weinte. Tränen greisenhafter, kraftloser Verzweiflung rannen über seine gelblichen Wangen (der Krebs war schon nicht mehr wegzuleugnen), das Kissen zu beiden Seiten des Kopfes war ganz feucht. Ich umarmte ihn, murmelte etwas, vermochte ihm jedoch nichts Tröstliches zu sagen. Aber vergessen, wie das damals war, das kann ich bis heute nicht“.

Die Vergeblichkeit absolut aller elterlichen Versuche, Igor Guberman zur Vernunft zu bringen, gab ihm eine eigenwillige Form, eine ganz eigenständige Art, die ihn umgebende Welt zu sehen. Und es war ganz und gar nicht so, dass die Eltern keine Vorstellung davon hatten, wie die Welt ein Jahrzehnt später aussehen würde. Die neue Generation wuchs, ohne deutliche Voreingenommenheit, heran, um riesige Veränderungen in die postsowjetische Zeit einzubringen.

Literaturangaben:

1. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen der Region Krasnojarsk: Buch 1, - Krasnojarsk: Verlagsprojekte. 2004.
2. Geschichte des Sowjetstaates. 1900 – 1991: 2. Ausg. – Moskau, INFRA, Verlag “Die ganze Welt”, 1998.
3. Igor Guberman. „Spaziergänge um die Baracke“, Englewood, USA, Hermitage, 1988.
4. „Gariks für jeden Tag“, Moskau, „EMIA“, 1992.


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