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Die Unseren – die Fremden

Darja Schmidt
Beresowsker allgemeinbildende Grundschule
6. Klasse, Kursus: “Erinnern wir uns an unsere Wurzeln”

Leitung
Albina Anatoljewna Ruben
Deutsch-Lehrerin

Ziel der Arbeit: die Geschichte der Umsiedlung und des weiteren Schicksals der Wolgadeutschen in Sibirien sowie das Schicksal meiner Vorfahren väterlicherseits kennen zu lernen.

Aufgaben unserer Forschungsarbeit:
1) Studium der Literatur über die deportierten Deutschen
2) Sich mit den Erinnerungen noch lebender Zeugen jener Zeit bekanntmachen
3) Mit Archiv-Material über die Siedlung vertraut machen

Forschungsobjekt:
Die Stalinistischen Repressionen während des Krieges und in der Nachkriegszeit

Forschungsgegenstand:
Die Repressionen im Schicksal meiner Familie sowie den Familien anderer Dorfbewohner

Forschungsmethoden:
Arbeit mit Archivmaterial, Literatur; Interviews mit der Großmutter und anderen Dorfbewohnern

Erinnern wir uns!
Erinnern wir uns der Vergangenheit,
Dann werden wir die Gegenwart besser verstehen,
Uns selbst in dieser Welt begreifen.

Die Unseren – die Fremden

Wir leben in der Siedlung Beresowy, Atschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Unsere Siedlung ist nicht groß. Die Hälfte der Einwohner hier sind – Wolgadeutsche und ihre Nachfahren. Ich gehöre auch zu ihnen. Seit der 2. Klasse nehme ich in der Schule an einem in einem Kursus teil, der von unserer Deutschlehrerin Albina Anatoljewna Ruben geleitet wird. Der Kurs selbst läuft unter dem Motto „Erinnern wir uns an unsere Wurzeln“. Wir erfahren, was eine Genealogie ist, erforschen unsere Wurzeln, erstellen Familienstammbäume, lernen Familien-Archive zusammenzustellen. Albina Anatoljewna hat uns beigebracht, dass „Nichtachtung gegenüber den Vorfahren das erste Anzeichen von Wildheit und Unmoral ist“. Wir wissen, dass wir uns damit beeilen müssen, Material über die Familiengeschichte zusammenzutragen, denn Informationsträger sind unsere Großmütter und Urgroßmütter, jedenfalls bei denen, die überhaupt noch welche haben. Man muss rechtzeitig alles erfahren, sie über ihre Kindheit befragen, ihre Jugend, ihr Leben heute, denn morgen kann es dafür bereits zu spät sein. Also, ich konnte leider nicht mehr meinen Großvater Edwin Friedrichowitsch Schmidt befragen. Als er lebte, war ich noch ganz klein. Jetzt habe ich nur von Oma und Papa davon gehört, wie mein Opa nach Beresowka kam Papa weiß ganz wenig über die Kindheit seines Vaters, der über diese Dinge nicht sprechen mochte.
Wir befassten uns in diesem Kurs mit Material von A. German über die Deportation der Wolgadeutschen, die nachfolgende Mobilisierung in die „Arbeitsarmee“, die Lebensform der Sondersiedlung, welche „das Leben der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit veränderte“. Und ich erfuhr, weshalb die Deutschen nach Sibirien ausgesiedelt wurden. Man entzog ihnen die Heimat, ihre Häuser, alles, was sie sich in vielen Jahren nach und nach angeschafft hatten.

Mit Beginn des Krieges und besonders der ersten ernsthaften Niederlagen, welche den Verlust riesiger Territorien nach sich zogen, erschien im Bewusstsein der russischen Staatsführung und W.I. Stalins persönlich ein immer realeres und bedrohlicheres Bild von der deutschen „fünften Kolonne“ in der UdSSR. Doch es gibt keine Angaben, die beweisen könnten, dass die ortsansässigen Deutschen Überfälle ins Hinterland der russischen Armee begangen oder sich heimlich mit Vorbereitungen für ähnliche Schläge befasst hätten. Heute kann man bereits mit Bestimmtheit sagen, dass jedwede Informationen über eine Mittäterschaft der Russland-Deutschen mit dem faschistischen Deutschland nicht einmal der sowjetischen Spionageabwehr vorlagen“. Allen „war der wahnhafte Charakter der offiziellen Erklärung darüber klar, dass es unter den 400.000 Angehörigen der deutschen Bevölkerung an der Wolga tausende und abertausende Saboteure und Spione gäbe, die auf ein entsprechendes Signal aus Deutschland in den Bezirken, in denen Wolgadeutsche leben, Sprengungen durchführen sollten“. Aber „alle angemerkten Fakten brachten I.W. Stalin und die gesamte sowjetische Leitung Ende 1941 zu dem Entschluss, dass eine Deportation der Deutschen aus dem Wolgagebiet unabdingbar war. Es war eine … Rückversicherungsmaßnahme, welche vom Standpunkt der strategischen Interessen des Staates und der Behörden gerechtfertigt war“. Am 28. August 1941 wurde der traurig-berühmte Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“ (Anhang). Es war geplant, sie in die Region Krasnojarsk (70.000 Personen), ins Altai-Gebiet, in die Gebiete Nowosibirsk und Omsk und in die Kasachische SSR umzusiedeln.

Es war geplant, die Operation bezüglich der Deportation der Deutschen noch vor dem 28. August durchzuführen; die Vollstrecker wurden ausgesucht und instruiert, die materielle Sicherstellung erarbeitet und festgelegt. Die Umsiedler sollten „in 198 Zügen mit jeweils 65 Waggons und 40 Personen pro Wagen abtransportiert werden. Gesamtzahl der Waggons – 12,875.

Die Aussiedlungsaktion der Wolgadeutschen erfolgte äußerst barsch und energisch. Die Verladung in die Waggons geschah am 1. September. Die Bürger deutscher Nationalität waren, trotz der Kränkung und Entrüstung, im Großen und Ganzen über ihr Schicksal erhaben. Nach Angaben der NKWD-Organe, gab es in der Wolgadeutschen Republik keine einzige Familie, welche die Umsiedlung verweigerte. Mit jedem Tag nahm die Zahl der Züge mit Umsiedlern zu. Insgesamt wurden aus dem Wolgagebiet 451.986 Menschen fortgeschickt, nur 440.238 von ihnen trafen an ihrem Bestimmungsort ein (laut Angaben von A. German).

Die Lebensbedingungen der Umsiedler während der Fahrt waren sehr schwierig. Die Menschen wurden in überdachten Güterwaggon transportiert. In jeden Wagen waren 40 Personen und mehr mit ihrem Hab und Gut hineingepfercht. Sie schliefen auf Pritschen und manchmal auch einfach auf dem Boden. Aufgrund von Störungen in den Fahrplänen gab es an den Bahnstationen nur ganz unregelmäßig warme Mahlzeiten. Außerdem gab es ständig Probleme mit Wasser. Nach den Erinnerungen von Umsiedlern war das schmerzlichste physische und moralische Problem während der Fahrt das Verrichten der Notdurft, das für die Menschen eine massenhafte und ständige Folter darstellte, besonders dann, wenn der Zug viele Stunden durchfuhr ohne auch nur einmal anzuhalten. Aufgrund des unsauberen Wassers und der miserablen sanitären Verhältnisse brachen in vielen Zügen Magen- und Darm-Erkrankungen aus, denen am häufigsten Kinder zum Opfer fielen.

Ich möchte noch ein weiteres Zitat aus A. Germans Buch anführen: „…der Zug N° 842 verließ den Güterbahnhof Saratow etwa um 3 Uhr nachts am 11. September 1941. Als der Zug vom Bahnhof abfuhr, gab es keine Tränen. Doch als sie durch Uwek fuhren und auf die Brücke kamen, da fing der ganze Waggon an zu schluchzen: Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen. Die Wolga! Unsere 11-jährige Tochter … sie schrieb in ihr Tagebuch: Wolga, Wolga, unsere Mutter! Du meine geliebte … Ich fahre nicht aus freien Stücken fort, in meinem Herzen nehme ich Dich mit!“

Sie brachten die Zwangsumsiedler in verschiedenen Bezirken der Region Krasnojarsk unter, aber nach der Abschaffung der Kommandantur, wie die Deutschen sagen, zogen viele in die Ortschaften um, in denen sich ihre Verwandten oder wenigstens Leute aus demselben Dorf befanden.

Nachdem sie in Sibirien eingetroffen waren, wurde die männliche Bevölkerung und auch zahlreiche Frauen ein weiteres Mal Repressionen ausgesetzt; diesmal kamen sie jedoch in die Trud-Armee. „Schmerz und Leid durchdrang jedes einzelne Wort der Arbeitsarmisten. Auf Anordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 7. Oktober 1941 wurden die Deutschen zur Zwangsarbeit herangezogen. Faktisch lebten die Angehörigen der Arbeitsarmee in vom NKWD kontrollierten Siedlungen. Ihr Leben sah folgendermaßen aus: einmal wöchentlich mussten sie sich bei der NKWD-Kommandantur melden und registrieren lassen; die Ernährung war spärlich; wohnen mussten sie in Erdhöhlen oder zugigen Baracken; endlose nächtliche Durchsuchungen; außerdem war es ihnen verboten, sich für mehr als 24 Stunden aus ihrem Wohnort zu entfernen. Ungehorsam führte zu 20 Jahren Zwangsarbeit. Tausende starben an Ruhr, vielen war eine „ewige Verbannung“ vorherbestimmt. Erst 1989 schaffte der Oberste Sowjet alle verbrecherischen Ukase ab, die sich auf die Diskriminierung der Russland-Deutschen richteten“.

Heute leben in unserer Siedlung 19 rehabilitierte Wolgadeutsche. Wir nennen sie hier alle namentlich: Lidia Iwanowna Bogunowa (Gorn oder Horn), Andrej Andrejewitsch Grisman,
Anna Karlowna Grisman, Friedrich Andrejewitsch Grisman,Elvira Karlowna Diehl, Wladimir Fjodorowitsch Schadan, Analia Karlowna KInstler, Frieda Johannowna Kinstler, Maria Iwanowna Malinowskaja (Schefer), Irma Iwanowna Schefer, Karl Karlowitsch Pabst uLidia Friedrichowna Pabst, Irma Friedrichowna Roschtschenko (Kinstler), Maria Andrejewna Folmer, Lidia Johannowna Schefer, Emilia Friedrichowna Folmer, Jekaterina Friedrichowna Spieß, Maria Andrejewna Stürz, Nina Wassiljewna Pabst.

In unserem Museumseckchen gibt es ein Album mit Fotos der Menschen aus unserem Dorf – Deutschen, in dem auch ihre Erinnerungen zu lesen sind. Dieses Album wurde von Mitgliedern unseres Arbeitskreises zusammen mit Albina Anatoljewna erstellt. In ihren Schicksalen findet sich die Geschichte unseres Landes.

Wir wirkten an einer sozialen Umfrage der Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur über die Situation der ethnischen Deutschen in Russland mit. Wir führten eine Fragebogen-Aktion mit Deutschen zwischen 25 und 85 Jahren durch. Sie hegen keine besonderen Gefühle anlässlich ihrer Nationalität, leben unter den Russen genau wie alle anderen auch. Sie halten die Ortschaft für ihre Heimat, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht haben, und die junge Generation kennt ja auch keine andere Heimat. Die alten Leute nennen immer noch Deutsch ihre Muttersprache, wenngleich sie sie nur sehr selten benutzen, und die Jungen sprechen gar kein Deutsch mehr. Sie sind der Ansicht, dass Deutschland sie materiell unterstützen sollte. Aber aus reisen und dort ihren ständigen Wohnsitz einnehmen – das möchten sie nicht. A.S. Schefer antwortete auf die Frage, weshalb sie nicht mit nach Deutschland gefahren sei, als ihre Schwestern ausreisten: „Ich möchte mich noch nicht einmal an sie erinnern! Warum sind sie dorthin gefahren? Unsere Heimat ist doch jetzt hier!“

Heute möchte ich auf Basis der Angaben aus unserem Museumseckchen von meinen Dorfnachbarn erzählen, die sowohl die Umsiedlung und Aussiedlung aus der Heimat, als auch die Demütigungen und Kränkungen durchmachten, die sie nach ihrer Ankunft in Sibirien erfuhren – und natürlich die Trudarmee. Außerdem sprach ich noch mit meiner Großmutter, wobei ich sie nach dem Schicksal der Familie des Großvaters fragte und wie sie nach Beresowka gerieten. Meine Oma ist Russin, während Opa an der Wolga geboren und noch im Säuglingsalter Opfer der Repressionen wurde.

Fast all meine Dorfnachbarn sind – ältere Deutsche; sie wurden in der Ortschaft Krasnyj Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow geboren (Anhang). Und jetzt halten sie Beresowka für ihre zweite Heimat. Sie stehen in Kontakt mit ihren Verwandten, die alle nach Deutschland ausgereist sind. Aber die alten Leute selbst träumen nicht von einem anderen Wohnort. Die jüngeren, Kinder einiger Zwangsumsiedler, hätten nichts dagegen, nach Deutschland auszureisen, um dort ihren ständigen Wohnsitz zu nehmen.

Amalia Karlowna Kinstler

Geboren wurde ich am 26. September 1924 in der Ortschaft Krasnij Jar, Gebiet Saratow, 25 km von der Bezirkshauptstadt Engels entfernt. Ich war 16 Jahre alt, als sie uns von dort wegtrieben. Vom 4. bis 17. September transportierten sie uns in Viehwaggons, der Regen tropfte durch das Dach, die ganze Kleidung, die wir dabei hatten, wurde nass und fing an zu schimmeln. Hier trafen wir am 17. September, genau an Mamas Geburtstag, ein. Man verstreute uns alle an ganz verschiedenen Orten. Wir und noch weitere fünf Familien gerieten nach Turuchansk, in den Bolscheulujsker Bezirk. Dort lebten wir bis zum neuen Jahr, dann gab es keine Arbeit mehr, und der Dorfratsvorsitzende sagte, dass es hier für uns nichts mehr zu essen gäbe; er empfahl uns, nach Beresowka zu fahren. Hier gab man uns dann eine Behausung: ein Haus für fünf Familien. Hier standen 4-5 Baracken, in denen früher Häftlinge gelebt hatten, in der Siedlung war früher ein Gefängnis gewesen. Ein Teil der Baracken wurde in Ordnung gebracht, um sie als Wohnraum zu nutzen. Am 8. Januar gingen wir bereits wieder zur Arbeit. Wir droschen, schoberten Heu, erledigten alle möglichen Arbeiten, wo sie uns gerade hinschickten.

Im August 1943 kam eine Benachrichtigung, im Kriegskommissariat vor einer Kommission zu erscheinen, um in die Trudarmee mobilisiert zu werden. Sie beriefen alle ein, sogar junge Mädchen und Frauen, die keine Kinder jünger als 3 Jahre hatten. Also, unsere Mama nahmen sie nicht, denn sie hatte ja unseren kleinen Bruder Viktor. Insgesamt hatte sie 12 Kinder. Den Vater mobilisierten sie gleich im Jahr 1942. Auch ich wurde einberufen und in die Stadt Kisseljowsk im Gebiet Kemerowo geschickt. Zuerst arbeitete ich beim Bau, dann im Schach – wir gruben die Schurf (den Zugang zum Schacht). So arbeiteten wir, ausschließlich Frauen und Kinder (jedes 17 Jahre alt!) zwei Wochen. Dann traf eine Kommission ein, die Leute für die Arbeit im Schacht auswählen wollte. Mich nahmen sie nicht. Ich arbeitete als Reinmachefrau im Kontor, anschließend holte mich der Ober-Markscheider als Kindermädchen zu seiner 3-jährigen Tochter. Dieses Mädchen Tanja hat mir später immer Briefe und Postkarten zu den Geburtstagen, zu Fest- und Feiertagen geschrieben. Sie lebte im Nord-Kaukasus. Heute weilt sie schon nicht mehr unter den Lebenden.

Dort arbeitete ich bis 1948, zu Hause traf ich unmittelbar vor Neujahr ein. Als ich nach Beresowka zurückkam, begab ich mich in die Sowchose, wo sie mir ein Arbeitsbuch ausstellten. Die Auflistung der Arbeitsjahre fing damit an, dass sie mir die Jahre in der Trudarmee anrechneten, wobei ein Jahr wie drei Jahre galt; später wurde das aber weder für ungültig erklärt. Ab 1952 war ich als Melkerin tätig. 10 Jahre arbeitete ich in Treibhäusern. Zu der Zeit gab es hier eine große Gemüse-Sowchose, in der große Mengen Gurken und Kohl gezüchtet wurden. Wir erfüllten den Abgabe-Plan und konnten den ganzen Wintersuch noch die Kühe mit Kohl füttern. Für diese Arbeit erhielt ich eine Medaille („Stoßarbeiter der kommunistischen Arbeit“): ich züchtete 21 kg Gurken aus einem Rahmen (so nannten sie damals ein Gewächshaus).

Der Vater wurde 1943 wegen Krankheit „abgeschrieben“. Danach lebte er nicht mehr lange. ZU seiner Zeit hatte er während der Revolution 7 Jahre in Budjonnys Armee gedient. Die Mutter starb 1968. Bruder Iwan wurde im August 1940 in die Armee einberufen, Andrej im April 1941, und am 22. Juni brach der Krieg aus… Andrej ist verschollen. Iwan war in Kriegsgefangenschaft und blieb nach seiner Freilassung in Deutschland. Lange Zeit wussten wir nichts über sein Schicksal, sondern dachten, dass er ebenfalls verschollen war. Doch in den 1960er Jahren begann Iwan über das „Rote Kreuz“ seine Familie zu suchen, und dann bekamen wir Nachricht von ihm. 1993 kam Iwan zu uns zu Besuch, aber es gefiel ihm hier nicht. Bruder Karl und ich haben dort einen Gegenbeuch gemacht, aber dort hat es mir nicht gefallen. Hier sind alle, die man kennt, man kann sich wenigstens jederzeit bei den anderen hereinschauen; dort ist das nicht so. Der Bruder schrieb immer Briefe. 2004 ist er gestorben (Anhang).

Es gab nur wenig Gutes, und an das Schlechte möchte man sich nicht erinnern.

Gebe Gott, dass unsere Kinder nicht so etwas durchmachen müssen, wie wir es erlebt haben!
Jetzt haben wir hier schon unser Haus, aber damals konnten wir nicht einmal um etwas zu trinken bitten, weil wir überhaupt kein Russisch konnten. Man hat über uns gelacht und uns nachgeäfft. Und heute ist es so, dass unsere Enkel Deutsch nicht mehr verstehen und sprechen wollen. Wir gehen von dieser Welt, und mit uns gehen die deutschen Vor- und Nachnamen. Ich möchte noch einmal nach Atschinsk in die katholische Kirche, aber ich habe nicht mehr die Kraft, dorthin zu fahren. Also lese ich die Bibel, die Mutter einst von Zuhause mit hierher brachte (Anhang).

Karl Genrichowitschs und Sophia Petrownas Familie:
Iwan (geb. 1919), Andrej (geb. 1921), Amalia (geb. 1924), Karl, Sophia, Fjodor, Viktor, die anderen verstarben in der Kindheit. In ihrem Familienarchiv existieren zahlreiche Fotos.

Sophia Karlowna Spis (Spieß), Mädchenname Kinstler

Geboren am 20. Dezember 1934, Schwester von Amalia Karlowna.

Als wir einst hierher kamen, konnten wir kein Russisch, es gab hier auch keine Schule. Ich war 7 Jahre alt. Angemeldet wurde ich in der Malo-Pokrowsker Grundschule. Sie nahmen mich nicht auf, weil ich für die erste Klasse bereits zu alt war. Später wurde die Schule in Beresowka eröffnet, und im Alter von 12 Jahren ging ich dort zum Unterricht. Ich beendet 43 Klassen und fing an zu arbeiten. Abends ging ich aber weiter zur Schule und absolvierte auch noch die 4. Klasse.

Als wir nach Beresowka kamen, holten sie den Vater und Schwester Malja in die Trudarmee. Als ich 12-13 Jahre alt war und noch zur Schule ging, arbeitete ich bereits beim Ausjäten der Sowchosen-Felder; hier gab es eine Gemüse- und Milch-Sowchose, und es wurden in großen Mengen Runkelrüben angebaut. Auch in den Treibhäusern verrichtete ich Arbeiten. Ab dem 15. Lebensjahr war ich als Technikerin in der Schule tätig. Vor der Rente arbeitete ich in der Schule als Heizerin.

Die anderen kamen erst später hierher, wir sind hier die ältesten Einwohner.

Bis 1956 kam einmal im Jahr der Kommandant aus Atschinsk, und dann mussten wir uns bei ihm melden und uns registrieren lassen. Wir durften das Dorf überhaupt nicht verlassen. Wenn es absolut erforderlich war, ging es nur mit Erlaubnis der Kommandanten.

1956, als die Kommandantur abgeschafft wurde, kam die Familie Spieß hierher, und ich heiratete einen ihrer Söhne. Jetzt habe ich zwei Kinder. Mein Mann lebt schon lange nicht mehr, ich wohne allein.

Unsere Sprache haben wir mit der Zeit vergessen. Als wir nach Sibirien kamen, hatten wir Angst, auf der Straße Deutsch zu sprechen, wir taten das nur Zuhause, in der Familie. Unsere Kinder verstehen jetzt kaum noch Deutsch. Na ja, aber mit den alten Leuten verständigen wir uns noch in unserer Sprache.

Sophia Karlowna ist eine große Meisterin, überall in ihrem Hause gibt es Stickarbeiten – an den Wänden gestickte Teppiche, viele Dinge aus gehäkelter Spitze (Anhang).

Während dieses Material zusammengestellt wurde, schied Sophia Karlowna aus dem Leben … am 22. Januar 2014.

Karl Karlowitsch Kinstler

Sophia Andriassowna Schefer

Karl Karlowitsch wurde am 20.Januar 1927 geboren. Er ist der Bruder von Amalia Karlowna.

Die Geschichte ihrer Ankunft in Sibirien verlief so:

Wir sind hier die ältesten Deutschen.

Als alle in die Trudarmee geholt wurden, mobilisierten sie mich nicht. Hier befand sich eine Hilfswirtschaft der Rüstungsfabrik, genannt „Sowchose N° 703“ (später übernahm das Mähdrescherwerk sie). IN der Fabrik wurden Geschosse produziert, und hier hatte man ab 1943 eine Hilfswirtschaft aufgebaut, für die ebenfalls arbeitende Hände benötigt wurden; deswegen ließ man mich hier. Ich erledigte alle möglichen Arbeiten, bediente die Mähmaschine, danach arbeitete ich 25 Jahre lang mit dem Traktor. Im Allgemeinen machte ich alles, was sie mir sagten, denn wir standen „unter der Fuchtel“. Wir arbeiteten viel, aber wir litten wenigstens keinen Hunger. Pro Tag erhielten Arbeiter eine Brotration von 600 g, nicht arbeitende Familienmitglieder bekamen 400 g. Wer zudem auch noch Kartoffeln zur Verfügung hatte, der konnte ein sorgenfreies Leben führen. Im Frühjahr wurde auf dem Feld gearbeitet. Wenn du die Norm übererfüllst - bekommst di noch eine Extraration Brot. Die Wirtschaft brachte Gewinn, und wir verstanden es zu arbeiten.

Der Krieg verursachte eine Menge Elend. Einer der Brüder gilt als verschollen, der andere blieb nach der Kriegsgefangenschaft dort. Er war nicht sehr lange im Lager, dann holten sie die Kriegsgefangenen in die Häuser, um die Hofwirtschaften zu führen: auch ihnen fehlte es an Männern. Ich fuhr auf Besuch zu ihnen, schaute mir die historische Heimat an. Das war bereits im Jahr 1989. Und 1985 fuhr ich mit meiner Frau in die richtige Heimat. Die Häuser standen schon nicht mehr dort, aber Heimat ist Heimat.

Sophia Andriassowna wurde am 20. Dezember 1924 geboren. Als sie heiratete, behielt sie ihren Namen. (Anhang).

Mein Großvater wollte nach Sibirien fahren, dort gab es viel Land. Damals sagte man, dass in Sibirien nur diejenigen leben, die ins Gefängnis verbannt werden.

Aber dann mussten wir nach Sibirien umsiedeln und unser Leben lang hier bleiben. Inzwischen ist hier unser Zuhause. Meine Schwestern reisten nach Deutschland aus, ich möchte mich nicht an sie erinnern! Dort ist unsere Heimat nicht, dort sind wir wie Fremde. Unsere Heimat ist jetzt hier. Auch hier haben wir kein Hungerdasein geführt. Wir wissen, wie man arbeitet. Großvater und ich besitzen zahlreiche Medaillen (sie zeigt sie).

(Anhang). Alle möglichen Arbeiten habe ich erledigt, später arbeitete ich lange Zeit – im Schweinestall. Wir arbeiteten von früh bis spät. Mit Pferden ritten wir in den Wald, um Brennholz zu holen.

Sophia Andriassowna trägt den Titel „Arbeitsveteranin“ und besitzt Medaillen für ihre selbstaufopfernde Arbeitsbereitschaft zum Wohle der Heimat, welche sie zu Zwangsumsiedlern machte. Doch sie haben verziehen (vergessen können sie nicht!) und sehen Beresowka als ihre zweite Heimat an.

Karl Karlowitsch und Sophia Andriassowna haben drei Söhne groß gezogen: Iwan, Alexander, Viktor (Anhang). Sie wohnten in ihrem Haus neben dem Sohn, sorgten jedoch für sich selbst. Karl Karlowitsch schied beinahe bei der Arbeit aus dem Leben; er schob Schnee und schaffte es nur noch bis ins Haus. Er starb am 28.Januar 2005.

Sophia Andriassowna überlebte ihren Mann um 3 Jahre. Mit einem Schlag musste sie allein zurecht kommen, aber als sie schwerkrank wurde, nah der jüngste Sohn sie zu sich und kümmerte sich bis zum letzten Tag um sie. Sie starb am 21. März 2008.

Zwei ihrer Söhne wohnen in Beresowka, der dritte ist bereits verstorben.

Maria Andrejewna Stürz

Geboren am 19. März 1939 in der Ortschaft Krasnij Jar im Gebiet Saratow.

Ich hätte in die 4. Klasse gehen sollen, aber die Eltern ließen mich nicht; ich musste als Kindermädchen arbeiten.

Einmal hörte ich von den Hausherren, dass die Deutschen ausgesiedelt würden; ich rannte nach Hause. Die Schwester kommt mir schon entgegen gelaufen und sagt, dass schon Fuhrwerke dastünden. Wir fuhren los, aber unterwegs schickten sie uns wieder zurück; ein Kutscher war erforderlich. Zuhause kochten wir noch Kartoffeln, aßen sie, und dann brachte der Fuhrmann uns fort. Die gesamte Hofwirtschaft ließen wir zurück. Mama stellt den Hühnern vor der Abfahrt noch einen Eimer Wasser hin und streute Korn aus. Die Kühe standen in ihren Pferchen und muhten.

Wir waren 6 Kinder, eine Schwester und ein Bruder waren älter als ich. Wie trafen in Sibirien ein, in Kamenka, Atschinsker Bezirk. Die älteren Geschwister fanden Arbeit bei der Eisenbahn und arbeiteten am Kilometer 20. Doch dann kam der Befehl alle Deutschen von der Bahn wegzuholen.

Den Vater mobilisierten sie im Januar 1942 in die Trudarmee, und im Herbst holten sie auch die Schwester und den Bruder. Im Frühjahr 1943 starb die Mutter, sie war erst 45 Jahre alt. Vor der Abfahrt nach Sibirien hatte sie sich einer Operation unterziehen müssen. Wir blieben ohne Vater und Mutter zurück, ich war damals 13 Jahre alt, die Kleinste 6, und die ältesten Geschwister – in der Trudarmee.

Der Vater, Genrich (Heinrich) Genrichowitsch Stürz, kehrte aus der Trudarmee nicht zurück.

Die Mutter hieß Sophia Friedrichowna.

Sophias Schwester befand sich ab 1942 in der Trudarmee in Baschkirien. Heute lebt sie schon nicht mehr. Bruder Andre, geb. 1926, weilt ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden.
Jekaterina, geb. 1928, ist auch schon tot.
Maria wurde 1930 geboren, Amalia 1932.
Anna, die 1935 das Licht der Welt erblickte, ist ebenfalls bereits verstorben.

Aufgezeichnet während des Gesprächs mit Maria Andrejewna.

Außerdem liegen uns noch Maria Andrejewnas Erinnerungen vor, die ihre Tochter Nina Wassiljewna Pabst notiert hat (Anhang).

Emilia Fjodorowna Astaptschuk (Kinstler)

Geboren wurde ich am 19. November 1926 in der Ortschaft Krasnij Jar, Gebiet Saratow, in der Lenin-Straße 48. Wir wohnten 20 km von der Stadt Engels entfernt, 40 km von Saratow, dem größten Ort; bei uns nannte man sie Kantonsstadt. 1930 ging es uns sehr schlecht, ich erinnere mich noch an die Hungersnot 1931-1933. Aber dann erholte sich die Kolchose wieder, die Menschen hatten ein gutes Leben, alle hatten genug Brot zu essen.

In Sibirien kamen wir ins Dorf Tatschik im Bezirk Biriljussy, eine ganz entlegene Gegend. Wir waren Feinde, Faschisten, man verachtete uns. In der Heimat hatten wir nicht gewusst, dass wir Faschisten waren. Wir hatten geglaubt, ehrbare sowjetische Staatsbürger zu sein.

Die Eltern kamen mit 7 Kindern und Vaters Mutter hierher, sie war schon 81 Jahre alt. Ich bin die Älteste, danach kommen Frieda, Irma, Andrej, Wladimir, Maria. Den Vater holten sie im Januar 1942 in die Trud-Armee; dort war er bis 1944. Er kehrte als Skelett, völlig erschöpft und krank zurück. Wie hatten sie dort hungern, sich quälen müssen! Es wäre besser gewesen, gleich an die vorderste Front gegangen und unter den Kugelhagel geraten zu sein.

Ich besaß eine Gitarre. Der Vater schenkte sie mir, als ich 13 Jahre alt war, er hatte sie irgendwo bestellt. Ich spielte gern darauf, ging auch zum Musikkreis. Alle Vorräte, die wir von Zuhause mitgenommen hatten, aßen wir auf, und unsere Sachen tauschten wir ebenfalls gegen Essbares ein. Schließlich mussten wir auch die Gitarre für einen Eimer Kohl hergeben. Wir aßen Gänsedisteln, Mama überbrühte sie mit kochendem Wasser, dann kamen sie in einen gusseisernen Topf, eine Handvoll Mehl hinein. Wir setzen uns um den Topf herum und schlürften diese Brühe. Hinterher standen wir Schlange – wer den Topf auslecken durfte.

Ich war 14 Jahre alt, als sie uns von der Wolga aussiedelten. Wir lernten Russisch in der Schule, es fiel mir leicht, die Sprache sprechen zu lernen, unsere Sprache ist schwieriger. Und jetzt spreche ich überhaupt nur noch Russisch; um In unserer Sprache zu sprechen, muss man sich schon gut an die Wörter erinnern.

Wir lebten dort von 1941 bis 1961. Wir arbeiteten auf den Getreidefeldern der Kolchose, uns standen jeweils 200 g für ein geleistetes Tagewerk zu. Doch wir bekamen zur Hälfte Spreu, und wenn man sie gesäubert hat, bleibt nur wenig übrig. Im Winter arbeiteten wir bei er Verladung und transportierten Getreide von Staraja Jelowka zur Getreidestation. Wir, Mädchen von 16 Jahren, mussten die schweren Säcke … Ach, es ist schrecklich, sich das vorzustellen, aber zu zweit bekamen wir die Säcke nach oben. Später kamen nach und nach die Männer von der (Arbeits-) Front zurück.

Als der Vater aus der Trud-Armee zurückkehrte, gruben wir uns eine Erd-Hütte; bei Regen tropfte das Wasser hindurch. Später kauften wir eine Hütte.

1956 wurde die Kommandantur abgeschafft, und wir durften den Ort verlassen. Vater und Fjodor fuhren nach Beresowka, wo viele von uns wohnten. Aber mein Mann war Parteiangehöriger, den ließen sie nicht fort. Er war von der Front mit zahlreichen Verletzungen zurückgekehrt. Im September 1961 brachte man ihn ins Krankenhaus nach Krasnojarsk; er wurde operiert. Für mich allein war es sehr schwer mit dem kleinen Kind auf dem Arm. Das Töchterchen wurde am 20. Oktober 1947 geboren. Ich fuhr in die Bezirksstadt, um darum zu bitten, zu den Eltern fahren zu dürfen. Ich besuchte ihn häufig im Krankenhaus. Später konnte er, wenn auch mit Gehstöcken, wieder laufen. So war er 30 Jahre krank, bis er starb.

Als ich nach Beresowka kam, arbeitete ich im Kälberstall, ich hatte es schwer: im Sommer musste ich selber als Hirtin die Kälber hüten. Mein Lohn betrug 40-50 Rubel. Später arbeitete ich auf der Farm.

In Beresowka erhielt ich dann einen Pass. Und anstelle meines Vaternamens Friedrichowna schrieben sie in aller Eile Fjodorowna hinein. Alle Geschwister hießen mit Vatersnamen Friedrichowitsch, aber ich – Fjodorowna, auf russische Art und Weise. Deswegen wurde ich auch nicht in den Listen der Repressionsopfer erfasst.

Das Schwierigste, was ich durchmachen musste, war der völlig unerwartete Tod der Tochter zwei Jahre nachdem der Vater gestorben war. Heute habe ich also nur noch zwei Enkelkinder und einen Urenkel. Sie wohnen in Atschinsk, und mir geht es hier so allein nicht, weil die Gesundheit mich schon verlassen hat.

In die Heimat würde ich gern zurückkehren, aber nicht so, wie viele von uns nach Deutschland ausreisen, nein – dort sind wir doch Fremde. Wir sind in Russland geboren, hier ist unsere Heimat. Und dort, in Beresowka, liegen jetzt mein Mann und meine einzige Tochter begraben, und ich werde von dort nirgendwohin fahren. Sie haben uns aus der Heimat herausgerissen, und nun haben wir uns schon darin gewöhnt hier zu leben.

Emilia Fjodorowna starb am 14. April 2003.

Lidia Iwanowna Bogunowa (Gorn)

Geboren am 29. Oktober 1932.

Aus der Heimat, aus Krasnij Jar, haben sie uns wie Vieh hierher getrieben. Zuerst brachten sie uns im Bogotolsker Bezirk unter, im Dorf Selenz. Wir waren 5 Kinder: meine älteste Schwester war 1926 geboren, dann kam Bruder Iwan, dann ich, Bruder Sascha kam 1937 zur Welt und der kleine Bruder Fedja , der im Alter von 5 Jahren starb, 1940.

Im Alter von 16 Jahren kam sowohl meine Schwester als auch der Vater in die Trud-Armee. Wir zogen durch das Dorf, um uns mit Betteln durchzuschlagen. Für uns gab es nichts, wir waren „Faschisten“. In die Schule ging ich nicht. Heute kann ich zumindest meinen Nachnamen schreiben.

Mamis Schwester wohnte im Biriljussker Bezirk, sie nahm uns zu sich, aber wir hatten kein Geld, um dorthin zu fahren. Wir packten unsere Sachen und gingen zu Fuß. Den Kleinen trugen wir abwechselnd auf dem Arm. Wir gingen von Dorf zu Dorf, übernachteten irgendwo – und gingen weiter. SO waren wir eine Woche unterwegs. Nur ein schmaler Pfad und ringsum nichts als Taiga. Doch wir begegneten keinem einzigen Tier. Wir liefen bis nach Bolschoi Uluj, dort wohnten Verwandte des Vaters, die uns aufnahmen. Eine Woche ruhten wir uns aus, dann machten wir uns auf den Weg zum Fluss Tschulym. Wir blieben in dem Dorf Pokrowka. Dort wuchs ich auf; geheiratet habe ich in dem Dorf Tatschik, 18 km von unserem entfernt.

30 Jahre habe ich mit meinem Mann zusammen gelebt, und nun ist er schon seit 30 Jahren tot. Danach habe ich mit Sohn und Enkelin zusammen gewohnt; als mein Sohn starb, blieb ich mit Kristinotschka allein. Hier in Beresowka leben noch ein Sohn und ei9ne Tochter.

Iwans Bruder reiste in den 1990er Jahren nach Deutschland aus. Schwester Anna lebt in Atschinsk. Auch Bruder Sascha wohnte in Beresowka, heute lebt dort nur noch seine Witwe Jekaterina.

Lidia Iwanowna wohnt mit ihrem Enkel Tolja zusammen.

Andrej Anfrejewitsch Lorenz
Anna Iwanowna (Schefer)

Andrej Andrejewitsch wurde am 23. März 1925, Anna Iwanowna am 24. April 1932, wie alle Zwangsumsiedler, an der Wolga geboren.

Wir kamen nach Sibirien, nach Beresowka. Hier lebten damals Letten in der Nachbarschaft. Von ihnen lernten wir die russische Sprache. Unsere Sprache, unsere Muttersprache, mussten wir geheim halten.

Ich war das älteste Kind von insgesamt fünf. In Sibirien kamen wir mit dem Vater an, Mutter war damals, als sie uns nach Sibirien verschleppten, schon tot.

1941 siedelten sie den Vater nach Turuchansk aus und schickten ihn in das Dorf Surgutivha, wo wir wohnten. 1956 erteilten sie die Erlaubnis, die Holzfällerei zu verlassen. Bruder und Schwester fuhren nach Talmenka, die Bezirkshauptstadt des Altai-Gebiets, und wir – nach Beresowka (Anhang).

Anna Iwanowna erzählt:

Die Eltern und die Tante, bei der ich seit meiner Kindheit gelebt hatte, wurden in die Arbeitsarmee geholt. Und wir blieben mit Tante Sonja im Dorf Surguticha im Turuchansker Bezirk. Dort absolvierte ich 4 Schulklassen. Dort lernte ich auch Andrej kennen; wir heirateten. Dort wurden unsere drei Töchter geboren: Maria, Lidia und Irma. Am 7. Juni kam die jüngste zur Welt. Als sie gerade eine Woche alt war, fuhren wir mit dem Schiff auf dem Jenissei zu den Verwandten nach Beresowka. Das war im Sommer 1957 (Anhang).

In Beresowka begann ich als Melkerin zu arbeiten. Andrej war auf dem Bau tätig, später als Tierpfleger. Nachdem er in Rente gegangen war, arbeitete er noch weitere 10 Jahre; er konnte einfach nicht untätig herumsitzen.

Jetzt führen wir beide ein ganz ruhiges Rentnerleben. Alle drei Töchter wohnen hier im Dorf. Und der jüngste Sohn Andrej, der bereits in Beresowka geboren wurde, lebt in Atschinsk.

Andrej Andrejewitsch schied am 2. Juni 2007 aus dem Leben.

Anna Iwanowna starb am 2. November 2011.

Maria Iwanowna Malinowskaja (Schefer)

Sie wurde am 2. Juli 1937 in der Ortschaft Krasnij Jar geboren und ist die Schwester von Anna Iwanowna Lorenz.

Am Abend schlossen wir die Fenster. Die Nachbarn sagten, wir sollten sie zumachen, es werde Krieg geben.

Der Vater kam herein und sagte, wir sollten unsere Sachen packen. Um 12 Uhr nachts brachten sie uns fort. Alles, was sie mitnahmen, war eine Kiste mit Kleidungsstücken. Sie brachten uns fort, am Bahnhof mussten wir warten. Mit dem Zug waren wir zwei Wochen unterwegs. Wir trafen in Sutschkowo, im Bolscheulujsker Bezirk ein, wo wir zwei W9ochen blieben; danach brachten sie uns nach Sekretarka. Später zogen wir nach Krasnowka um, anschließend – nach Listwjanka.

Den Vater holten sie Anfang 1942 in die Arbeitsarmee; 10949 kehrte er zurück. Er war in Swerdlowsk und Tscheljabinsk in der Holzfällerei gewesen. Die Mutter mobilisierten sie im September. Lida war gerade drei Jahre alt. Die Mutter blieb vier Hagre in der Arbeitsarmee. Mutters Schwester holte Anna zu sich. Wir blieben mit der Ehefrau von Vaters Bruder und der Großmutter zurück. Der Onkel war ebenfalls in der Arbeitsarmee. Die Tante arbeitete, es gab kein Brot, man gab uns nur jeweils 300-500 g. Wir waren sieben Personen: die Schwester, ich, ihre drei Kinder und die Großmama. Das Brot bekam sie nicht zu sehen. Alles, was wir besaßen, tauschten wir gegen Kartoffeln.

Mit 12 Jahren ging ich zum Kühe melken; für ein Tagwerk gab es 100 g Getreide.. Ein Jahr arbeitest du, gehst mit einem Sack los und bekommst Korn. Jeweils 1 Hektar Gemüsegarten bepflanzten wir mit Kartoffeln, aber bis zur neuen Ernte reichte das nicht.

Wir lebten in Listwjanka. Hier lernte ich den Großvater kennen, er war Russe und hieß Michail. Bis 1956 standen wir unter der Aufsicht der Kommandantur. Wir heirateten und zogen 1959 nach Beresowka um. Wir besuchten Schwester Anna, als sie aus dem Turuchansker Bezirk zurückgekehrt waren. Hier gab es eine Gemüse- und Milch-Sowchose – drei Abteilungen. Wir gingen arbeiten; wenigstens Geld gaben sie uns dafür: 40 Rubel Vorschuss und 50 Rubel Lohn. In Beresowka gab es ein Gefängnis, eine Hilfswirtschaft – große Felder; später wurde noch ein Feld an die Mähdrescher-Fabrik übertragen. Ich arbeitete mein Leben lang als Melkerin, aber die letzten 6 Jahre vor der Rente hörte ich ganz auf: die Beine schmerzten zu stark. Mein Mann, Michail Anrejewitsch Malinowskij, geboren am 6. Mai 1940, war Viehhüter, Traktorfahrer und Schmied.

Die Schwester meines Mannes aus Listwjanka heiratete einen Deutschen; nach der Abschaffu8ng der Kommandantur fuhr sie nach Kasachstan, 1996 zogen sie nach Deutschland. Sie bedauern nicht dort zu leben.

Wir waren 5 Kinder: Anna (geb. 1932), Maria (geb. 1937, Lidia (geb. 1939), Alexander (geb. 1950), Fjodor (geb. 1953).

Maria Iwanowna und Michail Andrejewitsch zogen zwei Söhne und eine Tochter groß. Zwei von ihnen wohnen in Beresowka , sie helfen der Mutter. Aber sie lebt allein (Anhang).

Anna Karlowna Grisman
Fjodor Andrejewitsch

Anna Karlowna wurde am 18. Mai 1942 geboren, Fjodor Andrejewitsch am 17. Oktober 1937.

Die Eltern, Anna Kondratjewna Kinstler und Karl Dawidowitsch, stammten, wie alle in Beresowka, aus dem Gebiet Saratow.

Nachdem sie aus der Heimat umgesiedelt worden waren, lebten sie an einem Mangan-Bergwerk bei Atschinsk.

Nachdem wir aus der Heimat umgesiedelt worden waren, lebten wir an einem Mangan-Bergwerk bei Atschinsk. Ich wurde 1942 geboren; Vater war zu der Zeit, ab März, bereits in der Arbeitsarmee. Insgesamt schickte er uns nur zwei Briefe, bat um Übersendung von wenigstens ein paar Kartoffelschalen, so sehr mussten sie dort hungern. Er wurde krank un starb.

Als ich 6 Jahre alt war, zogen wir mit Mama und beiden Großmüttern nach Beresowka. Ich absolvierte vier Schulklassen; dann wurde Mama krank, und ich musste die Schule verlassen und arbeiten. Anfangs erledigte ich alle möglichen, ungelernten Arbeiten, später war ich Melkerin und arbeitete so bis zur Rente.

Die Familie meines Mannes wohnte ebenfalls am Bergwerk, und dort lernten wir uns auch kennen.

Wir waren drei Kinder. Aber mit 3 Jahren und 8 Monaten starb mein Bruder und einen Tagt später, im Alter von 2 Jahren und 8 Monaten ,die Schwester- an Bauchfell-Typhus. Nun bin ich allein. Mein Mann und ich haben 3 Söhne, sie leben in Atschinsk. Wir wurschteln einstweilen allein in unserem Haus herum und kommen zurecht (Anhang).

Andrej Fjodorowitsch Markert

Geboren wurde er in der Ortschaft Krasnij Jar im Gebiet Saratow am 30.Oktober 1930.

Mutter hieß Dorothea, Vater – Friedrich. Wir waren 7 Kinder.

Sie brachten uns zur Bahnstation Atschinsk-2 und luden uns am Pack-Haus ab; von dort schickten sie uns in die Ortschaft Lodotschoje nahe Turezk im Bolscheulujsker Bezirk. Wir wohnten dort ungefähr 3 Monate, dann zogen wir nach Andrejewka in der Nähe von Lapschicha um, später dann in die entfernt gelegene kleine Siedlung „Sagotskot“, wo wir bis 1949 blieben.

Unsere Wirtschaft ließen wir dort zurück. Hier gaben sie uns Vieh für die Tiere, die wir zurück gelassen hatten.

Im Jahre 1942 holten sie den Vater und die 1922 geborene Schwester in die Arbeitsarmee, später auch noch eine weitere Schwester, die 1925 das Licht der Welt erblickt hatte.

Im Mai 1949 kamen wir nach Beresowka. Mama arbeitete als Geflügelwärterin. Ich musste ab meinem 12. Lebensjahr in der Sowchose allgemeine, ungelernte Arbeiten erledigen.

Das also erzählte Andrej Fjodorowitsch aus seinem Leben, ohne viele Worte zu machen. Er lebte allein; sein Sohn wohnte in der Stadt und kam gelegentlich, um ihn zu besuchen.

Im Oktober 2002 schied er aus dem Leben.

Emilia Fjodorowna Folmer
Ewald Andrejewitsch

Emilia Friedrichowna wurde am 27. Dezember 1940 geboren, Ewald Andrejewitsch 1937.

Aus der Heimat, aus Krasnij Jar, haben sie uns wie Vieh hierher getrieben. Alles haben wir Zuhause zurück gelassen: Kleidung, das gesamte Vieh, sogar meine Dokumente haben die Eltern dort gelassen. Später haben wir von hier eine Anfrage geschrieben, und dann hat man sie uns nachgeschickt.

Zuerst wohnten wir in Lapschicha, danach in Taruschino, und 1949 zogen wir nach Beresowka um. Wir waren noch sieben Personen, die kleine Schwester starb, als sie noch ein Kind war.
Mein Leben lang arbeitete ich auf der Farm, im Kälberstall, 40 Jahre waren es insgesamt. Kummer hatte ich genug!

Mein Mann wohnte zuerst mit den Eltern in Olchowka, dann zogen sie hierher um. 1959 lernten wir uns kennen und heirateten.

Ewald Andrejewitsch starb 2009. Emilia Friedrichowna ist heute krank, die Tochter ist ihr behilflich.

Friedrich Friedrichowitsch Diehl (Dühl, Düll)
Elvira Karlowna

Friedrich Friedrichowitsch wurde am 6. November 1936 geboren.

Elvira Karlowna kam am 13. April 1941 zur Welt. Auch sie wurden beide in Krasnij Jar geboren.

Unsere Familie traf in A5tschinsk ein; 5 Tage wohnten wir in der Militärbase, dann schickten sie uns ins Dorf Tatschik im Bezirk Biriljussy. Für die Ortansässigen waren wir die „Fritze“, die „Faschisten“. Wir waren furchtbar gekränkt, nicht einmal ins Nachbardorf durften wir ohne Erlaubnis gehen. Ich hatte bereits in der Armee gedient, war nach Hause zurück gekehrt. Aber nicht einmal nach der Armeezeit gaben sie uns einen Pass, sie wollten uns nicht gehen lassen. Im März 1958 floh ich von dort nach Beresowka, denn hier lebten bereits viele von uns. Dann, zwei Jahre später fuhr ich nach Tatschik und bekam einen Auswies. Ich arbeitete in der Sowchose bei verschiedenen Tätigkeiten, später schickten sie mich zum Lernen zu Traktoristen-Kursen. Und so arbeitete ich bis zu meiner Rente auf einem Traktor.

Natürlich ist es schrecklich, sich an die Kindheit zu erinnern. Sie aßen Wolfsmilch, „lebten“ im Sommer im Wald, aßen Gräser und räuberten Nester aus. Die Mutter wurde nicht zur Arbeitsarmee mobilisiert, weil sie Zuhause noch einen Säugling zu versorgen hatte. Aber den Vater holten sie, und er kam dort auch ums Leben.

Elvira Karlowna erzählte:

Ich war gerade erst geboren, da siedelten sie uns nach Sibirien aus.

Ich geriet mit meiner Mutter und Großmutter in ein tatarisches Dorf, in dem wir 9 Jahre lebten. Dann zogen wir ins Dorf Bokowoje um. Bei den Tataren war es schön, es sind gute Menschen. In der Schule lernte ich die tatarische Sprache, wir spielten zusammen mit ihren Kindern, und sie beschimpften uns auch nicht als Faschisten. Wir lebten in ärmlichen Verhältnissen, halb nackt, halb verhungert. Die Truhen, die wir hierher mitgebracht hatten, leerten wir vollständig aus: die Kleidung darin tauschten wir gegen Essbares. Die Kinder gingen von Nachbar zu Nachbar, und die gaben uns von dem zu essen, was sie gerade hatten.

Ich absolvierte 7 Klassen und lernte Russisch. Wir lebten in Bokowoje, aber zur Schule ging ich in Polewoje. In der Woche blieb ich im Internat. Wir mussten selber Brennholz und Wasser heranschleppen und Essen kochen. Ich weiß noch, dass ich ein schwarzes Satinkleid besaß. Am Samstag wäscht Mama es und erhitzt es im russischen Ofen, denn damals gab es Läuse. Und wieder ging es für eine Woche ab ins Internat.

Die Eltern gingen nicht sofort zur Arbeit, weil sie kein Russisch konnten. Sie wollten abwarten – wenn der Krieg aus ist, fahren wir wieder nach Hause. Und so lebten wir immer weiter; nicht einmal nach dem Sieg ließen sie uns irgendwohin. Im Jahre 1956 ließen sie uns aus der Aufsicht der Kommandantur frei, wir besuchten Mamas Schwester in Beresowka, im Januar 1957 zogen wir hierher, um hier zu leben. Hier brauchten sie Arbeitskräfte in der Sowchose, sogar ohne Ausweis stellten sie einen ein. Wir liefen mitten in der Nacht davon, denn auf gütige Art und Weise ließen sie einen nicht aus der Kolchose. Ich arbeitete als Melkerin, später als Kälberhirtin und die letzte Zeit vor der Rente als Fachkraft für künstliche Besamung.

In der Familie Diehl wuchsen drei Töchter auf. Zwei von ihnen, Walja und Ira, reisten in den 1990er Jahren nach Deutschland aus, dort gibt es jetzt auch drei Enkelkinder. Früher kamen sie jedes Jahr einmal zu Besuch nach Hause, aber jetzt haben sie es sich schon zwei Jahre nicht mehr ergeben. Auch Lida hat versucht dort zu leben, blieb aber nicht einmal ein Jahr dort und kehrte dann zurück.

Friedrich Friedrichowitsch starb am 22. Januar 2009.

Elvira Karlowna lebt allein. Häufig ko0mmt aus Atschinsk Tohter Lida und ist ihr ein wenig behilflich (Anhang).

Wladimir Fjodorowitsch Schadan
Jekaterina Genrichowna (Stirz)

Wladimir Fjodorowitsch wurde am 16. Juni 1940 geboren, Jekaterina Genrichowna am 28. Juli 1937.

Mein Großvater Christian Filippowitsch Margraf lebte im Kanton Reinwald, Bezirk Engels (heute die Siedlung Starizkoje); er war Großgrundbesitzer, besaß Vieh, und Land. 1933 verschleppten sie ihn nach Polewoje im Bezirk Biriljussy. Bei ihm waren seine drei Kinder: meine Mutter Frieda Christianowna (geb. 1912) und zwei weitere Mädchen – Selma (geb. 1910) und Emma (geb. 1914). Die ältere Schwester war bereits verheiratet, sie blieb in der Heimat. Sie gruben sich eine Erd-Hütte aus und gewöhnten sich nach und nach ein. Sie arbeiteten in der Kolchose „5. Januar“, die von den Verbannten organisiert worden war. In 2 km Entfernung befand sich eine Kolchose der Kersckaken (sibirische Völkerschaft; Anm. d. Übers.), die zu den Verbannten keinen Kontakt hatten. Sie blickten auf sie herab, als wären sie Volksfeinde. Großvater arbeitete an der Dreschmaschine, und eines Tages geriet seine Hand in den Mechanismus. Bis zur Bezirkshauptstadt waren es 40 km, es gab keine Fahrzeuge, keine Straßen. Und so starb er aufgrund des hohen Blutverlustes. Bald darauf starb auch die Großmama. Vater Schadan, ein Kuban-Kosak, wurde ebenfalls in die Taiga verschleppt. Dort lernten sie sich dann auch kennen. Die Mutter arbeitete, der Vater war Kolchos-Vorsitzender. Bei ihm war auf einem ganzen Hektar nicht geerntetes Getreide zurückgeblieben; dafür schickten sie ihn in die Arbeitsarmee, wo er ums Leben kam.

Wir lebten dort bis 1961. Ich absolvierte 9 Schulklassen, Dokumente besaß ich keine. Zusammen mit einem Freund floh ich hierher. Zuerst bezog ich in einer Wohnung Quartier. Später erhielt ich einen Ausweis, und man gab mir eine Wohnung. Ich heiratete.

Jekaterina Andrejewna erinnert sich:

Wir wohnten in Krasnij Jar. Herbst 1941. Ein sonniger Tag. Das Radio – eine Lautsprecher-Schüssel, aus der wir von unserer Umsiedlung erfuhren. Man transportierte uns mit dem Auto. Wir nahmen 2-3 Kissen mit, ein wenig Kleidung, und alles andere ließen wir zurück: unser Fünfwand-Haus mit dem Blechdach und einen Hof voller Vieh. Ich erinnere mich, dass sie uns zu einem Bergwerk brachten. Neun Familien in einer Baracke, ein einziger Ofen für die gesamte Baracke.

1943 starb der Vater, die Mutter blieb mit vier Kindern allein zurück. Sie arbeitete, bemühte sich uns durchzufüttern. Die halbverhungerten Menschen wurden zum Bäume fällen in den Wald getrieben. Sie erkältete sich und war die folgenden vier Jahre schwer krank. Wir gingen mit unseren Kissen hungernd durch Aidaschka, durch den Fluss und tauschten sie gegen etwas Essbares ein. Sie gaben uns dafür gefrorene Runkelrüben, und wir freuten uns. Und dann fanden wir auch noch zwei gefrorene Kartoffeln. Aus dem Müll sammelten wir Kartoffelschalen. Im Frühling gruben wir Türkenbundlilien aus. Der ältere Bruder ging zur Jagd und sammelte Bärlauch. Im Herbst suchten wir nach Ähren. Und wenn uns der Abschnittsbevollmächtigte auf dem Feld erwischte, verprügelte er uns und nahm uns die Ähren weg. Entweder nimmt er sie mit – oder er verstreut sie überall. Wir gingen von Haus zu Haus und bettelten um etwas zu essen. Manchmal bitten sie uns, für sie zu arbeiten, Holz zu hacken oder so etwas. Dann geben sie uns einen Becher Magermilch, ein Stückchen Brot, eine Kartoffel. Und so überlebten wir den ersten Winter in Sibirien.

1947 brachten Bekannte uns nach Beresowka; wir waren drei Familien. Die Schwestern und der Bruder fingen in der Sowchose an zu arbeiten und ich – als Kindermädchen. Bald darauf starb die Mama, und ich ging ebenfalls zum Arbeiten in die Sowchose. Mit der Hand mähten wir Heu. Die Sonne geht auf, wir versammeln uns alle im Pferdehof, und dann geht’s hinaus aufs Feld. Die Sonne geht unter, wir gehen liedersingend nach Hause, als wären wir überhaupt nicht müde.

Zur Schule gehen konnte ich nicht. Ich beendete die erste Klasse, und das auch nur ganz heimlich: der Bruder ließ mich nicht, er brauchte mich Zuhause, damit ich die Hausarbeit erledigte und Essen kochte. Mein ganzes Leben lang, bis 1986, bis zur Rente, war ich als Melkerin tätig. Jetzt hat mich meine Gesundheit im Stich gelassen, und ich sitze Zuhause.

Mein Bruder wohnt in Deutschland, eine Schwester ist zurück in die Heimat, nach Engels, gegangen. Aber hier im Dorf wohnen nur die Neffen, die Kinder der zweiten Schwester, die Romanows.

Jekaterina Andrejewna starb am 22. November 2009 (Anhang).

Emilia Kasparowna Gorn

Sie wurde am 5. Januar 1921 in der Ortschaft Krasnij Jar geboren. Uns liegt eine Kopie ihrer Geburtsurkunde vor (Anhang).

1939 habe ich geheiratet, bald darauf wurde unsere Tochter geboren. Mit dem kleinen Kind auf dem Arm kam ich in Sibirien an. Wir wurden sofort im Bogotolsker Bezirk untergebracht. Nach einem Jahr fuhren wir aus eigenem Willen in den Turuchansker Bezirk. Dort wohnten wir 16 Jahre. 1959 zogen wir nach Beresowka um, dort wohnten meine Eltern. In den Turuchansker Bezirk brachte uns der Schwiegervater, damit sie die Schwägerin, die Ehefrau des Bruders meines Mannes, nicht in die Arbeitsarmee holten. Er selber starb, aber die Schwägerin hatte ein dreijähriges Kind – man hätte sie also schon in die Arbeitsarmee mobilisieren können. Sie beriefen Frauen ein, deren Kinder über drei Jahre alt waren. Deswegen brachte der Großvater sie fort, damit das Kind nicht als Waise zurück blieb.

Mich nahmen sie nicht, weil ich noch ein ganz kleines Kind hatte. Aber mein Vater befand sich in der Arbeitsarmee, und der Bruder kam dort ums Leben.

Lebenslang habe ich in der Viehzucht gearbeitet, lange Zeit als künstliche Besamerin. 1976 ging ich in Rente. Die Arbeitsjahre in der Kolchose wurden damals nicht mitgezählt, später hat man sie bei der Lebensarbeitszeit mit angerechnet. Jetzt bekomme ich eine gute Rente und bereue mein Leben nicht. Meine älteste Tochter lebt in der Ukraine. Aber sie lebt dort schlecht, in ärmlichen Verhältnissen. Die jüngere Tochter wohnt in Beresowka, der Sohn – auf Sachalin.

Mein Bruder und meine Schwester sind nach Deutschland ausgereist. Sie haben dort ein gutes Leben. Häufig schreiben sie Briefe, und der Bruder hat eine Fotografie von seinem Haus geschickt (Anhang). Eine der Schwestern wohnt in Atschinsk.

Emilia Karlowna starb am 18. März 2009.

Maria Jakowlewna Siebert

Sie wurde am 07. Oktober 1935 in der Ortschaft Basel, Bezirk Unterwalden (heute Podlesnowsker Bezirk) im Gebiet Saratow geboren.

Zusammen mit den Eltern brachten sie uns Ende September 1941 in Güterwaggons zur Bahnstation Kamartschaga; zwei Wochen waren sie bis dort unterwegs. Von dort schickten sie uns in den Schalinsker Bezirk, in das Dorf Pokrowka (Aber jetzt wohne ich im Dorf Malaja Pokrowka), 25 km von der Bezirksstadt und dem Pokoinsker Dorfrat entfernt. Sie brachten uns sofort im Klub unter, später dann bei anderen Familien, bei Ortsbewohnern. Später bekamen wir einen großen Laden als Wohnraum.

Unsere Familie war groß. Ich kam im Alter von 6 Jahren dorthin.

Meine Eltern waren Jakob Andrejewitsch Siebert und Sophia Iwanowna.

Kinder: Jakob (bei den Deutschen war es üblich, dem erstgeborenen Sohn den Vornamen des Vaters zu geben), Andrej, Karl, Maria, Fjodor, David, Alexander.

Den Vater holten sie 1941 in die Arbeitsarmee – nach Reschoty. Nach einer gewissen Zeit kam seine Todesnachricht. Mama heiratete später den Deutschen Alexander Iwanowitsch Taak. 1948 bekam ich noch einen Bruder – Iwan, 7und 1948 – Nikolaj. Wir sind zu neunt.

Es stellte sich heraus, dass die Todesbenachrichtigung über den Vater falsch war; er war noch am Leben. Er kehrte nach Hause zurück; 30 km musste er zu Fuß gehen, unterwegs traf er Bekannte, die ihm sagten, das seine Frau inzwischen wieder geheiratet hatte. Er setzte sich auf einen Baumstamm, saß eine Weile und ging dann den Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Er ließ sich nach Mittel-Asien zum Bergbau anwerben. Dort blieb er. Die Brüder besuchten ihn dort. Er wollte so gern seine einzige Tochter sehen und bat deshalb die Brüder, mich mitzubringen. Aber ich konnte mich nicht aufraffen: ich hatte ein kleines Kind, und Mutter weigerte sich, es für eine Weile bei sich zu haben. Er schickte mir ein Paket: Stoff für ein Kleid, ein Kopftuch und eine Menge getrockneter Früchte. Und nun ist er schon nicht mehr am Leben, so dass ich ihn nicht ein einziges Mal mehr gesehen habe. Ich weiß es noch, als wäre es erst heute gewesen: als sie den Vater damals in die Arbeitsarmee fortbrachten, stand ich an dem kleinen Fenster. Sie transportierten ihn mit einem Pferd ab. Ich weinte den ganzen Tag. Eine Woche später wurde der jüngste Bruder Saschka geboren.

Nachdem die Mutter nun neun Kinder zu versorgen hatte, arbeitete sie Tag und Nacht. Alle Sachen, die wir von Zuhause mitgebracht hatten, tauschten wir gegen Nahrung ein. Zum Schluss war nur noch ein Gegenstand übrig, den wir hätten weggeben können – das Bild „Adam und Eva“. Die Mutter wollte das nicht, aber es gab keinen anderen Ausweg mehr, als alle vor Hunger schon ganz geschwächt waren. Mit Gebeten ging sie durch das Dorf, bekam ein Gläschen Milch – nur ein einziges Schlückchen für jeden. Und sie überlebten! Wir zogen, wie man sagt, bettelnd durchs Leben, nahmen jedoch niemals ohne Erlaubnis irgendetwas Fremdes an. Seit frühester Kindheit hatte man uns Gottes Wort gelehrt und zum Beten angehalten. Die Russen lebten nicht schlecht. Bei der Nachbarin im Gemüsegarten gediehen, hinter dem Zaun, Mohrrüben, wir haben niemals auch nur eine herausgezogen. Sie sagte zur Mutter: „Was du nur für Kinder hat! Sie haben noch nie etwas gestohlen!“ Einmal sah Jascha unter dem Kolchos-Speicher Getreide liegen. Er ging zum Vorsitzenden und erzählte ihm das. Zusammen gingen sie dort hin, sammelten das Korn ein und bekamen mehrere Säcke voll. Da gab ihm der Vorsitzende einen Sack Getreide, Jascha mahlte es und kochte daraus Brei. Das war für uns wie ein Feiertag. Aber der Sack war schnell aufgebraucht.

Im Herbst, nach der Ernte, sammelten wir auf dem Feld Ähren auf. Aber wenn sie uns dabei erwischten, verprügelten sie uns. Auch alte Kartoffeln hoben wir vom Acker auf; die buken wir auf dem Ofen. Gut hat das geschmeckt!

Im Frühling, sobald der Schnee geschmolzen war, gingen wir erneut aufs Feld, um heruntergefallene Ähren aufzusammeln, die schon den ganzen winter unter dem Schnee dort gelegen hatten. Ab am meisten Nahrung fanden wir im Wald: wir legten uns auf den Bauch und rissen direkt mit dem Mund frische Kräuter ab. Wir gruben Türkenbundlilien aus, dann Beeren und Pilze. Im Frühjahr sammelten wir Kartoffelkeime und pflanzten sie ein: Samen-körner gab es nicht, aber schließlich wuchs ja irgendetwas.

Wir bemühten uns nach allen Kräften, uns im ersten Winter in Sibirien irgendwie durchzukommen. Jascha sammelte zusammen mit der Mutter auf dem Feld lange Strohhalme; die säuberten sie, bügelten sie platt und fertigten Körbe und Taschen daraus an. Die fertigen Sachen brachte sie dann in die Bezirksstadt, erhielt dafür fertig gebackenes Brot. Mama strickte für die Russen auch Schals und Jäckchen für die Hochzeit. Mal gaben sie uns gefrorenen Kohl, mal Kartoffeln. Einmal bekamen wir einen ganzen Eimer Kartoffeln, aber die Ratten schleppten sie alle fort. Jascha wollte sie holen, aber es war keine einzige mehr da! Er kroch in den Keller hinunter, und dort liegen sie – alle angeknabbert.

Mama konnte wunderbar Handarbeiten anfertigen. Sie hatte sehr schöne Hände. Wenn sie strickte, dann küssten die russischen Mädchen, die zu uns kamen, ihre Hände. Die Russinnen konnten nicht gut stricken; anstelle von Socken strickten sie einfach einen Schlauch ohne Fersen. Mama strickte Tag und Nacht, wenn sie Zuhause war. Jascha hackte kleine Holzklötzchen zurecht und warf sie in den Ofen, und sie saß davor und strickte, wenn es Bestellungen gab. Gegen Morgen nickte sie immer ein, und dann war es auch schon Zeit zur Arbeit zu gehen.

Sie arbeitete in der Kolchose, auf den Feldern. Wir mussten auf das Feuer im Ofen achten, denn wir besaßen keine Streichhölzer, um es später erneut wieder anzuzünden. Den Kleinen traute Mama nicht, ich musste die Aufgabe übernehmen. Aber ich wollte mich auch auf den Weg machen und Kartoffeln suchen, und so lief ich einmal fort, und als ich wieder nach Hause kam – war das Feuer ausgegangen. Und die Mutter wartete schon auf mich. Ich lief vor ihr fort, durchs ganze Dorf, aber sie holte mich ein und versetzte mir mit dem Riemen in der Hand eine Tracht Prügel.

Aus dem Krieg kehrte ein Soldat aus der Nachbarschaft zurück; er gab Mama seinen Uniformmantel. Mit der Hand nähte sie mir daraus ein Jäckchen, eine Nähmaschine hatten wir nicht. Es wurde nicht besonders hübsch, und ich genierte mich es zu tragen. Ich trat aus dem Haus, ziehe es, verstecke es unter einer Brücke, und renne halb angekleidet zur Schule – bis die Nachbarin es der Mutter erzählte. Später bekam die Mutter noch ein Stück Zeltplane geschenkt. Daraus nähte sie Karl eine Hose und mir – ein Kleid. Abends ziehen wir die Sachen aus und legen sie neben das Bett. Samstags werden sie gewaschen, und dann ziehen wir sie wieder an.

Im Haus wurden wir von Flöhen und Wanzen zerbissen. Einmal, als die Mutter zur Arbeit gegangen war, trugen wir unsere Lumpen nach draußen, breiteten sie innerhalb der Einzäunung aus und schliefen ein. Und den kleinen Sascha in seinem Holztrog, der ihm als Wiege diente, stellten wir neben uns hin. Es kam ein Wolkenbruch, aber wir schliefen ganz fest und hörten nichts. Der Trog wurde völlig unter Wasser gesetzt, der Kleine verschluckte sich schon, und wir hörten immer noch nichts. Gut, dass die Nachbarin wachsam war und herbei gelaufen kam. Später erlöst eine russische Nachbarin ihn vom Nesselfieber. Er war ganz mit Krusten bedeckt und weinte Tag und Nacht. Man bedauerte uns, sah, wie Mutter sich mit uns abplagte, und sie war so gut, so lieb. Wie sehr sie sich mit uns abgequält hat: es gab doch nichts zu essen, zudem die Krankheit, so dass sie nachts nach draußen ging, um dort zu Gott zu beten, damit er den Kleinen zu sich holte. Einmal holte Mutter uns zusammen und sagte: „Lasst uns das Häuschen weißen, und dann wollen wir sterben, damit hinter uns kein Schmutz zurückbleibt“. Aber dann haben wir mit Gottes Hilfe überlebt, überstanden die Zeit bis zum Sommer. Wir dachten immer nur: nach Hause, nach Hause! Nun werden sie uns bald gehen lassen, und dann fahren wir fort von hier, auch wenn wir auf allen Vieren kriechen müssen – falls sie uns nicht von hier wegbringen.

Es war so kränkend; sie beschimpften uns als Faschisten, schlugen uns. Aber später freundeten sich unsere Burschen mit den Russen an, und sie kamen zu uns auch zu Besuch. Unsere Jugendlichen trafen sich im Klub zum Tanzen

Jascha bekam auch seinen Teil ab: er war der Älteste. Er war klug und wollte Soldat werden. Deswegen nannten wir ihn „General“ – auch als wir schon erwachsen waren. Drei Schulklassen absolvierte er noch in der Heimat, dann verschleppten sie uns. Die Lehrer sagten zur Mutter: versteck‘ die Bücher vor ihm, sonst fängt er noch an zu lesen; dabei weiß er doch sowieso schon alles. Unsere Mutter konnte Deutsch lesen und schreiben. Aber ich kann es nicht schreiben. Und inzwischen habe ich auch niemanden mehr, mit dem ich auf Deutsch reden kann.

Mutter wollte sich Arbeit in einer Sowchose im Pjerwomajsker Bezirk suchen, aber mit so vielen Kindern wurde sie dort nicht eingestellt: „Du brauchst nur ein kleines Gärtchen für deine Kinder-Horde!“. Und ich rannte 1954, als ich 19 Jahre alt war, in die Sowchose, um wenigstens ein bisschen zu verdienen. In der Nacht traf ich mich mit meiner Freundin, und wir liefen fort. Es handelte sich um die Sowchose „Pjerwomaijskij“ im Mansker Bezirk. Sie suchten mich, verlangten diesen Vorgesetzten zu sprechen, damit man mich zurückschickte. Ich musste dort David Derr heiraten. Sie hatten ein etwas leichteres Leben, die Mutter verstand Russisch und hatte Arbeit; es war eine gute Familie. Sie sind auch von der Wolga. Nach der Hochzeit war das Leben besser. Ich lebte dort bis 1974. Dann zogen wir nach Atschinsk. Aber Derr und ich ließen uns scheiden, und seit 1986 lebe ich in dem Dorf Malaja Pokrowka. Meine Mutter wohnte mit dem Sohn in Atschinsk, sie wurde 97 Jahre alt. Zuletzt war sie schwer krank: sie stürzte, brach sich das Schlüsselbein und musste liegen. Sie benötigte Pflege; ich holte sie zu mir, und sie lebte dann bei mir.

Jetzt leben die Brüder in Atschinsk, außer Karl und Fjodor – die sind nach Deutschland ausgereist. Und jeder von ihnen hat dort auch zwei Töchter mit ihren Familien wohnen. David ist auch ausgereist, allerdings zurückgekehrt, nachdem er eineinhalb Jahre dort geblieben war: seine Frau wurde schwer krank, und die Ärzte rieten, nach Russland zurückzugehen, aber die Kinder sind dort geblieben. Auch Alexander reiste später aus, kam aber nach zwei Jahren wieder zurück. Ich wollte auch fahren, aber mein russischer Mann war dagegen, und so verzichtete ich. Ich bin nicht ein einziges Mal dort gewesen; die Verwandten sagen, ich soll zu Besuch kommen, aber ich möchte das schon nicht mehr. Hier wohnen Bruder Iwan, und meine Nichte. Und unseren Jascha gibt es bereits nicht mehr.

Es gibt auch noch andere Deutsche in unserem Dorf: Andrej und Katja Stürz, Jakob Klass. Er kam in den 1990er Jahren aus Kasachstan hierher (Anhang). Aber sie sind alle noch jung - hier geboren.

Maria Jakowlewna ist eine sehr umgänglicher Mensch, sie mag gern erzählen, aber wir baten sie außerdem auch noch, in einer ruhigen Minute ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Hier schüttete sie ihr Herz „unter vier Augen“ auf einem Blatt Papier aus. Während sie schrieb, meinte sie: „10 Blätter würden nicht reichen, um alles aufzuschreiben. Das Schlimmste habe ich gr nicht aufgeschrieben. Maria Jakowlewna schenkte uns ein gesticktes Gebet in deutscher Sprache. Das hatte sich noch von der Wolga aufbewahrt (Anhang).

Jekaterina Friedrichowna Spieß (Diehl)
Heinrich Genrichowitsch

Jekaterina Friedrichowna wurde am 14. Februar 1942 geboren.

Heinrich Genrichowitsch erblickte am 26. März 1936 in der Ortschaft Krasnij Jar im Gebiet Saratow das Licht der Welt.

Die Mutter erzählte, dass sie alles Zuhause zurückgelassen hätten, das Vieh brüllte ihnen hinterher, als ob es verstand, dass ihre Herren sie nun im Stick ließen. Viel haben sie erleiden müssen! Was unsere Eltern nicht alles durchgemacht haben! Sie hungerten, gingen betteln. Ihre gesamte Kleidung tauschten sie gegen Essbares ein. Aber sie überlebten. Die Mutter arbeitete in der Sowchose. Als alle in die Arbeitsarmee einberufen wurden, mobilisierte man sie nur meinetwegen nicht: ich war gerade erst geboren. Meinen Vater kenne ich nicht, er verhungerte auf dem Weg zurück aus der Arbeitsarmee. Sie entfernten den Kranken aus dem Zug, und das war’s. Er verschwand spurlos.

Heinrich Genrichowitsch erzählte ebenfalls nur wenig: Ich kam als Kind nach Sibirien – nach Polewoje in Bezirk Biriljussy. Sie jagten uns aus dem Haus, als wären wir Hunde. Und dann transportierten sie uns wie Vieh. Wohin sie uns brachten – das wussten wir nicht. Unterwegs starb meine Schwester.

Die Eltern arbeiteten, um uns durchzubringen und großzuziehen. Sie pflügten und zogen den Pflug dabei selber hinter sich her. Für die Nachbarn erledigten sie Arbeiten, damit sie dafür Kartoffeln oder Brot bekamen.

1956 zogen wir nach Beresowka. In den 1970er Jahren fuhr ich in die Heiat. Unser Haus steht dort noch.

Jetzt lebt Jekaterina Friedrichowna allein. Oft bekommt sie Besuch von ihrer Tochter und ihrem Sohn aus Atschinsk (Anhang).

Heinrich Genrichowitsch starb am 22. Dezember 2009.

Friedrich Karlowitsch Diehl
Anna Nikititschna

Er wurde am 22. Dezember 1929 in der Ortschaft Krasnij Jar geboren.

Im August 1941 waren wir gerade auf dem Feld bei der Heuernte, als die Meldung kam, dass wir ausgesiedelt werden sollten. Wir verstanden nicht, was es mit diesem Sibirien auf sich hatte. Uns 12-jährigen Burschen war alles egal. Das Vieh wurde an den Staat abgegeben, ich half dem Vater die Kuh fortzubringen. Danach wurden wir, mehrere Familien, auf Fahrzeuge verladen und zur Bahnstation in der Stadt Engels gebracht. Auf dem Bahnsteig luden sie uns unter freiem Himmel ab, und hier mussten wir auch übernachten. Es regnete, alles war schnell durchnässt. Erst am folgenden Tag stiegen wir in Güterwaggons ein – Viehwaggons. In der darauf folgenden Nacht fuhren wir los. Ende September trafen wir an der Bahnstation Atschinsk-2 ein. Anschließend brachte 7uns ein Lastkahn auf dem Tschulym nach Nowosjelowo im Bezirk Biriljussy. Am Ufer warteten Fuhrwerke auf uns. Wir wurden aufgeladen und zum Satschulymsker Dorfrat gebracht, in das Dorf Nischnij Tjuchtet. Dort brachten sie uns in der Wohnung einer Ortsansässigen, Anastasia Bogdanowa, unter. Wir waren 5 Kinder und die Eltern.

Die Eltern fingen an zu arbeiten; es gab dort die Kolchose „Roter Arbeiter“. Später hoben sie für sich eine Erd-Hütte aus. Den ältesten Bruder und den Vater holten sie im Januar 1942 in die Trudarmee, sie arbeiteten dort in der Holzfällerei. Der Vater kehrte 1946 zurück, aber der Bruder blieb dort. Er kam zurück, als wir noch in der Erd-Höhle hausten, später kauften wir ein Holzhäuschen. Die Kuh, die sie uns seinerzeit weggenommen hatten, wurde uns vom Staat ersetzt. Wir fuhren nach Biriljussy, um das Vieh zu holen.

Im ersten Herbst und Winter gab es nichts zu essen. Die Menschen hoben im Herbst Gemüsegärten aus, wir gruben den Boden um, um wenigstens ein paar Kartoffeln zu finden.

Dort heiratete ich Anna Nikititschna Siwakowa.

1948 machte ich eine Ausbildung zum Traktoristen, von 1949 bis 1989 arbeitete ich als Traktorfahrer. Als 1960 die Kommandantur abgeschafft wurde, zogen wir nach Beresowka. Di Kinder sollten zur Schule gehen, eine Ausbildung machen, denn dort gab es nur eine Grundschule, und man kam dort weder hin noch zurück.

Sie gaben uns ein Holzhäuschen, in der wir dann mit 7 Leuten wohnten: wir, vier Kinder und die Mutter. Meine Frau erledigte ungelernte Arbeiten in der Sowchose, später war sie übe 19 Heizperioden als Heizerin in der Schule tätig. Sie erwarb sich eine kleine Rente. Aber die Kinder helfen ihr. Sie sind alle selbständig.

Schwester Anna reiste in den 1990er Jahren nach Deutschland aus. Dort leben sie gut: sie haben eine schöne Wohnung und bekommen eine gute Rente. Dreier ihrer Kinder sind ebenfalls dorthin ausgereist. Oft schicken sie Briefe, und es liegen immer Fotos bei.

Am 1. Februar 2003 starb Friedrich Karlowitsch (Anhang).

Seine Frau verschied noch früher, am 22. November 2002.

Sie hatten 4 Kinder: Nadeschda (geb. 1953), Maria (geb. 1955; sie lebt bereits nicht mehr), Jekaterina (geb. 1958), Alexander (geb. 1961).

Irma Jakowlewna Eirich

Sie wurde am 24.März 1941 in der Ortschaft Gnadenfeld, Bezirk Krasnokut, Gebiet Saratow, geboren.

Mama, Großmama und ich wohnten dort zusammen. Nach Sibirien brachte Mama mich, als ich noch ganz klein war. Wir wurden in der Ortschaft Matwejewka im Kasatschinsker Bezirk untergebracht. Dort wuchs ich auf. 1953 heiratete Mama einen Russen in einem anderen Dorf. Später zogen wir noch einmal in die Ortschaft Kemskoje um. 1971 zog ich nach Atschinsk, hier lebten meine Stiefschwestern.

Was mussten wir alles durchmachen, nachdem wir nach Sibirien geraten waren! Man bewarf uns mit Steinen, beschimpfte uns als „Faschisten“. Mama arbeitete auf dem Viehhof; manchmal molk sie ein Schäfchen und brachte mir ein Fläschchen Milche mit. Pro Woche bekam man 1 kg Mehl, davon wurde mit kochendem Wasser eine Mehlsuppe gekocht. Wir aßen Gras, sammelten auf dem Feld erfrorene Kartoffeln. Die russischen Nachbarn besaßen einen Entrahmer; alle brachten die Milch zum Entrahmen zu ihnen. Mama schickte mich auch dorthin, und manchmal schenkte mir dann jemand ein wenig Magermilch ein. Ich wuchs heran, fing an zu arbeiten, hütete Schäfchen. Mama fängt ein Schäfchen ein und melkt ein wenig Milch für mich.

!952 oder 1953 erhielt Mama für ihre gute Arbeit eine Prämie – einen Eimer voll Butter, Honig, Filzstiefel – und später gaben si uns ein Kälbchen. Als sie heiratete, wurde es geschlachtet. Zuhause war Mama unsere Lehrerin, sie war streng und alle schätzten sie sehr.

Als ich in die Schule kam, musste ich ebenfalls Ungerechtigkeiten ertragen. Egal, was ich auch antworte – eine 1 bekomme ich nie. Immer nur Zweien und Dreien. Die Lehrerin war böse: “Setz Dich! 4!“ Und der andere sagt bloß ein paar Worte – und dem gibt sie eine 3. Und kein Mensch hat Mitleid mit dir. Wer brauchte uns denn schon? Und wir hatten keine Kindheit, keine Jugend.

In der letzten Zeit hat Irma Jakowlewna in dem Dorf Malaja Pokrowka gewohnt. In den 1990er Jahren reiste sie nach Deutschland aus, und nahm auch ihre Tochter und den Schwiegersohn mit. Dort hat sie, nach eigenen Worten, ein gutes Leben.

Karl Karlowitsch Pabst
Lidia Friedrichowna (Franz)

Lidie Friedrichowna wurde am 15. Juli 1944 geboren.

Mama erzählte, dass die Mitteilung aus dem Dorfrat kam, sie sollten sich auf ihre Aussiedung vorbereiten. Sie gaben uns 48 Stunden, um unsere Sachen zu packen. Wir buken Brot, trockneten es zu Zwieback. Sie nannten uns das Gesamtgewicht, das wir an Kleidung und Essen mitnehmen durften; heute weiß ich schon nicht mehr, wieviel das war.

Mama hieß Maria Friedrichowna; sie wurde 1910 geboren; der Vater, Friedrich Petrowitsch Franz, erblickte 1908 das Licht der Welt. Sie fuhren mit zwei Kindern ab: Friedrich (geb. 1937) und Viktor (geb. am 6. August 1941. Er war einen Monat alt, als wir unser Zuhause verlassen mussten. Zusammen mit uns fuhren auch Mamas beiden Schwestern und der Bruder.

Sie brachten uns in eine Kolchose im Bolscheulujsker Bezirk. Wie sollten sie hier leben? Nichts gab es hier. Die Leute hatten bereits Kartoffeln ausgegraben, baten um Obstgärten, um diese nochmals umzugraben – und da fanden wir in der ersten Zeit noch viele Kartoffeln
für uns. Einige Verwandte gerieten nach Beresowka, es gab Kontakte zu ihnen. Wir erfuhren, dass es hier in der Sowchose große Felder gab, dass das Leben besser war: dort haben sie Arbeit. Vater floh zusammen mit einem Freund und dem Ehemann der Tante in der Nacht aus dieser Kolchose. Man stellte sie in der Sowchose ein und gab ihnen vier Pferde, damit sie ihre Familien nachholen konnten. Vater kam, um uns abzuholen, und wir machten uns, ebenfalls mitten in der Nacht reisefertig. Mamas Schwester Emilia weint: hier bleibe ich nicht, gebt mir wenigstens ein Pferd – und ich komme mit euch mit. Wir luden alles Sachen auf, alles, was nur ging, und machten uns auf den Weg. Dort lebte Vaters Kusine, und er bat sie darum, auf die zurückgebliebenen Sachen achtzugeben. Sie brachten uns in der Siedlung Traktowyj unter, die zu eben dieser Sowchose gehörte (sie lag an der Krasnojarsker Trasse, dort, wo jetzt die Fahrzeuge bei der Abfahrt aus Beresowka zur Trasse vollgetankt werden. Sie existierte bis 1965. Später begann die Erweiterung der Sowchose, und die Siedlung zerfiel). Die Sowchose war groß: die 1. Abteilung – das heutige Dorf Orlowka, die 2. Abteilung – die Siedlung Traktowyj, die 3. Abteilung oder Brigade, wie man sie damals nannte – die heutige Siedlung Berewowyj. Und das Zentralgehöft nannte sich das „vorstädtische“ (heute die Siedlung Gornyj). Später nannte man die Sowchose Gemüse- und Milch-Sowchose, danach – Geflügelzucht-Sowchose. Wasja Lewizkij war Leiter der Personal-Abteilung in der Sowchose, er gab den Abteilungen auch ihre Namen: Orlowka, Traktowyj, Beresowka. Später war Tolja Uskow Chef der Kader-Abteilung. Nossenko war der Direktor, anschließend Semjonow.

Im Frühjahr 1942 mobilisierten sie Vater in die Trudarmee in die Stadt Kirow – zur Holzfällerei. 1943 wurde er ausgemustert; er war dort schwer erkrankt. Es hieß, dass er es nicht bis nach Hause schaffen würde, so geschwächt war er. Doch er überlebte und wurde wieder gesund. Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, arbeitete er als Pferdepfleger.

1944 wurde ich geboren. 1945 verlegte man uns nach Orlowka. 1949 starb der Vater. Die Mutter heiratete 1951. Sie brachte 1952 noch Bruder Andrej und 1954 Anna zur Welt. In Orlowka lebte der verbannte Finne Roine, den man von der Kolyma hierher verbannt hatte. Später wurde er rehabilitiert. Ich erinnere mich, wie sehr er geweint hat! Er stammte aus Wyborg, dort hatte er seine Familie, seinen Sohn. Später reiste er dorthin, um seinen Sohn zu besuchen.

In Orlowka gab es eine Grundschule, ich absolvierte dort 4 Klassen. Und ab Juli 1957 begann bereits mein offizielles Berufsleben. Ich arbeitete schon in der Sowchose, als ich noch zur Schule ging: wir sortierten Kartoffeln im Keller, jäteten die Gemüsefelder, im Herbst ernteten wir das Gemüse, sammelten herabgefallene Zweige und Äste von den Feldern, und im Sommer waren wir mit Heumahd und Silage beschäftigt. Ab meinem 15. Lebensjahr war ich im Kälberstall tätig. Ich arbeitete sehr hart; der Tierarzt rief mich zum Arbeiten in den Kälberstall. Ich half Nina Plywskaja bei der Pflege ihrer Kälberherde. Ein Jahr blieb ich dort, dann ging ich zum Melken: mir gefiel die Arbeit mit den Kühen besser. In Beresowka heiratete ich und ging dann au8ch gleich zum Kühe melken. Danach stellten sie mich als zuständige Person für künstliche Besamung ein. Zuvor erlernte ich das in der Praxis bei der Ljalinaja (es gab in der Stadt eine Zootechnikerin mit diesem Namen, sie hatte eine Station für künstliche Besamung). Ich begann mit dieser Arbeit 1968, und 1969 schickte mich der Direktor, Fjodor Stepanowitsch Batko für 5 Monate zur Ausbildung nach Krasnojarsk. Er sagte: „Ich brauche Leute, die Ahnung haben“. Am 23. Februar kehrte ich zurück, arbeitete eine Zeit lang, und brach dann auf, um meine Examina abzulegen. F.S. Batko fuhr in die Bezirksstadt; neuer Direktor wurde Tschernjawskij, später Pankratenko.

Meinen Mann versetzten sie als Verwalter nach Orlowka. Am 16. März 1974 zogen wir um.

Am 1. April desselben Jahres wurde die Sowchose aufgeteilt: es entstand die Jastrebowsker Sowchose, und Beresowka wurde dorthin übergeben. Hier befasste man sich mit Viehzucht. Wir waren in Orlowka und gehörten zur Geflügel-Sowchose. Desweiteren gehörten noch Karlowka und Masul mit dazu.

Aus Jastrebowo treffen Oberbuchhalter Bugajow und Wladimir Arsentjewitsch Tschukanow ein und rufen dazu auf, dorthin umzuziehen. Aber wir blieben in Orlowka. Im Frühling 1976 zogen wir nach Atschinsk. Mein Mann arbeitete in der Holzverarbeitungsfabrik und ich – in der Landwirtschaftstechnik.. Ein Jahr lebten wir so, dann schlug Batko meinem Mann als Verwalter vor. Ab dem 1. April 977 waren wir dann wieder in Beresowka.

Karl Karlowitsch mischt s8ich in die Unterhaltung ein:

Ich wurde am 23. Dezember 1938 in der Ortschaft Krasnyj Jar geboren. Im September 1941 brachten sie uns zur Bahnstation Bogotol und schickten uns dann weiter nach Kamenka im Bogotolsker Bezirk.

Nach Sibirien kamen die Eltern Amalia Friedrichowna und Karl Kasparowitsch zusammen mit den Eltern des Ehemannes - Kaspar Jegorowitsch (geb. 1868) und Sophia Kasparowna) sowie ihren beiden Kindern: ich und Schwester Lidia. Hier bekamen sie noch drei weitere Kinder: Iwan – 1949, Walentina – 1951 und Viktor – 1954.

Ich habe noch Dokumente aufbewahrt, welche bei der Aussiedlung an alle ausgegeben wurden sowie die Rehabilitationsbescheinigungen derer, die am Leben geblieben sind (Anhang).

Vater war von 1942 bis 1946 in der Arbeitsarmee in Krasnoturinsk im Gebiet Swerdlowsk. Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war (jetzt steht hier schon ein Haus…), arbeitete er immer im Bereich der Technik. Als die Kolchose ein Fahrzeug kaufte, war er der erste Fahrer. So arbeitete er bis an sein Lebensende (1959). Die Mutter war bei verschiedenen ungelernten Arbeiten in der Kolchose eingesetzt, und als sie nach Lebedewka umzogen – als Kindermädchen im Kindergarten. In Kamenka absolvierte ich die Grundschule, und die 5. Klasse besuchte ich in der Lebedewsker Schule, die 2 km entfernt lag. Dann zogen wir dorthin um. Nach der 7. Klasse ging ich arbeiten – erledigte verschiedene Hilfsarbeiten. Ich habe alle Tätigkeiten durchlaufen, nur Viehwärterin war ich nicht.

Im Dezember 1957 holten sie mich zur Armee. 1960 wurde ich auf Befehl N.S. Chruschtschows demobilisiert, als er nämlich den Armeebestand auf 1 Million 200.000 Mann kürzte. So habe ich die drei Jahre Militärdienst nicht vollständig abgeleistet. Mein militärisches Spezialgebiet war die Funk- und Radio-Technik, ich diente in der UKW-Station für mittlere und hohe Leistung.

Nach dem Armeedienst kam ich nach Lebedewka und arbeitete als Mechaniker in der Radio-Zentrale. 1961 kündigte ich, und wir zogen nach Beresowka um; ab dem 1. April nahm ich dort eine Arbeit auf. Von der Sowchose schickten sie mich auf eine Fahrer-Ausbildung, den Führerschein erhielt ich am 20. März 1962. Doch der Verwalter gab mir kein Fahrzeug; er meinte: du wirst als Rechnungsführer arbeiten. Bis 7 Uhr morgens musste man dem Verwalter die Informationen über die während der vergangenen Nacht gepflügten Hektarflächen auf den Tisch gelegt haben; die Traktoren pflügten in zwei Schichten. Ich setzte mich aufs Fahrrad, fuhr die Felder ab und vermaß sie. Alle Anordnungen erteilte ich. 1963 gab man mir dann schließlich ein Fahrzeug der Marke SIS-5, ich arbeitete 2 Jahre damit und wurde dann erneut Rechnungsführer (aus Krankheitsgründen); später war ich in einer Baubrigade tätig.

Am 1. April 1962 heiratete ich Lidia. 1967 versetzten sie mich als Buchhalter nach Orlowka. Im Herbst 1972 versetzten sich von Orlowka nach Beresowka als Buchhalter. Sie schlugen mich in der Geflügelzuchtfarm als Assistent des Brigadeführers vor, aber wir entschieden, dass es in Beresowka besser war. Zu der Zeit bauten dort Armenier aus dem Altai-Gebiet 3 Häuser mit je zwei Wohnungen: 2 in der Traktowaja-Straße (wo Lorenz wohnt und Lopatin einst lebte), und eins in der Magasinnaja (wo die Jermakows wohnen), und dort bekamen wir auch eine Wohnung. Am 9. September zogen wir in unser neues Quartier ein.

Heute leben wir zu zweit mit der Oma. Unser Sohn kommt oft aus Atschinsk zu Besuch; hier leben der zweite Sohn und unsere Enkelin (Anhang).

Edwin Friedrichowitsch Schmidt
Ljubow Safronowna

Er wurde am 27. September 1940 geboren. Seine Schwester Elvira war etwas älter – Jahrgang 1939. Sie wurde nur 15 Jahre alt (sie hatte einen Herzfehler). Vater Fjodor Friedrichowitsch Schmidt war Berufssoldat; er diente in Charjkow. Der Sohn kam ohne ihn zur Welt. Als der Krieg ausbrach, befand er sich an der Front. Ihre Truppe marschierte vorüber, und er rannte für zwei Stunden nach Hause, da war der Sohn noch ganz klein. Und nur er hatte ihn zu Gesicht bekommen. Von der Front schrieb er Briefe nach Hause, der letzte war vom August 1941. Danach geriet er in Gefangenschaft, war eine Zeit lang in Deutschland. Nach seiner Freilassung ließ man ihn nicht das Land verlassen, und so blieb er dort. Die Verwandten schickten von dort 1957 eine Fotografie von seinem Grab (Anhang).

Als sie noch an der Wolga lebten, arbeitete Emma Friedrichownas Mutter in der Stadt in der Möbelfabrik „Udarnik“. Später machte sie eine Ausbildung zur Augenärztin. Sie hatte die Ausbildung noch nicht zu Ende geführt, als sie nach Sibirien verschleppt wurde. Sie kam mit zwei kleinen Kindern und ihren Eltern hierher. Sie selber ist das älteste von insgesamt 7 Kindern. Man brachte sie sofort in Atschinsk unter. Ihre Vater wurde zusammen mit allen Deutschen in die Arbeitsarmee geholt. Nach seiner Rückkehr lebte er nur noch kurze Zeit, dann starb er. Die Großmutter war eine sehr gute Frau, sie half nicht nur beim Großziehen der Enkelkinder, sondern hütete auch die erste Urenkelin (Edwins Tochter).

Von Atschinsk zogen sie nach Beresowka. Hier arbeitete Mutter in der Sowchose auf der Farm. Sie heiratete Andrej Fjodorowitsch Markert.

Der Großva5ter wuchs heran, im Alter von 17 Jahren freundete er sich mit meiner Großmama an. 1962 heirateten sie; Tochter Elvira wurde geboren. Als das Töchterchen 1 Jahr und 8 Monate alt war, holten sie den Großvater zur Armee (Anhang). Er diente 3 Jahre. 1967 wurde ihnen Sohn Sergej geboren, 1974 mein Papa Alexander (Anhang).

Der Großpapa arbeitete sein Leben lang als Traktorist.

Die letzten Jahre arbeitete er nicht, er und die Großmama lebten miteinander, beide waren Rentner. Am 29. Januar 1912 brachten sie 8ihn ins Krankenhaus; er wurde operiert. Und am 29. Februar starb er. Nun lebt die Großmutter allein.

Nachdem ich alle Erinnerungen der Menschen aus meinem Dorf gelesen hatte, dachte ich daran, wie schwer diese Menschen es gehabt haben mussten! Nicht nur die Familie meiner Vorfahren hatte gelitten. Wie ähnlich waren all ihre Schicksale! Das ganze Volk er Sowjetunion war großem Leid ausgesetzt gewesen. Wie kränkend und erniedrigend, dass man sie für nichts und wieder nichts aus ihrem Zuhause fortgeschafft hatte! Und hier in Sibirien wurden sie von niemandem erwartet. Die Menschen glaubten, dass sie tatsächlich Faschisten seien, und deswegen wurden die Kinder in der Schule auch als Faschisten beschimpft und verprügelt. In unser Land fielen andere Menschen ein, wahre Faschisten. Diese Menschen hier sind keine Feinde, sie hatten doch selber unter jenen Faschisten zu leiden. Stalins schreckliches Dekret – weswegen die Menschen so einem Leid ausgesetzt waren! Mein Großvater blieb ein Waisenkind. Nachdem der Urgroßvater in Gefangenschaft geraten war, blieb er für immer auf deutschem Boden. Er hat seinen Sohn fast nie gesehen. Und meine Uroma hätte Ärztin werden können, doch hier in Sibirien musste sie auf einer Farm arbeiten.

Mein Großva5ter war Zwangsumsiedler; er geriet mit seinen Eltern nach Sibirien, als er noch nicht einmal ein Jahr alt war. Seinen ersten Geburtstag verlebte er bereits hier, glaube ich. Wie schade, dass es mir nicht gelungen ist, ihn alles zu fragen! Dass er nicht mehr erleben konnte, wie ich heranwuchs! Großpapa, Großpapa…

Literatur-Angaben:

1. „Von Generation zu Generation. Die Kontinuität der Generationen“. Broschüre der nationalen kulturellen Autonomie der Russland-Deutschen.
2. „Die Deutschen Russlands“. Enzyklopädie. “ERN”, Moskau, 1999.
3. “Die Geschichte der ethnischen Deutschen in Russland”. W.A. Djatlowa, Professorin am Lehrstuhl der deutschen Sprache am Staatlichen Pädagogischen Astafjew-Institut Krasnojarsk.
4. A.A. German „Die deutsche Autonomie an der Wolga“, Saratow, 1994.
5. „Ethnoatlas der Region Krasnojarsk“. Krasnojarsk, „Platina“, 2008.
6. Zeitungen „Neues Leben“
7. Die Erinnerungen von Bewohnern der Siedlung.

Anhänge (.ppt)


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