Bildungsministerium der Russischen Föderation
Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Region Krasnojarsk
Bildungsbehörde de Jemeljanowsker Bezirks
Städtische budgetierte allgemeinbildende Oberschule N° 1
Autor:
Andrej Schnaider
Schüler der Klasse 10 “B“ an der Jemeljanowsker Oberschule N° 1
Leitung:
Swetlana Wiktorowna Prischtschepa
Lehrerin für Geschichte und Gesellschaftskunde
Jemeljanowo 2012
Einführung
Leningrad unter Blockade
Familie
Weg des Lebens
Begegnung mit dem Vater
Zweite Heimat
Obdach für junge Menschen, die in dem von der Blockade heimgesuchten Leningrad
lebten
Nachkriegsjahre
Suche nach Verwandten
Schlussbemerkung
Liste verwendeter Literatur
Anhang
In der Erinnerung habe ich bewahrt,
Was viele Jahre zuvor geschah.
Nur nicht die schrecklichen Tage vergessen,
Dass du Leningrad zurückgelassen
hast…
Das sind Zeilen aus einem Gedicht von Lidia Wasiljewna Solowljowa, die die Leningrader Blockade miterlebte; die Verse sind der Heldin meiner Forschungsarbeit Jewgenia Wasiljewna Schalunina (Bazaraschkina) gewidmet, auf deren Los während des Krieges nicht wenige Schwierigkeiten und Schicksalsherausforderungen entfielen. Ob es wohl auf irgendeine Weise einen Zusammenhang zwischen der weit entfernten Stadt an der Newa und der entlegenen sibirischen Siedlung gibt? Eine Verbindung gibt es tatsächlich. Es ist nämlich si, dass die Geschichte des Kinderheims in unserer Siedlung in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges beginnt, als Kinder aus dem unter Blockade stehenden Leningrad nach Jemeljanowo evakuiert wurden.
Wie wir wissen beging unser Land 2010 den 65. Jahrestag des Großen Sieges über die faschistischen Eindringlinge. Diesem Tag waren Veranstaltungen ganz unterschiedlicher Art gewidmet. Auf einer dieser Veranstaltungen, die in der Bezirkskinderbibliothek stattfand, nahm auch unsere Klasse teil. Die Begegnung lief unter dem Motto „Kinder des Krieges“, und an ihr nahmen Menschen teil, die zur Zeit des Krieges Kinder gewesen waren. Besonders interessierte mich das Schicksal von Jewgenia Wasiljewna Schalunina, die die Blockade miterlebte. Wie sich herausstellte, gibt es in der Siedlung keinerlei Dokumente über die damalige Evakuierung des Kinderheims (das Archiv des Jemeljanowsker Bezirks wurde in den 1960er Jahren durch einen Brand vernichtet) Ich beschloss mich auf die Suche nach wenigstens einigen Dokumenten zu gehen, die mit dieser Thematik im Zusammenhang stehen.
Das Thema ist auch deswegen aktuell, weil alle Einzelheiten, alle Details jener großen Ereignisse umso wichtiger werden, je weiter die Zeit uns von den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges fortträgt, denn nur die unmittelbaren Teilnehmer der Geschehnisse können uns darüber erzählen. Ihre Erfahrungen, für die sie teuer bezahlten mussten, dürfen nicht in Vergessenheit geraten, sondern müssen bewahrt werden.
Ziel der Forschungsarbeit: Wiederherstellung der Entstehungsgeschichte des Kinderheims, das aus dem unter der Blockade leidenden Leningrad in die Siedlung Jemeljanowo, Region Krasnojarsk, evakuierte wurde – auf Grundlage der Biographie eines seiner weiblichen Zöglinge.
Aufgabenstellung:
1) Informationen über die Leningrader Blockade und nach Sibirien evakuierte
Kinderheime zusammentragen;
2) Erinnerungen von Zöglingen und Mitarbeitern des nach Jemeljanowo evakuierten
Kinderheims aufzeichnen;
3) die herausgefundenen Informationen mit Material aus offiziellen Quellen
vergleichen;
4) die Ergebnisse der Recherchen zusammenstellen
Die Leningrader Blockade ist der tragischste Zeitraum in der Geschichte der Stadt. Für jeden, der in Russland lebt, bedeutet die Blockade Leningrads ein Schlüsselereignis. Für die ältere Generation, welche die Erinnerungen daran mit sich trägt, ist es ein Teil des Lebens, den sie niemals vergessen werden.
Weniger als zweieinhalb Monate nach dem 22. Juni 1941, als die Sowjetunion
vom faschistischen Deutschland angegriffen wurde, näherten sich die deutschen
Truppen bereits Leningrad. Die Rote Armee wurde zurückgeworfen, und am 8.
September 1941 hatte die deutsche Armee Leningrad vollständig umstellt. Die
Belagerung der Stadt, die insgesamt 900 Tage dauerte, begann am 8. September
1941 und dauerte bis zum 27. Januar 1944.
2 Millionen 887 Tausend Zivil-Personen gerieten in den Ring der Umzingelung.[1].
Hierhin gerieten auch Truppen, die die Stadt verteidigt hatten: keiner von ihnen
hätte auch nur in Erwägung gezogen, den Aufrufen sich zu ergeben Folge zu
leisten. Lebensmittel und Brennmaterial zum Heizen reichten lediglich für
eineinhalb Monate.
Der gesamte öffentliche Verkehr stand still. Zum Winter 1941 gab es keinerlei Heizmaterial, keine Wasserlieferungen, keine Stromversorgung mehr und auch nur noch einen ganz geringen Vorrat an Lebensmitteln. Im Januar 1942, auf dem Höhepunkt eines ungewöhnlich kalten Winters, wurde die niedrigste Nahrungsmittelmenge registriert: für eine Person waren lediglich 125 g Brot pro Tag vorgesehen. In nur zwei Monaten – im Januar und Februar 1942 – starben 200.000 Menschen in Leningrad an Hunger und Kälte. Doch ein Teil der Rüstungsindustrie war immer noch in Betrieb und ergab sich nicht.
Im Januar 1943 wurde die Blockade von sowjetischen Truppen durchbrochen, und ein Jahr später, am 27. Januar 1944, vollständig aufgehoben. Hunderttausende lagen in Massengräbern auf den Friedhöfen von Sankt-Petersburg. Der Piskarewsker Ehrenfriedhof, auf dem fast 500.000 Menschen ruhen, wurde zu einem der bedeutendsten Kriegsgedenkstätten.
Zwei Worte: Kinder und Krieg! Wie können sie nebeneinander existieren? Wie sind sie miteinander vereinbar? Aber die jugendlichen Leningrader, die Kinder der Blockade-Stadt, mussten zusammenmit den Erwachsenen die ganze Tragödie der belagerten Stadt durchmachen.
Den Kindern erging es schlechter als den Erwachsenen! Sie begriffen überhaupt nicht, was da vor sich ging: warum ist Papa nicht da, warum weint Mama immerzu, warum dieser ständige Hunger, warum sollen wir beim Heulen der Sirenen in den Luftschutzkeller rennen? … Viel kindliches „Warum“! Aber mit ihrem kindlichen Spürsinn verstanden sie, dass in ihr Haus, in ihr Land, ein schreckliches Unglück eingezogen war.
Aus den Erinnerungen von J.W. Bazaraschkina, die die Leningrader Blockade miterlebte.
Jewegenia Wasiljewna Bazaraschkina wurde am 1. April 1937 in Leningrad geboren (Anhang 7).
Sie wohnte mit ihrer Familie am rechten Ufer der Newa, im Haus N° 96, Wohnung 367 „i“, auf dem Gelände des Thälmann-Kombinats (Anhang 8). Jewgenia Wasiljewna kann sich an ihren Vater überhaupt nicht erinnern, aber sie weiß, dass er ein „schwieriger Mensch“ war. Er ging stets im Jackett und mit Krawatte umher und war häufig auf Geschäftsreisen.
Vom Beginn des Krieges wusste Jewgenia Wasiljewna nichts, aber sie erinnert sich daran, dass sich die Erwachsenen irgendwie große Sorgen machten und anfingen zu weinen, wo bei sie in ihrer Angst immer wieder das Wort: „Krieg! ... Krieg!“ vor sich hin sagten. Bald darauf setzten die Bombardierungen ein, es wurde kalt, die Menschen wollten immer nur essen, und sie begriff nun, was Krieg bedeutete.
Ende 1941 starb die jüngere Schwester Sina.
An die Mutter (Aleksandra Andrejewna) kann sie sich nur schlecht erinnern. Sie trug ständig einen Uniform-Mantel mit einer weißen Tasche an der Seite; vielleicht war sie Krankenschwester gewesen. Im Dezember 1941 holten sie den Vater an die Front. Wahrscheinlich diente er auf Leningrader Gebiet, denn mitunter kam er nachts nach Hause, um die Familie zu besuchen.
Di erste Zeit verbarg sich die kleine Schenja mit der Mutter im Luftschutzkeller, dort war es schrecklich kalt, feucht und schwer zu atmen. Wenn die Bombardierungen aufhörten, wollten alle so schnell wie möglich frische Luft schöpfen und drängten ins Freie. Bald darauf fasste Mama den Entschluss: „Wenn wir sterben, dann lieber zu Hause!“ Und so begaben sie sich von nun an nicht mehr in den Luftschutzkeller.
Mit jedem Tag wurde der Wunsch nach etwas Essbarem stärker, und dieses Hungergefühl verfolgte sie ununterbrochen.
Im Januar-Februar wurden Mama die Brotmarken gestohlen. Sie klagte in einem fort: „Wir werden verhungern!“ Aber sie starben nicht, Tante Dascha half ihnen aus der Not und brachte ihnen Essen. Möglicherweise arbeitete sie in irgendeinem Vorratslager oder erhielt selber eine besonders große Ration.
Die Wasserleitung war außer Betrieb, und Mama ging mit einer Teekanne zum Fluss Newa, um Wasser zu holen. Jewgenia Wasiljewna erinnert sich, dass ihre Mutter sie, als sie vier Jahre alt war, allein zu Hause ließ: sie setzte sie auf das Bett, hüllte sie in Kissen und Decken ein und sagte:
„Bleib da sitzen! Bleib sitzen! Sonst erfrierst du…“. Schenja fürchtete sich, dass Mama fortgehen und nicht wiederkommen würde. Im März ging Schenjas Mutter wieder einmal Wasser holen und geriet in einen Bombenangriff, bei dem sie schwer verwundet wurde. Man brachte sie halbtot auf einer Bahre. Von da an kümmerte Tante Dascha sich um sie. Mama begriff, dass sie sterben würde und wiederholte immer wieder, dass Schenja in ein Kinderheim gehen sollte, aber das Mädchen weinte und beschwor sie: „Stirb nicht…. Ich will nicht ins Kinderheim! ....“
Am Morgen des 21. August 1942 geschah das schreckliche Unglück: Mama starb …
Jewgenia Wasiljena kam am 25. August ins Kinderheim „Heimstätte“ N° 34 im Wolodarsker Bezirk der Stadt Leningrad. Tante Dascha kam mehrmals zu ihr und sprach dabei immer wieder: „ Ich werde dich ganz bestimmt finden“!
Mehrere hunderttausend Menschen wurden aus der Stadt über den Ladoga-See, über den berühmten „Weg des Lebens“ evakuiert – die einzige Strecke, welche die belagerte Stadt mit dem Festland verband. In den warmen Jahreszeiten wurde ein Ponton-Übergang zum Festland eingerichtet, aber im Winter krochen, unter ständiger feindlicher Bombardierung, mit Menschen beladene Lastwagen über das Eis des Ladoga-Sees.
Insgesamt wurden während der Blockadezeit 1,3 Millionen Menschen aus der Stadt evakuiert, unter ihnen 219 691 Kinder (fortgebracht wurden 395 091, später kehrten jedoch 175 000 von ihnen wieder zurück). [2]
Im Herbst, am 8. September 1942 begann man mit der Evakuierung der Kinderheime nach Sibirien. Die Heimkinder wurden zunächst auf einen Dampfer verfrachtet, anschließend fuhren sie mit Eineinhalb-Tonnern durch die Wälder; wenn Rast gehalten wurde, bekamen sie lediglich „heißes Wasser“. Das schlimmste Erlebnis für die Kinder war die Überfahrt über den Ladoga-See. Es waren so viele Menschen dort, vorwiegend Frauen, alte Leute und Kinder. Sie werden diese Fahrt niemals vergessen, denn sie befanden sich die ganze Zeit in den Wagenkästen der LKWs, saßen auf Holzbänken; in der Nacht wurden die Scheinwerfer ausgeschaltet, und die Fahrzeuge bewegten sich vorsichtig über das dünne Eis. Ständig beherrschte einen die Angst, dass das dünne Eis die vollbeladenen Laster nicht halten würde. Und es gab tatsächlich auch solche Fälle: eines der Fahrzeuge geriet unter das Eis und verschwand vor den Augen der kleinen Schenja. Alle Kinder, die das sahen, wurden von Angst und Schrecken ergriffen. Jewgenia Wasiljewna erinnert sich, dass es, als sie über den Ladoga-See fuhren, entsetzlich kalt war, denn die Fahrzeuge waren alle offen, und als sie dann bombardiert wurden, deckten die Erwachsenen die Kinder mit Decken zu. Ab und an hielt die Fahrzeug-Kolonne, damit alle sich ein wenig ausruhen konnten. Alle bekamen eine Lebensmittelration, aber es waren nur kleine Portionen, denn man wusste nur zu gut, dass es gefährlich ist, wenn hungernde Kinder zu viel auf einmal essen.
AN einem der Halteplätze wurden die Kinder jeweils zu Fünft oder zu Acht auf Soldaten-„Unterstände“ verteilt, um sich dort ein wenig zu erholen und aufzuwärmen. Die kleine Jewgenia kam in einen Unterstand, in dem verwundete Soldaten lagen. Erschrocken blieb sie an der Wand stehen. Einer der Soldaten zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er lag gesondert von den anderen und war auch anders als sie gekleidet. Sie und der Soldat sahen einander an. Das Mädchen vermochte sich, teils aus Angst, teils vor Freude, nicht von der Stelle zu rühren, denn der verwundeten Soldat erkannte in ihr seine Tochter und fing an zu rufen: „Meine Tochter! Meine Tochter!“. Schenja stand da wie angewurzelt. Dann näherte sich ihr eine Frau von etwa 40 Jahren, nahm sie bei der Hand und sagte: „Dieser verwundete Soldat ist – dein Vater!“
Der Vater lag auf einem Bett. Er trug ein dunkelblaues Oberhemd und eine Krawatte. Um seinen Kopf war ein Verband gewickelt. Als sie sich in die Arme schlossen, weinten sie beide lange und konnten nichts sagen. Der Vater wiederholte nur immer wieder: „Wo ist Mama? Wo ist Mama?“ Und an diese allerletzten Worte des Vaters erinnert Jewgenia sich bis zum heutigen Tag.
Wie viel Zeit Schenja mit dem Vater verbracht hat, weiß sie nicht mehr. Bald schon kam eine Begleitperson, um sie abzuholen. Sie mussten weiter. Schenja stand auf, musterte alle Soldaten, blickte noch einmal auf ihren Vater und ging hinaus. Damals wusste sie noch nicht, dass dies ihre letzte Begegnung gewesen war.
Vor dem Abschied fragte der Vater die Erzieherin noch:
- Wohin werden die Kinder gebracht?
- Nach Sibirien.
- Das ist weit weg, sie werden es nicht überleben, sie sind zu schwach …
Gegen Abend ließ man alle in Güter-Waggons einsteigen, und dann ging die Reise weiter.
Die Fahrt nach Sibirien dauerte über einen Monat. Bei vielen reichte die Kraft nicht, um die lange Reise zu überstehen. Regelmäßig ertönte in den Waggons eine Stimme, die fragte: „Sine bei euch noch alle am Leben?“ Denn zahlreiche Menschen starben unterwegs an Entkräftung oder aufgrund von Krankheiten; die steif gefrorenen Leichen wurden dann in einem speziellen Container aufgestapelt und gelagert. Einer dieser Container gelangte bis nach Krasnojarsk; wie bekannt ist, hat man die Umgekommenen auf dem Friedhof der Siedlung Berjosowka bestattet. Jetzt wurde an der Stelle von Mitgliedern der Vereinigung „Blokadnik“ ein Denkmal errichtet (Anhang 1).
In Krasnojarsk trafen die Kindergarten-Kinder Ende November 1942 ein [3]. Zuerst brachte man alle in die Sammelstelle der Stadt Krasnojarsk, wo man sie nach der langen Fahrt in Waggons, die eigentlich für den Transport von Vieh gedacht waren, zu Bett legte. Und die Kinder fühlten sich zum ersten Mal nach etlichen Monaten wie im Märchen.
Später wurden die Kinder auf Heime verteilt. Jewgenia Wasiljewna kam ins Jemeljanowsker Kinderheim. Aus dem persönlichen Tagebuch von Jewgenia Wasiljewna Schalunina, Zögling im Jemeljanowsker Kinderheim von 1942 bis 1945:
„ … Sibirien wurde für uns „Blokadniks“ zur zweiten Heimat, in der wir aufwuchsen, arbeiteten, Familien gründeten, Kinder, Enkel und Urenkel großzogen. Danke an alle, die uns in den schweren Minuten unterstützt haben – eine tiefe Verbeugung vor ihnen!!!“
Im Herbst 1942 trafen in Jemeljanowo auf drei mit Zeltstoff überdachten Lastwagen ungefähr hundert magere, erschöpfte Kinder ein. Sie hatten mit der Eisenbahn die weite Reise aus dem unter Blockade stehenden Leningrad nach Krasnojarsk zurückgelegt. Bei den Kindern waren auch drei Frauen, welche die jungen Blokadniks begleitet hatten.
Bei ihrer Ankunft wurden die Kinder nicht sofort mit Essen versorgt, sondern man gab ihnen nur heißes Wasser zu trinken; danach erhielten sie zwei Tage lang jeweils 50 g Apfel-Püree, anschließend zwei Tage je 100 g, und erst dann gab man ihnen eine dünne Suppe.
Die Direktorin des eingetroffenen Kinderheims, Maria Timofejewna Sysojewa war etwa fünfzig Jahre alt. Grauhaarig, groß gewachsen, tat sie sich durch Strenge und Härte, sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber ihren Zöglingen, hervor. Allerdings ging sie mit den Kindern auch zärtlich, freundlich und geduldig um. Auch die Buchhalterin Galina Iwanowna, eine sehr schöne Dame, verfügte über einen sanften, ausgeglichenen Charakter. Sie war etwa vierzig Jahre alt. Und die fünfundzwanzigjährige Erzieherin Serafimuschka, eine hagere, blasse Frau, hatte an den Kindern ganz und gar einen Narren gefressen. Aufgrund ihrer Gutmütigkeit und ihres Einfühlungsvermögens wurde sie von den Kindern auch oft Mama genannt. Diese drei tapferen Frauen waren auch die ersten Organisatorinnen des Jemeljanowsker Kinderheims [4].
Die jugendlichen Blokadniks aus Leningrad wurden in drei Altersgruppen von 4 bis 12 Jahren eingeteilt. Die Zöglinge des Kinderheims trugen alle die gleiche Kleidung: die Mädchen Kattunkleider, und die Jungen waren in ihren Kattun-Hemden und –Hosen hübsch anzusehen. Die Kleidung für die Kinder nähte die Schneiderin Walentina Oreschnikowa. Die Verpflegung der Kinder war gut organisiert. Über eine besonders kunstvolle Zubereitungsmethode ausnahmslos aller warmen Gerichte verfügte die Köchin Maria Michailowna Kruglowa. Fremde Hilfe nahmen die Erzieherinnen des Kinderheims nur in der Aufbauphase in Anspruch. Nach zwei Jahren war das Heim vollständig autonom und selbständig. Das Jemeljanowsker Kinderheim besaß sein eigenes Bad und eine eigene Wäscherei. Die Rolle des Friseurs übernahm auf einer freiwillig-gemeinschaftlichen Basis die Buchhalterin aus Leningrad – Galina Iwanowna.
Die Kinder besaßen stets ein reinliches Äußeres. Die Erwachsenen erzogen ihre Zöglingen vorsichtig, aber beharrlich, dazu, dass sie gemeinnützliche Arbeiten in allen Bereichen des Kindergarten-Lebens erledigten. Im Leben der Zöglinge des Kinderheims spielte die Nachtschwester, Anna Kusminitschna Martschenko (Krawzowa) eine große Rolle. Wachsam versah sie ihren Dienst, war stets um jedes einzelne Kind besorgt. Sie setzte alles daran, dass die Kinder nicht nur genügend zu essen bekamen, sondern es auch ruhig und gemütlich hatten. Wie viele Nächte verbrachte diese emsige, freundliche Frau am Kopfende zahlreicher Kinder, die im Schlaf verängstigt weinten und nach ihrer Mama riefen! Wie viel Wärme und Zärtlichkeit hat diese Frau den jungen Bloknadiks aus Leningrad gegeben!
Schenja erinnert sich sehr gut an das gute Verhältnis der Bewohner der Siedlung Jemeljanowo gegenüber den evakuierten Kindern. Sie brachten Milch, Brot und andere Lebensmittel für die Kinder herbei, die sie erübrigen konnten.
Aus den Erinnerungen der Köchin des Jemeljanowsker Kinderheims der Jahre 1942-1946 – A.J. Stulikowa:
„Die Kinder aus Leningrad trafen ganz geschwächt, abgemagert hier ein; manche konnten kaum gehen, stützen sich an der Wand ab. Sie wurden von guten Pädagogen begleitet. Ich arbeitete als Köchin. Unser Kollektiv brachte von zu Hause alles Mögliche mit: Brot, Quark, Sahne, Milch. Aber die Erzieher warnten uns: „In diesem Zustand darf man den Kindern nur gesüßten Tee, Haferbrei und Beerensuppe zu essen geben; aber wenn sie wieder bei Kräften sind, dann können sie auch zusätzlich noch etwas bekommen.
Die Tschitschajews, die zu den Alteingesessenen in Jemeljanowo gehörten, unterhielten ihre eigene Imkerei; sie brachten eimerweise Honig und fütterten die Kinder selber löffelweise damit.
Aus den Erinnerungen der Erzieherin des Jemeljanowsker Kinderheims von 1942-1946 – T.M. Roditschkina:
„Die Kinder waren sehr verängstigt, nachts saß immer eine der Erzieherinnen bei ihnen. Die Kleinen schrien, weinten, rannten aus dem Zimmer. Andauernd träumten sie von Bombardierungen und dem Tod ihrer Eltern. Die Erzieherinnen hatten auch die Funktion von Psychologinnen, sie ersetzten ihnen die Eltern und beruhigten die Kinder“.
Aus den Erinnerungen der Ortsansässigen Jemeljanowskerin G.N. Terskaja (Tschernjak):
„Ich erinnerte mich an zwei Mädchen aus Leningrad – Lisa und Tanja Subotin. Das waren gescheite Mädchen. Sie erzählten von diesen schrecklichen Tagen während der Blockade Leningrads und darüber, wie die hungrige Mutter, die jeden Tag zwölf Stunden in der Fabrik arbeiten musste, gestürzt war, wie sie 150 g Brot mit nach Hause gebracht und die Kinder gebeten hatte, es sich für den ganzen Tag einzuteilen. Sie glaubten, dass sie, wenn sie nach Leningrad zurückkämen, dort auch ihre Mutter wiederfinden würden. Später kehrten sie nach Leningrad zurück, suchten nach ihren Angehörigen, aber ihre Mama fanden sie nicht.
Ich erinnere mich an Schenja Bazaraschkina. Sie wurde oft mit durchgefüttert, war klein und schwächlich, alle hatten sie sehr gern. Schenja mochte am liebsten in der Küche mithelfen. Meine Mama kochte und bat sie dann, das Essen den Leningrader Kindern zu bringen. Alle Bewohner des Dorfes Jemeljanowo verhielten sich den Kindern gegenüber mit Respekt. Obwohl die Einwohner selber Hunger litten, gaben sie doch ihr Letztes für die Kinder her“.
Im Mai wurden alle Kinder, die Eltern oder Verwandte besaßen nach Leningrad zurückgeschickt. Da Schenja keine Eltern hatte und in den Listen als „Waisenkind“ ausgewiesen war, blieb sie in der Region Krasnojarsk und kam in ein Kansker Kinderheim, wo sie bis 1951 erzogen wurde; 1951 brachte man sie dann ins Kulitschinsker Kinderheim, von wo aus sie 1954 einen Arbeitsplatz in der Stadt Krasnojarsk vermittelt bekam.
In Krasnojarsk beendete Jewegenija Wasiljewna Kurse für Werkbank-Arbeiter und war etwa 10 Jahre in der Holzverarbeitungsfabrik tätig.
1966 beschlossen sie und ihr Mann sich in Jemeljanowo nieder zu lassen, denn der Ort war Jewgenija Wasiljewna zur zweiten Heimat geworden; Jemeljanowo hatte sie beherbergt, hatte den unglücklichen Kindern Leningrads Wärme geschenkt.
Die Blockade-Teilnehmerin ihrerseits zeigte ihre Dankbarkeit gegenüber der zweiten Heimat durch heldenmütigen Arbeitseinsatz.
Sie arbeitete in der Jemeljanowsker Kolchose von 1966-1992. 1992 ging sie, hoch angesehen, in den wohlverdienten Ruhestand.
Am 18. April 1984 wurde sie mit der Medaille „Veteran der Arbeit“ ausgezeichnet (Anhang 9).
Am 11. Februar 1985 erhielt sie den Titel „Stoßarbeiterin der kommunistischen Arbeit“ zugesprochen (Anhang 10).
Im Verlauf der Arbeit sah ich mich noch vor eine weitere Aufgabe gestellt – die Suche nach Jewgenia Wasiljewnas Verwandten. Als Jewgenia Wasiljewnas Mutter starb, war sie erst vier Jahre alt, und sie kann sich an sie fast überhaupt nicht mehr erinnern. Jewgenia Wasiljewna dachte immer, dass ihre Mutter zwischen 1915 und 1917 geboren und ganz jungen verstorben sei. Jewgenia Wasiljewna war auch sehr am Schicksal ihres Vaters Wasilij Makarowitsch Schelgunow interessiert. In ihrem Leben schrieb sie zahlreiche Briefe an verschiedene Organisationen mit der Bitte, ihr bei der Suche nach Informationen über ihren Vater behilflich zu sein. Aber auf all ihre Anfragen kamen nur negative Antworten (Anhang 11).
Aus dem gesamten Schriftwechsel, den Jewgenia Wasiljewna geführte hatte, begriff ich, dass ihr Vater kein einfacher Mensch gewesen war. Man gab ihr mehrfach zu verstehen, dass es keinen Zweck hätte ihn zu suchen. Jewgenia Wasiljewna gibt trotzdem nicht die Hoffnung auf, eines Tages vielleicht doch noch, wenn auch nur eine kleine, Spur des Lebensweges ihres Vaters ausfindig zu machen und sich vor seinem Grab zu verneigen.
Ich bemühte mich, bei der Suche nach ein paar Informationen über W.M. Schelgunow behilflich zu sein. Ich schaute im Internet auf den Seiten: „Buch der Erinnerung“, „Memorial-Datenbank“, „Buch der Erinnerung / Leningrad“ nach. Des Weiteren schrieb ich einige Briefe mit der Bitte um Hilfe bei der Suche nach Angaben zu W.M. Schelgunow.
Schließlich gelang es mir folgende offizielle Informationen über Jewgenia Wasiljewnas Mutter zu erhalten:
Aleksandra Andrejewna Bazaraschkina, geb. 1898. Wohnort: rechte Uferseite der Newa, Hausnr. 96, Wohnung 367. Todesdatum: Mai 1942. Bestattungsort: unbekannt (Blockade, Bd. 3). Auf diese Weise stellte sich heraus, dass Jewgenia Wasiljewnas Mutter viel früher geboren war, als ihre Tochter vermutet hatte, und demzufolge keineswegs als junge Frau gestorben war.
National-Kultur ist die Erinnerung des Volkes an die historische Vergangenheit. Dank der Erinnerung von Teilnehmern und Augenzeugen der Kriegsgeschehnisse ergibt sich die Möglichkeit, nicht nur die militärischen Heldentaten des sowjetischen Volkes tiefgründiger zu begreifen und sich ihrer bewusst zu werden, sondern auch die Großtaten im zivilen, menschlichen Bereich.
Dank der Berichte der Zöglinge und Mitarbeiter des Kinderheims konnte ich herausfinden, dass
1. die Kinder zusammen mit den Erzieherinnen und der Direktorin des
Kinderheims fast drei Monate bis nach Krasnojarsk unterwegs waren – unter
schwierigsten Bedingungen (teils auf Fahrzeugen, teils in Zugwaggons, die
eigentlich für den Transport von Vieh vorgesehen waren).
2. nicht alle Kinder des Kinderheims den Umzug wohlbehalten überstanden, viele
starben während der Fahrt.
3. in Jemeljanowo 97 Personen eintrafen.
4. die evakuierten Kinder von den Jemeljanowern sehr warm empfangen wurden. Sie
halfen ihnen so gut sie nur konnten, brachten ihnen Lebensmittel, Kleidung und
Brennholz.
5. später wurde ein Teil der Kinder (deren Eltern gefunden wurden) wieder nach
Leningrad zurück geschickt. Die Verbliebenen wurden in andere Kinderheime
verlegt.
6. Dank der gesammelten Information ist es gelungen, Daten und Ereignisse, die
in Verbindung mit der Geschichte des Jemeljanowsker Kinderheims stehen, zu
rekonstruieren.
Die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit habe ich dem Jemeljanowsker Bezirksmuseum übergeben.
Ich habe die Absicht, meine Arbeit an der Suche nach Jewgenia Wasiljewnas Vater fortzusetzen, denn in dieser Geschichte gibt es viele Rätsel.
Die Ergebnisse dieser Arbeit können im Geschichtsunterricht innerhalb der Region Krasnojarsk und in Unterrichtsstunden über militärische und zivile Heldentaten während des Krieges verwendet werden, um bei der heranwachsenden Generation ein Gefühl zum Patriotismus zu erwecken.
Für mich persönlich besitzt diese Arbeit eine große Bedeutung. Ich bin zum ersten Mal nicht nur mit der Geschichte meiner kleinen Heimat in Berührung gekommen, sondern auch mit der meines Landes. Es war sehr interessant für mich, mit Teilnehmern jener Ereignisse in Kontakt zu treten, über die ich früher höchstens aus Büchern oder Filmen etwas erfahren hatte. Und die Geschichte meiner Heldin Jewgenia Wasiljewna könnte durchaus als Grundlage für ein Filmdrehbuch dienen.
Großen Eindruck machten auf mich die Zeilen aus Jewgenia Wasiljewnas persönlichem Tagebuch:
„…Man kann niemals zu einer hohen Kultur gelangen: ohne erste primitive Skizzen in der Malerei, ohne ursprüngliche Volksweisen in der Musik. Ein hohes geistiges Niveau ist ebenfalls nicht möglich ohne die Erfahrungen aus der Vergangenheit. Indem wir Gedenkstätten studieren, begreifen wir die sehr wichtigen moralischen Forderungen des Humanismus, des Heroismus, der großen Heldentaten, der Wohltötigkeit. Die Erinnerung an die Vergangenheit hilft dabei, nicht nur die Erfahrung der Generation zu erkennen, sondern sie formt auch das Kernstück der Seele. Und deswegen, weil wir die Denkmäler retten, sie erhalten, retten wir auch unsere Seelen. Wir dürfen keine Iwans sein, die nicht wissen wohin sie gehören. (Anlage 12)
[1] HTTPS://podvignaroda.ru/
[2] HTTPS://www.leningradpobeda.ru
[3] A. Smorodin „Sieben Werst auf sibirischen Wegen“, Krasnojarsker Buch-Verlag
[4] A. Smorodin „Jahre und Menschen aud Jemeljanowsker Boden“
1. A. Smorodin „Sieben Werst auf sibirischen Wegen“, Krasnojarsker
Buch-Verlag, 2000
2. A. Smorodin „Jahre und Menschen aud Jemeljanowsker Boden“, Krasnojarsk, 1995
3. A. A. Akulowa „Die Jemeljanowsker, Chronik der Heldentaten“,Jemeljanowa, 2005
4. J.J. Bwasemskij „Geschichte Russlands“, Moskau, „Machaon“-Verlag, 2005
5. HTTPS://www.obd-memorial.ru
6. HTTPS://podvignaroda.ru
7. HTTPS://www.leningradpobeda.ru
8. Persönliches Tagebuch von Jewegenia Wasiljewna Schalunina
1. Denkmal für die Blockade-Kinder Leningrads, die während der
Evakuierung ums Leben kamen und in der Siedlung Berjosowka bestattet wurden.
2. Jemeljanowsker Kinderheim, 1946
3. Jewgenia Wasiljewna Bazaraschkina, 1957
4. Jewgenia Wasiljewna mit einer Freundin, 1961
5. Jewgenia Wasiljewna mit ihrem Ehemann, 2010
6. Jewgenia Wasiljewna Bazaraschkinas (Schaluninas) Geburtsurkunde
9. Archiv-Bescheinigung aus dem Komitee für Volksbildung, 1991
10. Bescheinigung des Ministeriums für Aufklärung über die Evakuierung
11. Urkunde zur Medaille „Veteran der Arbeit“
12. Urkunde „Bestarbeiter der kommunistischen Arbeit“
13. Antwort auf Jewgenia Wasiljewnas Anfrage aus dem
Leningrader Verteidiungsarchiv der UdSSR
14. Seiten aus Jewgenia Wasiljewna Bazaraschkinas persönlichem Tagebuch