15. Allrussischer Wettbewerb historischer Forschungsarbeiten von Schülern der
höheren Klassenstufen „Der Mensch in der Geschichte. Russland – 20. Jahrhundert
(Nominierung: „Sieger-Preis“)
Darja Sharkewitsch, Schülerin der 11. Klasse der allgemeinbildenden Oberschule N° 3
Leitung: Nadeschda Wassiljewna Kaljakina, Leiterin des „Landsleute“-Klubs, Geschichtslehrerin an der Abaner allgemeinbildenden Oberschule N° 3
1) Einleitung
2) Kapitel 1. Die Politik des Nazismus gegenüber Kindern auf den besetzten
Territorien
3) Kapitel 2. Die Schicksale der in den Kriegsjahren nach Deutschland
deportierten Kinder
4) Schlussbemerkung
5) Bibliographie
6) Anhänge
In Aban entstand im Sommer 2012 die öffentliche Bewegung „Kinder des Krieges“, worüber in der lokalen Zeitung berichtet wurde. Einer ihrer Teilnehmer und Veteran der pädagogischen Arbeit – Aleksej Iwanowitch Olejnikow, erklärte die Gründung für ihr Entstehen folgendermaßen: „Es ist sehr kränkend, dass es so einen Status in unserem Lande nicht gibt. Die Gesellschaft erkennt Veteranen, Arbeiter des Hinterlands, Opfer politischer Repressionen, Opfer faschistischer Konzentrationslager an. Wir sind die letzten nicht anerkannten „Opfer des Krieges“. Dabei hatten wir doch alle keine Kindheit, der Krieg hat sie uns genommen. Selbst wenn die Familie die Rückkehr des Vaters von der Front erleben durfte - lebten die verwundeten und kranken Soldaten denn lange? Viele von uns mussten ohne Väter aufwachsen. Und fühlten wir uns in den Kriegsjahren denn überhaupt wie Kinder? In jenem Sieg liegen auch unsere Opfer“. Aus einem Gespräch mit dem Veteranen erfuhr ich zum ersten Mal, dass es in Aban Gefangene faschistischer Lager gibt, die als Kinder dorthin gerieten. So kam ich zu diesem Forschungsthema. Und mein erstes Ziel war die Suche nach neuen heimatkundlichen Informationen über Kinder, die während des Krieges nach Deutschland verschleppt wurden.
Das Thema des Großen Vaterländischen Krieges bleibt auch noch in der vierten Generation von Russen „schmerzlich“. Die historische Erinnerung hat einen negativen Bezug zum Faschismus und der Dankbarkeit gegenüber den siegreichen Soldaten hergestellt. Aber wieso existieren dann sogar in unserem Land faschistische Organisationen, und warum finden die Ideen des Nazismus ihre Anhänger? Wir leben schon lange in einem demokratischen Land, doch warum halten sich im öffentlichen Bewusstsein so lange Ansichten, die unter den Bedingungen des Totalitarismus entstanden sind: die Lobpreisung der Person Stalins, die nicht einstimmige Haltung gegenüber Gefangenen und Opfern politischer Repressionen?
Ich habe dieses heimatkundliche Forschungsthema gewählt, weil es von den örtlichen Heimatkundlern noch nicht erforscht worden ist. Es gibt keine Informationen über Kinder, die nach Deutschland verschleppt wurden, nicht einmal in den neuesten regionalen Ausgaben.[1] Gegenstand meiner Forschungsarbeit waren die Erinnerungen von Abaner Kindern, die in ihrer Kindheit in faschistischer Gefangenschaft waren. Bereits während des Sammelns von heimatkundlichen Materialien stießen wir auf den Unwillen der zu Befragenden uns ein Interview zu geben. Sogar statistische Angaben stellten uns die Beamten der Sozialbehörden nur ungern zur Verfügung; sie erklärten dies damit, dass diese Leute selber gegen die Preisgabe ihrer Daten wären. Eine große Enthüllung war für mich die Tatsache, dass die Opfer faschistischer Unfreiheit ihr Leben lang diese Zeit ihres Lebens vor ihrem Umfeld verborgen gehalten haben. Das brachte mich auf den Gedanken, dass unter den Bedingungen eines demokratischen Macht-Regimes ein Merkmal des Totalitarismus, wie er Konservatismus des öffentlichen Bewusstseins, erhalten geblieben ist.
Darin besteht das von uns zu erforschende Problem.
Die Aktualität dieses Forschungsprojekts liegt in der Notwendigkeit, das negative Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Häftlingen faschistischer Konzentrationslager zu ändern.
Forschungsobjekt – die Stagnation des öffentlichen Bewusstseins als Merkmale des Totalitarismus
Gegenstand der Forschung – die Erinnerungen von Häftlingen faschistischer Lager, die als Kinder nach Deutschland verschleppt wurden
Ziel: Am Beispiel der Einstellung gegenüber den Schicksalen der Kinder, die während der Kriegsjahre nach Deutschland verschleppt wurden, das Vorhandensein der Stagnation im öffentlichen Bewusstsein als Merkmale des Totalitarismus zu beweisen.
Aufgabenstellung:
1) Informationen über Abaner sammeln, die während des Krieges als Kinder nach
Deutschland verschleppt wurden.
2) Die Rolle der Staatspolitik des faschistischen Deutschlands in Bezug auf die
Kinder der unterworfenen Völker sowie der sowjetischen Führung gegenüber
ehemaligen Gefangenen innerhalb der Bildung des öffentlichen Bewusstseins
aufzuzeigen.
3) Eine soziologische Befragung durchzuführen und die Haltung der Abaner
gegenüber dem vorliegenden Problem zu ermitteln.
Methoden: Analyse der Quellen, soziologische Befragung, Interviews
Als theoretisches Quellenmaterial habe ich das Internet, Druckwerke und die Massenmedien verwendet, aber die wichtigste Informationsquelle stellten die Erinnerungen von Abanern dar, die während des Krieges als Kinder nach Deutschland verschleppt wurden sowie Angehörige von Abanern, die sich in deutscher Gefangenschaft befanden. Beim Sammeln der Erinnerungen stießen wir auf die ablehnende Haltung der Augenzeugen der Ereignisse im Hinblick auf die geplanten Interviews. Zuerst dachte ich, dass dies damit zusammenhängt, dass es dem Menschen seelisch-moralisch schwerfällt, sich an jene Zeit zu erinnern. Wir wollten zunächst Verwandte und Nahestehende aufsuchen, mit denen es der entsprechenden Person eventuell leichter fallen würde, über diese tragische Periode seines Lebens zu reden. Dank persönlicher Kontakte meiner Projektleiterin gelang es, Informationen über alle sechs noch am Leben befindlichen ehemaligen Kinder zu bekommen, die den Status eines Häftlings deutscher Konzentrationslager erhalten haben. Aber auf das erklärte Ziel der Forschungsarbeit kam ich erst, als ich begriff, dass die Leidtragenden stets versucht haben, ihre Vergangenheit zu verbergen – wegen der negativen Einstellung, die die Öffentlichkeit ihnen gegenüber zum Ausdruck brachte. Mich verblüffte der Umstand, dass sie Befragten, die im Alter von 14-17 Jahren nach Deutschland verschleppt wurden, ihre Vergangenheit geheim hielten, damit sich „das nur nicht auf ihre Kinder auswirkte“. Deswegen „versteckten“ sie sich selber in Sibirien, anstatt in ihrer kleinen Heimat wohnen zu bleiben. Alle, die in unserem Bezirk leben und als Kinder während des Krieges nach Deutschland verschleppt wurden, erhielten erst 2003 den Status „Häftlinge deutscher Konzentrationslager“ zugesprochen. All das gestattete es mir, die Hypothese aufzustellen, dass der Stillstand im öffentlichen Bewusstsein als Merkmal des Totalitarismus des Machtregimes auch weiterhin in unserer Gesellschaft existiert.
Auf das Forschungsthema brachte mich meine Projektleiterin, der es genau aus diesem Grund nicht gelungen war, sich schon früher daran zu machen. Nadeschda Wasiljewnas Bericht darüber, wie sie einer benachbarten Großmutter, die ihr gegenüber zufällig ausgeplaudert hatte, dass sie in Gefangenschaft gewesen war, unter Eid versichern musste, dass sie nichts davon sagen würde, rief in mir nicht einfach nur Verwunderung hervor. Ich wollte herausfinden, warum diese Frau von 85 Jahren so empfindlich auf die versehentliche Preisgabe ihres „schmachvollen Geheimnisses“ reagiert hatte, dass sie auf Knien darum gefleht hatte, zu ihren Lebzeiten niemandem davon zu erzählen. Großmutter Lida starb an jenem denkwürdigen 22. Juni und im Jubiläumsjahr 2010. Und erst zwei Jahre später wurden die Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen Gegenstand meiner Forschungsarbeit.
Am 11. April wird der internationale Tag der Befrei7ung der Häftlinge faschistischer Konzentrationslager begangen. In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges wurden in den von Hitlers Soldaten kontrollierten Territorien 18.000.000 Menschen in Konzentrationslagern, Todeslagern und Gefängnissen gehalten. Mehr als 11.000.000 von ihnen wurden vernichtet. Unter den Umgekommenen befanden sich 5 Millionen Staatsbürger der UdSSR. Jeder fünfte war ein Kind.[2] Im Jahre 1993 wurde Kindern, die faschistische Lager durchlaufen hatten, der offizielle Status minderjähriger Häftlinge von Konzentrationslagern zuerkannt. In diesem Jahr wurde in Kursk die öffentliche Organisation „Vereinigung minderjähriger Häftlinge faschistischer Konzentrationslager“ gegründet. Letzten Angaben zu Folge umfasst sie 540 Mitglieder, doch aufgrund der hohen Sterblichkeit lässt sich die genaue Anzahl derer, die der Vereinigung angehören nur schwer zu beziffern.[3] Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Gefangene von Konzentrationslagern, die sich auf dem Territorium Deutschlands befanden. Gegenwärtig zahlt die Regierung dieses Landes ihnen eine vollkommen angemessene Rente. In der UdSSR gab es insgesamt nur zwei faschistische Lager – in Simferopol und Charkow. Aber es ist so, dass alle, die dort gehalten wurden, auch wenn sie den Status von Gefangenen zuerkannt bekamen, keinerlei soziale Leistungen bekommen. Doch gerade in solchen Lagern befanden sich diejenigen, die im Untergrund aktiv waren und gegen das faschistische Regime kämpften.
In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges existierte in der UdSSR ein ganzes Netz von SS-Kinderheimen „Lebensborn“, deren Mitarbeiter etwa 50.000 sowjetische Kinder ins Dritte Reich brachten.[4] Fast keiner von ihnen kehrte zurück. Ziel dieser Kinderhorte war die Umerziehung blondhaariger und blauäugiger Kinder im Vorschulalter, die sich in der Folgezeit nicht mehr an ihren Aufenthalt in der UdSSR erinnern sollten. Die Nazis vermuteten, dass die „Lebensborn“-Kinder eine neue „Herrenrasse“ begründen würden. Eine komplette Belegschaft aus Ärzten und Experten definierte den „Rassenwert“ eines Kindes – einschließlich psychologischer Tests und medizinischer Untersuchungen. Das Kind sollte bezüglich Schädelform, Körperbau, Augen- und Haarfarbe der „Herren-Rasse“ entsprechen. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Gesundheit gewidmet.
Sofort nach dem Umzug in den Kinderhort wurden die Kinder aus der Sowjetunion (ab einem Alter von 3 Jahren) dem Programm der „Grund-Germanisierung“ ausgesetzt. Die „Lebensborn“-Mitarbeiter gaben ihnen neue Namen und änderten sämtliche Dokumente. Am häufigsten wurden die Gefangenen definiert als „Waisen“, deren Eltern für Führer und Groß-Deutschland ums Leben gekommen waren“, und als Geburtsort vermerkte man „Ostgebiete des Reichs“. Des Weiteren lernten die Kleinen Deutsch: für jedes russische Wort, das sie hervorstießen, bekamen sie Schläge. Bei den Kindern bildete sich ein Reflex heraus – wenn du Deutsch sprichst, prügeln sie dich nicht. Außerdem wurden die Kinder hervorragend verpflegt, erhielten sogar Medikamente und Vitamine. Für gewöhnlich erstreckte sich die „Germanisierung“ über drei bis vier Monate; danach galt das Kind als geeignet zur Adoption. In der Regel wurde die slawische Herkunft der Kinder geheim gehalten, und nur wenigen Adoptiveltern wurde die Nationalität der „Waisen“ mitgeteilt.
Gegenwärtig ist in Deutschland die Organisation „Lebensspuren“ aktiv, die bemüht ist, den „Lebensborn“-Kindern dabei zu helfen, ihre Vergangenheit zu erfahren. Denn sie sind alle – Russen. Vielleicht gibt es unter ihnen Angehörige der Einwohner des Abaner Bezirks.
Innerhalb der Suchaktion gibt es 13517 Kinder, die von den Nazis aus der UdSSR und Polen fortgebracht wurden, aber in Wirklichkeit findet seit 1984 keine Suche mehr statt. In dem Buch von Lynn Nicholas heißt es: derzeit leben in Deutschland tausende Abkömmlinge der russischen und polnischen Kinder. Sie haben keinerlei Ahnung über ihre wahre Herkunft.[5]
In manchen deutschen Konzentrationslagern wurden Kinder als Blutspender verwendet. Das war auch der Grund, weshalb man sie im Lager hielt. Die Deutschen verteilten die geschwächten Kinder als Knechte auf Bauernhöfen – ein Umstand, der dafür sorgte, dass sie überleben konnten. Einige Kinder wurden unwiderruflich irgendwohin abtransportiert.
Mich interessierte, ob das Thema in der Geschichtsliteratur untersucht worden war. Im Internet fand ich heraus, wie der Prozess der Entwicklung der Lagergeschichte vor sich ging.
Andeutungsweise lassen sich vier Phasen der Nazi-Politik zu ihrer Schaffung unterscheiden:
Während der ersten Phase, zu Beginn der Nazi-Herrschaft, bis 1934, wurden auf dem gesamten Territorium Deutschlands Lager gebaut. Dieser Lager besaßen mehr Übereinstimmungen mit Gefängnissen, in denen sich Gegner des Nazi-Regimes befanden. Der Lager-Bau wurde von mehreren Organisationen geleitet: SA, Polizei-Chefs und einer Elite-Gruppe der NSDAP unter der Aufsicht Himmlers, die eigentlich ursprünglich zu Hitlers Schutz bestimmt gewesen war. Während der ersten Phase befanden sich ungefähr 26.000 Menschen in Haft. Zum Inspektor wurde Theodor Eike ernannt, er leitete den Bau und stellte die Lagersatzung auf. Die Konzentrationslager waren Orte außerhalb des Gesetzes, zu denen die Außenwelt keinen Zugang bekam. Selbst im Falle eines Feuers besaßen die Feuerwehr-Mannschaften nicht das Recht, das Lagerterritorium zu betreten.
Die zweite Phase begann 1936 und endete 1938. In diesem Zeitraum wurden wegen steigender Häftlingszahlen neue Lager errichtet. Auch der Häftlingsbestand änderte sich. Wenn es sich bis 1936 vorwiegend um politische Gefangene gehandelt hatte, so wurden nun asoziale Elemente inhaftiert: Heimatlose und Menschen, die nicht arbeiten wollten. Es wurden Versuche unternommen, die Gesellschaft von Menschen zu säubern, welche die deutsche Nation „schändeten“. Während der zweiten Phase wurden die Lager Sachsenhausen und Buchenwald errichtet, welche die Signale für den beginnenden Krieg und ansteigende Häftlingszahlen setzten. Nach der Reichskristallnacht im November 1938 fing man damit an, Juden in die Lager zu deportieren, was zur Überfüllung der existierenden und zum Bau neuer Lager führte.
Die weitere Entwicklung des Lagersystems vollzog sich in der dritten Phase - mit Beginn des Zweiten Weltkriegs bis etwa zur Mitte des Jahres 1941, Anfang 1942. Nach der Verhaftungswelle im nazistischen Deutschland verdoppelte sich die Zahl der Gefangenen innerhalb des kleinen Zeitraums. Mit Beginn des Krieges schickte man Häftlinge aus den eroberten Ländern in die Lager: Franzosen, Polen, Belgier usw. Unter diesen Häftlingen befand sich eine große Anzahl Juden und Zigeuner. Schon bald darauf übertraf die Zahl der Inhaftierten in den auf den Territorien der eroberten Staaten befindlichen Lager die Zahl der Gefangenen auf deutschem und österreichischem Gebiet.
Die vierte und letzte Phase begann 1942 und endete 1945. Diese Phase war begleitet von einer verstärkten Verfolgung der Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen. Während dieser Phase befanden sich in den Lagern zwischen 2,5 und 3 Millionen Personen.[6]
Das Interesse der Wissenschaftler, der Öffentlichkeit an dem Thema gibt Hoffnung auf eine Änderung der Meinung innerhalb der russischen Gesellschaft gegenüber den Opfern des Krieges und mehr Aufmerksamkeit seitens der Staatsmacht. Auf staatlicher Ebene muss man die Suche im Ausland nach unseren Kindern, die nach Deutschland verschleppt wurden, organisieren. Ein Leben lang grämen sich die Mütter, die ihre Kinder im Krieg verloren haben, um sie. Manch einer ist gestorben, ohne ein Wiedersehen erlebt zu haben. Die Angehörigen würden sich freuen, verwandte Seelen im Ausland zu finden. Der Stadt soll die Ungerechtigkeit korrigieren und in Ordnung bringen; dann wird sich auch in der Gesellschaft die Haltung gegenüber den Kriegsopfern ändern. Die Zeit läuft…
Dieses Kapitel habe ich mit dem Zi8el geschrieben, die Einstellung der Staaten (Deutschland und UdSSR) gegenüber den Häftlingskindern der Konzentrationslager zu vergleichen. Und auch um zu zeigen, dass dieses Thema noch wenig erforscht ist, wenn die Zeitungskorrespondenten bis heute „Enthüllungen“ machen, indem sie in zuvor geschlossenen Archiven neue Dokumente und Berichte von Augenzeugen über die Kinder, die Opfer des Krieges, ausfindig machen.
Im Abaner Bezirk leben 6 Personen, die den Status „Kinder-Häftlinge deutscher Konzentrationslager“ besitzen. Auf Schwierigkeiten stieß ich bereits beim Sammeln von Informationen. All diese Leute sind heute schon ziemlich betagt und haben deswegen Probleme mit der Erinnerung. Wir sind ihren Angehörigen dankbar, welche uns die Erinnerungen übermittelt haben, die sie schon zu einem früheren Zeitpunkt gehört haben.
Eine weitere große Schwierigkeit – die grundsätzliche Abneigung sich überhaupt zu erinnern. Bei der Erörterung des Problems kamen wir übereinstimmend zu der Meinung, dass dieses Thema für diese Leute zu allen Zeiten unerwünscht war. Sie vertrauten Einzelheiten über ihre ungewöhnliche Kindheit nur ihren nächsten Angehörigen an, wenn diese zufällig darauf zu sprechen kamen, und waren stets bemüht, das Thema möglichst schnell zum Ende zu bringen. Deswegen schlugen wir einen anderen Weg ein: wir suchten Informationen bei Heimatkundlern, Verwandten. In der einzigen Ausgabe der Zeitung „Rotes Banner“ gelang es mir, einen Artikel über eine Begegnung von Häftlingen deutscher Konzentrationslager mit einigen Erinnerungen von Augenzeugen zu finden. Das bestätigte mich in meiner Vermutung, dass dieses Thema lange „geheim“ war – wegen der Stagnation des öffentlichen Bewusstseins. Diese Erscheinung ist charakteristisch für ein totalitäres Machtsystem. Eine so negative Einstellung gegenüber den Häftlingen faschistischer Lager entstand unter den Bedingungen des Stalinistischen Personenkults. Und es ist nicht gerecht, dass sie sich für ihre Vergangenheit bis heute schämen. In dem wir die Wahrheit berichten, werden wir diese Meinung ändern.
Lidia Antonowna Schwedowa (Anhang 1) kannten alle in Denissowka, aber niemand, mit Ausnahme ihrer Tochter, erfuhr jemals, dass sie im Alter von 17 Jahren ebenfalls nach Deutschland verschleppt wurde. Als die Kinder des „Landsleute“-Klubs Material über die Veteranen des 510. Haubitzen-Regiments sammelten, befragte unsere Projektleiterin N.W. Kaljakina, Nachbarin dieses Großmütterchens, diese über ihren Mann. Die alte Frau verplapperte sich aus Versehen und flehte später unter Tränen darum, dieses Geheimnis nicht preiszugeben; sie nahm ihr den Eid ab, das ihr Name zu ihren Lebzeiten nicht genannt wurde. Sie lebte in der Ukraine. Die deutschen Panzer drangen bereits am ersten Kriegstag in ihr Dorf vor. „Das ganze Leben war zerstört, - erzählte die Großmutter unter Tränen – ich hatte gerade erst die siebte Klasse beendet und wollte mich am landwirtschaftlichen Technikum einschreiben. Erst gestern hatte ich noch einen aktiven Auftritt auf der Komsomolzen-Versammlung, und heute beteten wir zu Gott, damit bloß niemand gegenüber den Deutschen ein Wort davon erwähnte“. Damit die Deutschen die jungen Mädchen nicht vergewaltigten und nach Deutschland verschleppten, kleideten die Mütter ihre Töchter in schmutzige Lumpen, rieben ihnen das Gesicht mit Ruß ein und verunstalteten sie sogar, indem sie ihnen in der Nacht zerdrückten Knoblauch auf Gesicht und Hände banden. Die durch den Knoblauchsaft entstandenen Geschwüre wollten lange Zeit nicht abheilen. Der Wundschorf nässte und faulte. Aber auch das rettete die Mädchen nicht. Am 20. April 1942 trieben Polizeiangehörige und Deutsche die Jugendlichen aus den umliegenden Dörfern zur Bahnstation, verfrachteten sie auf Güterwaggons und schickten sie nach West-Deutschland – in die Stadt Villingen. „Es erhob sich ein schreckliches Geschrei und Geheul, - erzählt die Gesprächspartnerin, - sie brachen Bretter vom Fußboden des Waggons heraus, kletterten hinaus und fielen zwischen die Gleise, nur um sich vor der Gefangenschaft zu retten“.
Unsere Gesprächspartnerin geriet in ein Konzentrationslager, aus dem die Häftlinge dann nicht nur zur Arbeit in Fabriken, sondern auch auf Bauernhöfe geholt wurden; auch Besitzer von Hotels und Cafés suchten sich hier kostenlose Arbeitskräfte. Sie musste in der Kantine der Eisenbahnstation Geisingen arbeiten, wusch dort das Geschirr ab und ging dem Koch zur Hand. Sie musste weniger Hunger leiden als die anderen, weil sie zusätzlich in der Kantine die Essensreste bekam. Unweit befand sich das Lager. Als eine neue Partie Häftlinge am Bahnhof eintraf, kochten sie für sie in der Kantine eine Wassersuppe: sie zerkleinerten mit einem Hackmesser Steckrüben und kochten sie ohne Zugabe von Salz. Dieses Gebräu trug sie in Eimern zur Bahnstation und bekam mit, wie die Begleitsoldaten die Verwundeten und kranken Gefangenen verhöhnten. Die Lagerwachen wurden ebenfalls in dieser Kantine verpflegt. Allerdings wurde für sie in einem anderen Raum gekocht, in sauberem Kochgeschirr und auf anderen Herden. Sie erinnerte sich auch an die schrecklichen Tage, an denen sie bombardiert wurden. Während einer Bombardierung wurde das dreigeschossige Bahnhofsgebäude zerstört, und sie wurde zwischen eingestürzten Ziegelsteinen und Mauerresten eingeklemmt. In dieser steinernen Gruft, unter einer Stahlbetonplatte, harrte sie zwei Tage aus. Als die Flugzeuge abdrehten, fing sie an zu schreien und vernahm den Schrei eines anderen Mädchens, das ebenfalls in steinerne Gefangenschaft geraten war. Sie schrien einander zu, und das rettete sie. Sie behielten ihren Verstand, und später fand man sie auch aufgrund ihrer Stimmen. Mit Schrecken erinnert sie sich an diese drei Tage. Vor Hunger, Kälte und Durst verlor sie ab und an das Bewusstsein. Einmal regnete es, und sie fing an, die nassen Ziegelsteine abzulecken. Befreit wurden sie von französischen Truppen im April 1945. Und nach der Übergabe an die sowjetischen Einheiten brachte man sie in ein Lager für Displaced Persons (engl. Bez. für eine „Person, die nicht an diesem Ort beheimatet ist“; Zivilperson, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielt und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnte; Anm. d. Übers.), wo sie von Tschekisten verhört wurden. Offenbar konnte ihre Schuld gegenüber dem Vaterland nicht bewiesen werden, so dass man sie sofort in die Heimat zurückschickte. Aber vielleicht hatte ihr auch die Leidenszeit im „steinernen Sack“ Nutzen gebracht. Während jener Bombardierung war das Konzentrationslager zerstört worden und die Gefangenen waren in alle Himmelsrichtungen auseinander gelaufen. Die Entflohenen wurden aufgegriffen. Im Lager für Displaced Persons lernte sie ihren Ehemann, einen Kriegsgefangenen, kennen. Im Abaner Bezirkskriegskommissariat fanden wir ihre Karte aus dem melde-Register, auf der vermerkt ist, dass ihr Lager von französischen Truppen befreit wurde. Ihr Leben lang hat Lidia Antonowna ihren Aufenthalt in Gefangenschaft sogar vor ihren eigenen Kindern verborgen, immer in der Angst, dass sich das auf deren Schicksal auswirken könnte. Als die deutsche Regierung damit begann, Wiedergutmachungsgelder an die Gefangenen der Konzentrationslager, die gewaltsam nach Deutschland verschleppt worden waren auszuzahlen, schlug die älteste Tochter vor, die notwendigen Dokumente für einen entsprechenden Antrag einzureichen, aber die Mutter weigerte sich kategorisch. Man flehte sie an die Dokumente doch auszufüllen, erbaten Hilfe, um für das Enkelkind eine Wohnung zu kaufen, aber sie meinte nur: „Das ist allein meine Schmach, und kein faschistisches Geld kann sie jemals von mir fortwaschen“. Man kann nur vermuten, was sie durchgemacht hat. Wenn sie noch nicht einmal Geld annehmen will, dann bedeutet das – sie kann nicht vergessen und demzufolge auch nicht verzeihen.
Maria Nikolajewna Bruchanowa war 42 Jahre an der Potschetsker Schule tätig, davon 33 Jahre als deren Leiterin. Sie kennt alle in Potscheta, und während ihrer Zeit als Geschichtslehrerin sammelte sie heimatkundliches Material. Telefonisch teilte sie mit, dass dieses Thema niemals auf eine alltägliche Ebene gehoben werden könnte. Auf unsere Bitte traf sie mit der Schwiegertochter von Maria Jakowlewna Bojarinzewa (geb. 1932) zusammen, die ihr sagte, dass die alte Frau schon keinen Kontakt mehr aufnehmen könnte, aber sie teilte mit, dass sie bereits in den 1990er Jahren aus Deutschland eine Kompensationszahlung erhalten hätten. Anfangs waren es 15.000, später weitere 50.000. Bei der letzten Auszahlung sollten sie nicht nur eine Quittung über das erhaltene Geld unterzeichnen, sondern auch ihren Verzicht auf weitere Ansprüche. Maria Jakowlewna Bojarinzewas Erinnerungen an ihre Kindheit in deutscher Gefangenschaft fand ich in der Lokalzeitung vom 17. April 2008. Diese Erinnerungen hatte Enkel Mischa aufgezeichnet. Die Deutschen besetzten das Gebiet Smolensk im Oktober 1941. Ihr Dorf ging mehrmals von einer Hand in die andere über. Als die sowjetischen Truppen Smolensk befreiten, geriet ihr Dorf erneut auf die Frontlinie. Die Deutschen vertrieben die Dorfbevölkerung 1943 unter der Begleitung von Wachmannschaften nach Weißrussland. Kinder wie Erwachsene mussten zu Fuß gehen. Mascha war 10 Jahre alt. Im Oktober wurden sie auf Güterwaggons verladen und waren dann, via Polen, einen Monat bis nach Deutschland unterwegs. Aus den Waggone ließ man sie nicht heraus. Verpflegung erhielten sie nur nachts, wenn der Zug irgendwo anhielt. An der Station Galjaja wurde ein Badehaus eingerichtet. Käufer kamen dorthin, um sie auszuwählen. Maschas Familie (Mutter mit fünf Kindern) lebte in einem Konzentrationslager in der Siedlung Dürrenberg. Maria Jakowlewna erinnerte sich, dass sie in einer Chemiefabrik arbeiteten, in der gesundheitsschädliche Chemikalien produziert wurden. Sie lebten in einer Baracke des Konzentrationslagers zusammen mit der Mutter, aber zur Arbeit wurden sie unter Wachbegleitung allein „getrieben“. Abends wurden sie mit Autobussen zurückgebracht. Die Kinder wuschen Reagenzgläser aus Fläschchen für chemische Reaktionen aus. Aufgrund der Verätzungen löste sich die Haut von den Händen, die Krusten wollten und wollten nicht abheilen. Als ihr Lager im April 1945 von den Amerikanern bombardiert wurde, saßen sie einige Tage ohne etwas zu essen da. In Deutschland befanden sie sich bis zum Juli.
Maria Nikolajewna Bruchanowa erzählte, dass vor wenigen Jahren in Potscheta Klawdia Jegorowna Tschiginewa starb (geb. 1931), die man 1943 versuchte zusammen mit ihrer älteren Schwester aus der Ukraine nach Deutschland zu schicken; doch beim Vormarsch der Sowjettruppen wurde ihr Zug aufgrund des schlechten Zustands der Gleisanlagen angehalten. Während der Schlacht bei Kursk hatten Partisanen die Schienen in die Luft gesprengt. Sie erinnerte sich, wie ihr Zug auch von sowjetischen Flugzeugen bombardiert wurde. Die Gefangenen in einem der Waggons schoben die Türriegel beiseite und machten sich auch daran, die anderen Waggontüren zu öffnen. Alle rannten auseinander. Über Lautsprecher verkündeten die sowjetischen Piloten, dass niemand fortlaufen müsste und dass gleich Soldaten zu ihnen kämen. Und so geschah es auch.
In Pokatejewo lebt Nikolaj Petrowitsch Risow. Wir erhielten keine Informationen über ihn, er weigerte sich auch telefonisch mit unsere Vertreterin und Lehrerin der lokalen Schule zu reden. Taisja Leontjewna Smirnowa, die in den 1970er Jahren an der Pokatejewsker Schule gearbeitet hatte und ihn als einen der Elternteile ihres Schülers kannte, hatte noch nie etwas von seinem tragischen Schicksal vernommen.
Mich auf die Tatsache stützend, das die „Helden meiner Forschungsarbeit“ diese tragische Seite ihres Lebens wie ein Geheimnis gehütet haben und auch jetzt nicht gern in Kontakt treten wollen, sehe ich den Stillstand im gesellschaftlichen Bewusstsein. Den Umstand der Gefangenschaft halten vor allem diejenigen geheim, die zu der Zeit 14-17 Jahre alt waren, die also nach den Gesetzen des Kriegsrechts bereits als „Erwachsene“ zählten. Aber manche Schicksale rufen einfach nur Verwunderung hervor.
Wladimir Jakowlewitsch Swiridow wurde in deutscher Gefangenschaft geboren..
In seinem ausweis ist als Geburtsort die Stadt Kassel (BRD) vermerkt (Anhang 3).
Seine Mutter Wera Mitrofanowna wurde 1942als Schwangere aus der Ukraine nach
Deutschland verschleppt. Der Vater fiel im Krieg. Bis heute spricht Wladimir
Jakowlewitsch davon, dass er dieses Licht der Welt nur wegen eines deutschen
Bauern erblicken konnte, der ihn zusammen mit mehreren Dutzend Menschen zum
Arbeiten auf seine Felder holte. Offensichtlich hatte er Mitleid mit der
schwangeren Frau. Nachdem das Kind geboren worden war, musste die Mutter es in
der Baracke zurücklassen, um zur Arbeit zu gehen. Sogar während der
Bombardierung war sie gezwungen, mit den anderen in den Luftschutzbunker zu
laufen, für das Kind konnte sie nur beten. Scheinbar stellte es für den Herren
keinen Wert dar. Wladimir Rakowlewitsch erinnerte sich an die Worte der Mutter,
dass die Arbeiter in einer großen Baracke lebten und der Bauer sich für die
Saisonarbeiten aus dem benachbarten Konzentrationslager weitere Kriegsgefangene
aussuchte – kostenlose Arbeitskräfte.
Vera arbeitete in der Küche und versuchte immer, die Essensreste zu verstecken,
um sie später an die Kriegsgefangenen zu verteilen. Befreit wurden sie von den
Amerikanern. Wera Mitrofanowna erinnerte sich, wie in jenen Tagen geplündert
wurde. Während der Bombardierung schleppten sie die Waren aus den Geschäften
fort. Dazu wurden sie auch von den amerikanischen Okkupationstruppen ermuntert,
welche sie davon zu überzeugen versuchten, dass Plündern gegenüber den Deutschen
nur allzu gerecht sei. Wera Mitrofanowna kehrte nach der Repatriierung ebenfalls
mit einem ganzen Koffer voll Sachen in die Ukraine zurück. Aber es kam nicht
dazu, dass sie sich mit den deutschen Kleidern hübsch anziehen konnte – sie war
gezwungen alle Kleidungsstücke und Stoffe an die Verwandten abzugeben, denn
diese lebten in schrecklicher Not. Sie nähten sich Kleider aus Säcken oder
geflochtenem Hanf. Nachdem sie Swiridow geheiratet hatte, ließen sich beide nach
Chakassien anwerben. Wera Mitrofanowna verbrachte ihren Lebensabend beim
jüngsten Sohn in Aban; sie starb 1996. Seine Herkunft hat Wladimir Jakowlewitsch
nichtgeheim gehalten, aber auch nicht groß an die Glocke gehängt, weil sich
dafür auch niemand interessierte. Er war auch einer derjenigen, die zu spät von
den Kompensationszahlungen aus Deutschland erfuhren, als nämlich die Zahlungen
bereits eingestellt worden waren. Auf diese Weise hat Deutschland ihn also nicht
„berücksichtigt“, und er selber kann sich an jene Leiden nicht mehr erinnern,
die er als Säugling durchmachen musste.
Iwan Aleksejewitsch Koselkow befand sich nur vier Monate in Gefangenschaft, hätte jedoch jede Minute sterben können. Er erzählte uns folgenden Vorfall: „Einmal hat die Mama mich gerettet, indem sie sich auf den Boden kauerte und so tat, als ob sie ihre Notdurft verrichten müsse, und ich war unter ihrem Rock verborgen. Die Begleitsoldaten, die wieder einmal die älteren Kinder zur Verschickung nach Deutschland auswählten, fragten sie, wo ihr Sohn sei; sie wies zur Seite und schlug die Hände vors Gesicht, als ob sie sich schämte. So hat sie mich mehrere Tage in Folge bewacht“. Die Familie Koselow lebte im Gebiet Bransk.
Im Sommer 1943 trieben die Deutschen beim Herannahen der Front die gesamte Dorfbevölkerung zum Bahnhof. Man brachte sie bis zur Station Kanaritschi. Danach trieb man sie zu Fuß nach Weißrussland. Mutter Maria Aleksandrowna ging mit ihren drei Kindern (Wanja, geb. 1938 – Walja, geb. 1941 und Mascha, geb. 1943) zu Fuß und trug dabei nicht nur den Säugling, sondern auch die Zweijährige auf ihren Armen. Iwan Aleksejewitsch erinnert sich, dass neben der Kolonne Soldaten mit Automatikgewehren und Hunden liefen. Das Konzentrationslager lag im Dorf Budakossyrewo. Die Bretterbaracken waren von den gefangenen selber errichtet worden. Oft saßen sie unter freiem Himmel. Ein Wunder, dass die Mutter sie behütet hat. Sie schafften es nicht mehr sie bis nach Deutschland zu treiben. Aber sie hätten sterben können, als das Lager von der sowjetischen Luftwaffe bombardiert wurde. Befreit wurden sie während der Schlacht um Kursk von sowjetischen Truppen. Doch Großmutter Nadja und Großvater Danil (väterlicherseits) starben im Konzentrationslager in Ost-Preußen. (Anhang 4)
Die Erinnerungen von Maria Iwanowna Schamschura (Anhang 2) zeichnete 2008 die Heimatkundlerin Walentina Sacharowna Belskaja auf. Während sie Material über verwaiste Kinder in Heimen zusammensuchte, geriet sie zufällig an Maria Iwanowna. Nachbarn, ehemalige Zöglinge des Abaner Kinderheims hatten sie genannt. Nachdem sie erfahren hatte, dass Maria Iwanowna eine so ungewöhnliche Kindheit widerfahren war, gelang es Walentina Sacharowna dennoch, ihre Gesprächspartnerin „zum Sprechen zu bringen“. In ihren Aufzeichnungen vermerkte Walentina Sacharowna, dass es „schwierig war den Kontakt herzustellen“. Mit aller Überredungskunst bewegte sie sie zu einem Interview über ein ganz anderes Thema – im wesentlichen ihre Hobbies. Im Haus wuchsen zahlreiche Blumen, vorwiegend Geranien. Mit den Worten der Nachbarin lebt die Großmutter zurückgezogen und meidet möglichst alle Kontakte.
Geboren wurde Maria Iwanowna Schamschura am 30. April 1925 im Dorf Samost, Gebiet Smolensk. Sie erzählte, dass ihr Dorf sehr groß war, dass dort zumeist Russen wohnten. In Iwans und Warwaras Familie gab es drei Kinder. „Wir lebten in ärmlichen Verhältnissen, de Vater arbeitete in der Kolchose. Wir hatten eine Kuh und ein paar Hühner. Der Gemüsegarten war 40/100 groß, dort bauten wir Kartoffeln und Gemüse an. Der Vater starb 1941. Mutter blieb mit uns allein zurück. Im Juni, als der Krieg ausbrach, konnten wir nicht mehr rechtzeitig evakuiert werden. 1942, im Juni, kamen die Deutschen“. Über 6 Mädchen und Jungen des Geburtsjahrgangs 1925, die im Alter von 17 Jahren nach Deutschland abtransportiert wurden, erzählte sie: „Die Deutschen sagten uns, wir sollten uns fertig machen, ein paar Lebensmittel mitnehmen. Dann verfrachteten sie uns auf ein deutsches Fahrzeug und brachten uns unter Wachbegleitung in das Städtchen Rudnja, wo sich eine Bahnlinie befand. Am folgenden Tag ließ man uns in einen Güterwaggon einsteigen, verschloss die ab“. Der Zug fuhr nach Deutschland. Mehrmals wurde er von sowjetischen Flugzeugen bombardiert. In Deutschland brachten sie uns in die Stadt Hannover; wir stiegen aus den Waggons. „Wir erhielten 20 deutsche Kopeken, und man sagte uns, dass wir zum Abendessen gehen sollten. Dafür benötigten wir die 20 Kopeken, aber einige vergeudeten das Geld anderweitig und bekamen nichts. Die Suppe war mager – sie bestand aus Rüben und Kartoffeln. Dann kam ein alter Mann – ein Übersetzer; er wählte uns, sechs Mann, aus, und dann fuhren wir in das Dorf Seelze. Dort gab man uns eine Matratze, einen Krug, eine Tasse, einen Löffel und 300 Gramm Brot. Sie brachten uns zum Arbeiten an die Bahngleise, wo wir Sand vom Bahndamm hinabschaufelten und stattdessen Steine nach oben schleppten. Wir arbeiteten von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends. Das machten nur Mädchen, im Monat zahlten sie 3 Mark. Unsere Begleitwache war ein alter Deutscher. Wir schliefen auf Pritschen, auf Matratzen, die mit Holzspänen ausgestopft waren; die Decken waren aus Baumwollgewebe, die Kissen wattiert. Es gab einmal einen Vorfall, dass ich Mitleid mit einem kranken Burschen hatte; ich brachte ihm 500 Gramm Brot – das Brot hatte ein Deutscher mir gegeben, der wiederum mich bemitleidet hatte. Aber mich führten sie deswegen eine Woche lang unter Wachbegleitung zur Arbeit und den Kranken transportierten sie wenig später ab und verbrannten ihn im Krematorium. Man gab uns Zeitungen zu lesen. Wir trugen auf unserer Kleidung zeitweise eine Markierung mit den Buchstaben OSR, was „befreiter sowjetischer Arbeiter“ bedeutete. In der Stadt Hannover sah ich, wie sie einen Burschen aus unserem Dorf vor meinen Augen töteten – sie verbrannten ihn mit Strom“. Nach Maria Iwanownas Angaben wurden sie von amerikanischen Truppen befreit, danach übergab man sie den Engländern. Bevor sie uns in die Sowjetunion zurückschickten, mussten alle eine Kommission durchlaufen. Außerdem überprüfte das Militärgericht noch einmal alle Dokumente. 1945 fuhren wir nach Hause. Davon, wie sie nach Sibirien gerieten, erzählte Maria Iwanowna: „ 1946 trafen wir aus Samost in Baikan in Sibirien ein. Hier lebten 2 Brüder des Vaters (meine Onkel). Wir dachten sie würden hier besser leben, aber auch sie führten ein ärmliches Dasein. Wir blieben einen Monat dort und fuhren dann nach Aban in die „Lenin“-Kolchose. Anwerber aus dem Dorf Tajoschnoje im Bogutschaner Bezirk kamen angefahren – und ich ließ mich für drei Jahre anwerben. Dort heiratete ich Iwan Moissejewitsch Schamschura, dann kehrten wir nach Aban zurück“.
Über Wera Iwanowna Sima erhielten wir zunächst per Telefon Informationen von der Ehefrau ihres Enkels. Wera Iwanowna lebte vor dem Krieg in der Ortschaft Selidowo in der Ukraine. Erstaunlich in ihrem Schicksal war, dass sie mit zukünftigen Junggardisten bekannt war. Sergej Tjulenin schlug ihr vor, zu den Partisanen überzutreten, doch am nächsten Tag wurde sie verhaftet. Sie war damals 16 Jahre alt und – die einzige, die von sich aus bereit war, mir ein Interview zu geben. In den Ferien gelang es uns zu ihr zu fahren. Sie lebt in dem Dorf Nowouspenka (50 km von Aban entfernt); gegenwärtig ist sie 87 Jahre alt und die Einstellung gegenüber ihrem Schicksal drückte sie mit dem eigenwilligen Satz aus: „Sergej Tjulenin starb im Ruhm, und ich musste in Schande weiterleben“. Wera Iwanowna – sie ist die einzige die ihre Verbannungsstrafe verbüßte und in der Lage ist, die Bedingungen der Häftlinge in deutschen und sowjetischen Lagern miteinander zu vergleichen. (Anhang 5)
Vor dem Krieg lebte ihre Familie im Gebiet Donezk, in der Bergarbeiter-Siedlung Dobropole. Ihre Eltern arbeiteten im Schacht. Der Vater war Jude. Iwan Germogenowitsch Wirt stammte aus Melitopol. 1941 verschwand er spurlos in den Kriegswirren.
Die Mutter und ihre Kinder (Wera – geb. 1925, Grischa – geb. 1927 und Wasja – geb. 1929) wurden im April 1943 zusammen mit der übrigen Dorfbevölkerung verhaftet. Man steckte sie in Güterwaggons und transportierte sie ab; zwei Monate waren sie bis nach Polen unterwegs. Sie bekamen nur einmal am Tag Essen – immer in der Nacht, wenn der Zug anhielt, damit die Gefangenen ihre Notdurft verrichten und den Waggonboden ausfegen konnten. Sie wurden von Soldaten mit Schäferhunden bewacht. Die Toten wurden von Wachsoldaten aus den Waggons geholt und fortgetragen. Wera Iwanowna erinnerte sich: „Zwei Jahre befanden wir uns in Konzentrationslagern. Zuerst in Polen, dann brachten sie uns in die Stadt Kattowitz in der Tschechoslowakei, und vor der Beendigung des Krieges mussten wir noch einen Monat in einem deutschen Lager am Ufer der Elbe leben. Die übliche Ausstattung in den Baracken waren Pritschen, Zement-Fußboden, wattierte Decken und Matratzen, gusseiserne Öfen. Wir erhielten Arbeitskleidung und Schnürschuhe. Mit der Familie trafen wir während der Arbeit zusammen. Alle lebten in unterschiedlichen Baracken. Die Jungs arbeiteten im Schacht, die Mädchen über Tage am Transportband – sie sammelten aus der Kohle alles wertlose Gestein heraus. Anschließend wurden die Halden mit Schubkarren abgefahren; die Kohle wurde in Loren verladen und dann per Hand fortgerollt. Wir arbeiteten für gewöhnlich von morgens bis 5 Uhr nachmittags. Die Deutschen achteten auf die Sauberkeit der Deutschen. Sie richteten ein Badehaus ein, sorgten für die Beseitigung von Insekten, unterzogen die Kleidung einer Dampfbehandlung. Zu essen bekamen wir Gemüsesuppe und Brot.
Als die sowjetischen Truppen sie befreiten, wurde ihr Lager bombardiert. Alle Gefangenen liefen auseinander. Später sammelte man sie, erstellte Listen – und bereitete sie für die Verschickung vor. Von Mai bis September lebten alle zusammen verhältnismäßig frei in Deutschland. Sie verdienten sich selber ihren Lebensunterhalt, indem sie von Haus zu Haus gingen und nach Arbeit fragten. Somit dienten sie den Deutschen. Abgerechnet wurde mit Kleidung und Essen. „Schließlich warteten wir darauf, dass man uns nach Hause schicken würde, - erinnerte sich Wera Iwanowna. – Aber wir hatten uns zu früh gefreut. Im Oktober verfrachteten sie uns auf Güterwaggons ohne Öfen; unsere Fahrt dauerte bis zum 1. Januar. Wir waren in leichter Kleidung unterwegs und hatten keine Ahnung, wohin sie uns brachten. Der Zug hielt, damit man die Toten hinaustragen konnte. Dort wurden sie auch sogleich am Straßenrand vergraben. Wir hatten Glück, dass der Winter in dem Jahr ein warmer war. Am 1. Januar wurden 4 Waggons an der Bahnstation Motygino abgekuppelt. Wir wussten schon, dass wir uns in Sibirien befanden. Von dort ging es mit Schlitten, unter Wachbegleitung, weiter. Das Lager befand sich in Wjerchnaja Basaicha, wo wir unter der Kontrolle der Abschnittsbevollmächtigten lebten. Sie ließen sich unsere Unterschriften geben und überprüften ständig die Anwesenheit der Häftlinge anhand von Listen“. Auf die Frage, wo die Inhaftierung schlimmer war – in Deutschland oder in Sibirien, antwortete sie ohne nachzudenken: „Im sowjetischen Lager“. Zuerst dachte ich, dass sie damit die Lagerunterbringung und die physische Arbeit verglich. In Wjerchnaja Basaika wohnten sie in einer Baracke, die eigentlich als Pferdestall gebaut worden war: zu beiden Seiten standen zwei Öfen und der Boden bestand aus blankem Erdreich. Und dann begriff ich, dass sie die Haltung gegenüber den Gefangenen verglichen hatte. „In Deutschland wurden die Fremden verhöhnt und beleidigt, und hier geht man mit den eigenen Leuten schlimmer um, als die Deutschen es getan haben. Die Deutschen haben uns wenigstens wie Vieh gehütet, aber in der Heimat wurden wir nicht einmal als Menschen angesehen. Aber worin liegt meine Schuld?“ Sie sprach mit schwerer Zunge; nachdem ich ihr die Frage gestellt hatte, fing sie an zu erzählen, aber danach schwieg sie für lange Zeit. Wir fühlten, wie schwer es für Wera Iwanowna war sich zu erinnern. Und das ungeachtet der Tatsache, dass sie eine gewisse Freiheit gehabt hatten. Es gelang der Familie in eine separate Behausung umzuziehen – in ein Haus mit einem Zimmer. Wera arbeitete 2 Jahre beim Holzeinschlag. Dort fällten sie Holz, schnitten es mit einer Quer-Säge zu und transportierten die Stämme mit Rücke-Pferden ab. Sie war sogar Brigadeführerin. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen. Er war einer der aus Kujbyschew Evakuierten, ein gebildeter Mann. Er machte 1958 seinen Abschluss am Mariinsker Polytechnischen Institut, als sie bereits verheiratet waren. Zwei Jahre später schickten sie ihn als Leiter des Holzreviers in die Siedlung Peja. Danach nach Dolgij Most. Ilja Semjonowitsch arbeitete dort als Versorgungsingenieur. Selbst als Wera Iwanowna wieder sorgenfrei mit ihrem Ehemann leben konnte, erhielt sie keine Ausbildung, obgleich sie 1941 ihr Zeugnisse, nur mit Einsern, an die Kiewer Fachschule für Medizin geschickt hatte, wo man sie nach Abschluss der 7. Klasse ohne Aufnahmeprüfung hätte annehmen müssen. Mit ihrem Mann zog sie vier Kinder groß: Mischa – geb. 1946, Walera – geb. 1952, Olja – geb. 1955, Ilja – geb. 1957. Wera Iwanowna zog vor 9 Jahren, nachdem sie ihren Mann beerdigt hatte, nach Nowouspensk. Sie wohnt bei ihrem jüngsten Sohn.
Wera Iwanowna ist die Einzige, die nicht nur den Status „Gefangene deutscher Konzentrationslager“ innehat, sondern auch den eines „Opfers politischer Repressionen“. Sie erhielt von den Deutschen eine Wiedergutmachung. Und die Entschuldigung des Sowjetstaates kann man als miserable Zulage zur Rente werten.
Im Abaner Bezirk sind 6 Menschen verblieben, die den Status eines „Gefangenen deutscher Konzentrationslager“ haben. Es gelang uns, von jedem von ihnen Informationen einzuholen. Im Verlauf der Arbeit kam ich zu dem Schluss: besonders schwer war das Schicksal derer, die 14-16 Jahre alt waren, als man sie gefangen nahm. W.I. Sima fiel das Los zu, auch noch in einem sowjetischen Lager einzusitzen. Wera Iwanowna ist die Einzige unter ihnen, die nicht nur den Status eines „Häftlings deutscher Konzentrationslager“ hat, sondern auch den eines „Opfers politischer Repressionen“. Aber alle vier Mädchen und Mütter zweier minderjähriger Häftlinge blieben nach ihrer Rückkehr in die Heimat nicht dort, sondern ließen sich nach Sibirien anwerben. Ich denke, dass es sich dabei um eine Möglichkeit handelte, den Nachforschungen und dem ganzen Gerede aus dem Weg zu gehen.
Dieses Thema wurde wegen des Stillstands im öffentlichen Bewusstsein lange „geheim“ gehalten. Diese Erscheinung ist charakteristisch für ein totalitäres Machtsystem. So eine negative Beziehung zu den Häftlingen der faschistischen Lager formierte sich unter den Bedingungen des Stalin-Kults. Maria Nikolajewna Bruchanowa bestätigte meine Vermutung, dass dieses Thema immer geheim war. Auch die beiden Opfer deutscher Gefangenschaft, die in Potscheta lebten, blieben nicht in der eigentlichen Heimat. Ich glaube, dass sie sich in Sibirien versteckten, um nicht an ihre traurige Kindheit zurück denken zu müssen. Sie begannen erst im 21. Jahrhundert darüber zu erzählen, als Deutschland damit anfing ihnen Geld auszubezahlen. Der Staat stellte ein Stereotyp in der Denkweise und dem Auftreten seiner Bürger her. Und es ist nicht gerecht, dass ehemalige Lager-Gefangene sich bis heute ihrer Vergangenheit schämen. Indem wir die Wahrheit sagen, werden wir die Meinung der Öffentlichkeit über diese Menschen verändern.
Die von uns Befragten sind überzeugt, dass man dem einst in deutscher Gefangenschaft befindlichen Menschen immer mit Verachtung gegenübertreten wird, als wäre er ein Mensch zweiter Klasse. Die Kinder, die während des Großen Vaterländischen Krieges nach Deutschland verschleppt wurde, erhielten den Status „Gefangener deutscher Konzentrationslager“ erst 1993. Und auch das bestätigt, dass in unserem Land ein Stillstand im öffentlichen Bewusstsein vorhanden ist.
Ich führte eine Befragung im Hinblick auf die öffentliche Meinung durch. Ich teilte alle Befragten in drei Altersgruppen ein: über 80 Jahre (diese Gruppe beinhaltete auch Gefangene deutscher Konzentrationslager), mittleres Alter – diejenigen, die nach dem Krieg geboren wurden. Die dritte Gruppe bildeten Schüler der höheren Klassenstufe unserer Schule.
Im Fragebogen befanden sich u.a. Fragen wie diese:
1) Kennen Sie Kinder, die einst in Gefangenschaft waren und die derzeit im
Abaner Bezirk leben?
2) Kann man Kriegsgefangene als Opfer ansehen?
3) Halten Sie es für gerecht, dass die Häftlinge nach der deutschen
Gefangenschaft auch noch in sowjetische Lager kamen?
4) Sind die Kinder von „Gefangenen deutscher Konzentrationslager“ als Opfer
anzusehen?
5) Wären Sie damit einverstanden, allen Kindern der Gefangenen von
Konzentrationslagern den Status „Kriegsopfer“ zu verleihen?
Ich befragte 60 Personen.
Bei obigen Gruppen formierten sich unterschiedliche Meinungen, die ich anhand der Befragung ermitteln konnte.
Die Mehrheit der Befragten weiß nicht, dass es in Aban Häftlinge deutscher Konzentrationslager gibt. Keiner der Befragten nannte irgendeinen Familiennamen. Nicht alle sind der Meinung, dass man sie als Opfer ansehen muss. Und es sind auch nicht alle damit einverstanden, allen Kriegskindern den Status „Kriegsopfer“ zu verleihen; einige Schüler halten es für richtig, dass man die Häftlinge nach ihrer deutschen Gefangenschaft auch noch in sowjetische Lager schickte. Diese Meinung bezieht sich auf Erwachsene, auf Soldaten. Ein Wissenschaftler fügte sogar hinzu, dass man die Leute nicht umsonst ins Gefängnis gesteckt hat. Und manche finden nicht einmal, dass Kinder, die nach Deutschland verschleppt und „den Deutschen gedient haben“ Opfer sind. Als ob sie die Wahl gehabt hätten!
Die Ergebnisse der Befragung haben gezeigt, dass ein derartiges Merkmal des Totalitarismus als Stillstand im öffentlichen Bewusstsein auch unter demokratischen Bedingungen weiterexistiert.
Die Erinnerungen meiner Projektleiterin an ihren Vater bestätigten, dass die staatliche Politik in Bezug auf ehemalige Kriegsgefangene nicht nur die öffentliche Meinung herausgebildet, sondern sich auch in der Wurzel nicht geändert hat. Ein weiteres Beispiel – der Bericht von Wera Iwanowna Sima und jene Tatsache, dass ihr Sohn über das Schicksal seiner Mutter, die in deutschen und stalinistischen Lagern war, erst erfuhr, als er bereits erwachsen war, als er selber bereits am Institut studierte. Auf die Frage, weshalb sie so viele Jahre geschwiegen habe, erwiderte Wera Iwanowna nur: „Ich kann nicht“. Und nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, wiederholte sie das noch einmal.
Man erkannte sie offiziell als Kriegsteilnehmerin an verlieh ihr die Medaille „Für den Sieg über Deutschland“. In den Archiven sind alle Dokumente verwahrt, und in den Fragebögen sollt die Tochter beim Umzug in „die Neunte“ angeben, ob jemand in Gefangenschaft war. Das war erforderlich, um dem Enkel eine Arbeit bei der Miliz zu verschaffen. Weshalb sind die Archive bis heute unter geheimem Verschluss? Warum gibt es keinen Zugang zu ihnen? Was gibt es denn zu verbergen? Warum gestattet man den Angehörigen, der Gesellschaft nicht, selber den „Grad der Schuld“ eines jeden zu definieren. Aber vielleicht ist es an der Zeit, sie einstweilen alle einfach als Kriegsopfer anzuerkennen? Mir ist nicht wohl dabei, dass ich erkennen muss, dass Deutschland (der Feind) das anerkannt hat, aber Russland – die Heimat dieser Menschen, weiterhin die Archive unter Geheimhaltung lässt, als ob es auf irgendeine „Schuld“ dieser Menschen anspielt.
Auf staatlicher Ebene muss man die Suche im Ausland nach unseren Kindern, die nach Deutschland verschleppt wurden, organisieren. Es ist in erster Linie der Staat, der die Ungerechtigkeit korrigieren muss, dann wird sich auch in der Gesellschaft die Haltung gegenüber den Kriegsopfern ändern. Ich bin der Ansicht, dass man allen Kindern jener Jahre den Status „Kriegsopfer“ zuerkennen muss. Aus ihnen sind bereits alte Leute geworden, und noch immer ist diese Frage auf staatlicher Ebene nicht entschieden worden. Wenn unser Staat laut Konstitution ein Rechtsstaat ist, dann sollte die Entscheidung über diese Frage positiv ausfallen.
1. Krasnojarsk – Berlin, K, 2010
2. AIF – Argumente und Fakten, N° 39, 2012 „Gefangene aus dem Haus der Blitze“,
Georgij Sotow
3. AIF – Argumente und Fakten, N° 40, 2012, „Räuberleben“, Georgij Sotow
4. „Rotes Banner“, 18. April 2008
5. HTTPS://www.kurskcity.ru/news/firstline/59885/ (Art. Krieg und Kinder:
Erinnerungen minderjähriger Kinder), Anna Moskalewa
6. Erinnerungen von Maria Jakowlewna Bojarinzewa (geb. 1932), die in der
Siedlung Potschet, Straße des Sieges 9, Wohnung 1, lebt.
7. Erinnerungen von N.W. Kaljakina (geb. 1952), wohnhaft in der Siedlung Aban,
Steppen-Straße 29, Wohnung 1.
8. Erinnerungen von Iwan Aleksejewitsch Koselkow (geb. 15. Januar 1938),
wohnhaft Siedlung Aban, Tschernyschewskij-Straße 17.
9. Erinnerungen von Wladimir Jakowlewitsch Swiridow (2. März 1943), wohnhaft in
der Siedlung Aban, Steppen-Straße 2, Wohnung 1.
10. Erinnerungen von Wera Iwanowna Sima (geb. 1925), wohnhaft in der Ortschaft
Nowouspensk, Wald-Straße 2, Wohnung 1.
11. Erinnerungen von Maria Iwanowna Schamschura (geb. 26. Oktober 1925),
wohnhaft in der Siedlung Aban, Steinbruch-Straße 3, aufgezeichnet 2008 von dem
Heimatkundler W.S. Belskoj.
12. Erinnerungen von Lidia Antonowna Schwedowa (1924-2010), aufgezeichnet 2009
von N.W. Kaljakina.
Darja Scharkewitsch
Aban, kommunale Bildungseinrichtung – Abaner Allgemeinbildende Oberschule N° 3,
Klasse 10a
„Verschleppt nach Deutschland“
Leitung: Nadeschda Wasiljewna Kaljakina, Geschichtslehrerin
Ziel der wissenschaftlichen Arbeit: Anhand der Einstellung gegenüber den
Schicksalen von Kindern, die während des Krieges nach Deutschland verschleppt
wurden, das Vorhandensein des Stillstands im öffentlichen Bewusstsein zu
beweisen – ein Stillstand, der als Merkmal des Totalitarismus zu werten ist.
Methoden: Quellenanalyse, soziologische Befragung, Interview
Die Arbeit gründet sich auf den Erinnerungen von Abanern, welche den Status
„Kinder-Gefangene faschistischer Lager“ innehatten. Sich auf die Tatsache
stützend, dass sie diese tragische Seite ihres Lebens als Geheimnis bewahrt
haben, tritt die Autorin die Beweisführung für den vorhandenen Stillstand im
öffentlichen Bewusstsein an. Sie bekräftigt dies mit den Angaben aus der
soziologischen Befragung dreier Erwachsenen-Gruppen aus der Bevölkerung und dem
Mangel an Kenntnissen über die eigenen Landsleute, die während der Kriegsjahre
als Kinder nach Deutschland verschleppt wurden.
Lidia Antonowna Schwedowa
Sie schied aus dem Leben, nachdem sie selbst ihren Angehörigen ihre
Vergangenheit verschwiegen hatte
Maria Iwanowna Schamura
Wladimir Jakowlewitsch Swiridows Pass. Geburtsort Kassel, BRD
Iwan Aleksejewitsch Koselkow mit seinen Schwestern (Walentina und Maria) und
der Mutter, die bei den Deutschen in Gefangenschaften war
Wera Iwanowna Simas Dokumente, die den Status „Gefangene faschistischer Lager“
und „Opfer stalinistischer Repressionen“ bestätigen
[1] Krasnojarsk – Berlin
[2] HTTPS://www.kurskcity.ru/news/firstline/59885/ (Art. Krieg und Kinder:
Erinnerungen minderjähriger Kinder), Anna Moskalewa
[3] HTTPS://www.kurskcity.ru/news/firstline/59885/ (Art. Krieg und Kinder:
Erinnerungen minderjähriger Kinder), Anna Moskalewa
[4] AIF – Argumente und Fakten, N° 39, 2012 „Gefangene aus dem Haus der Blitze“,
Georgij Sotow
[5] AIF – Argumente und Fakten, N° 40, 2012, „Räuberleben“, Georgij Sotow
[6] HTTPS://www.gorod72info/vopros/292-kz.html (Art. Nazistische
Konzentrationslager in den Jahren des Zweiten Weltkriegs (mit Karte))