Autorin: Natalia Specht, Schülerin der 9. Klasse der städtischen allgemeinbildenden Mittelschule N° 7.
Projektleitung: L.F. Morosowa, Leiterin des Heimatkundekreises.
Tolstyj Mys
2007
Der Mensch in der Geschichte ... Bis vor kurzem war ich davon überzeugt, dass die Geschichte unseres Landes Fakten aus dem Leben großer oder einfach nur bekannter Leute sind. Im Laufe der Zeit begriff ich: nicht weniger interessant ist das Leben ganz gewöhnliche Menschen. In ihren Schicksalen spiegelt sich die Geschichte des Landes nicht weniger deutlich wieder, als im Leben herausragender Persönlichkeiten. Zu dieser Überzeugung gelangte ich, nachdem ich mehr aus dem Leben meiner Verwandten erfahren hatte.
Meine Familie lebt in der Siedlung Tolstoyj Mys, die sich direkt an der Grenze zu Chakassien befindet. Diese Republik zieht die Einen wegen ihrer Kurorte an, andere aufgrund ihrer vergangenen, in vieler Hinsicht interessanten Kultur, ihrer Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ihrer einzigartigen Natur, dem Klima sowie der wunderbaren Pflanzen- und Tierwelt. All das interessiert mich auch, vor allem deswegen, weil Chakassien die Heimat meiner Vorfahren ist. Ich habe einen interessanten Ursprung. Mein Vater, Andrej Davidowitsch Specht, und alle Verwandten seiner Linie sind Deutsche Und die Großmutter lebt noch; man kann sie über ihr Leben ausfragen und eine würdige Arbeit darüber schreiben. Ich und mein Bruder tragen einen deutschen Nachnamen, aber ich möchte nicht, dass die Verbindung zu unseren cjakassischen Wurzeln verloren geht, denn viele von ihnen sind schon nicht mehr am Leben, darunter auch meine Großmama, die Mutter meiner Mutter, mit deren Tod dann auch unser rein chakassisches Geschlecht zuende ging. Sie, Nina Semjonowna Tormosakowa, meine Großmutter, ist es, der ich diese Arbeit gewidmet habe.
Meine familiären Wurzeln mütterlicherseits nehmen ihren Anfang aus einem uralten chakassischen Geschlecht. Mein Urgroßvater, Semjon Timofejewitsch Tormosakow war Vertreter eines einst reichen, aber später verarnten Klans. Seine Familie zählte nicht zu den Reichen, aber als arm konnte man sie eigentlich auch nicht bezeichnen. Alle Kinder in der Familie Tormosakow erhielten Grundschulbildung. Die Jahre gingen ins Land. Der Junge Sema wuchs heran und der junge Mann Semjon Tormosakow verliebte sich in ein schönes Mädchen aus einem sehr wohlhabenden mittelasiatischen Großbauerngeschlecht – Mascha Tinnikowa. Aber die Eltern des Mädchens lehnen es glattweg ab, ihre Tochter an Semjon zu vergeben; und so beschließt er die Geliebte zu rauben. Das gelingt ihm auch. Der Urgroßvater brachte meine Urgroßmutter in das benachbarte Dorf Askis, dort heirateten sie und lebten von nun an ihr gemeinsames Leben. Urgroßvater begann als Buchhalter zu arbeiten. Das war zu jener Zeit eine Seltenheit: es gab nur sehr wenige Chakassen, die lesen und schreiben konnten. Die junge Familie bekam Zuwachs, und Maria widmete sich ihren Aufgaben im Haus und bei der Erziehung der Kinder. Sechs Kinder wurden insgesamt geboren, aber nur drei Töchter überlebten bis zu ihrer Volljährigkeit: Anna, Klawdia und Nina. Es kam das verhängnisvolle Jahr 1937. Viele Menschen wurden aufgrund von Verleumdungen verhaftet, und ihr weiteres Schicksal verlief tragisch.Auch das Haus der Tomosakows entging diesem Elend nicht. Urgroßvater wurde denuniziert und infolgedessen als Volksfeind verhaftet; er kam mit einem Gefangenentransport ins Orlowsker Gefängnis. Dies geschah im Sommer 1937, etwa zwei Monate vor der Geburt der jüngsten Tochter Nina, die später meine Großmutter (Mutter mütterlicherseits) werden sollte. Nach der Verhaftung vergingen vier Jahr. Wieviel Willenskraft und festen Glauben brauchte es, um diese schwere Zeit nicht nur durchzustehen, zu überleben, sondern auch zu kämpfen und auf den Sieg der Gerechtigkeit zu hoffen. In dieser Zeit schrieb Urgroßmutter dreimal einen Bittbrief an Stalin, in dem sie um Revision des Straffalls von Uropa Semjon bat. Sie erhielt jedoch nie eine Antwort. Der Große Vaterländische Krieg brach aus. Die deutschen Truppen rückten weit in unser Land vor. Als sie sich der Stadt Orel näherten, wurden fast alle im Orlowsker Gefängnis Inhaftierten in aller Eile erschossen. Unter den Erschossen befand sich auch mein Urgroßvater. Einige Monate später erhielt die Familie ein Schreiben über seine Begnadigung, aber es war bereits zu spät. Der Stempel „Volksfeind“ verfolgte die Töchter noch lange Zeit.
Anna, die älteste Tochter wurde am 1. Januar 1924 geboren. Sie war der Liebling des Vaters und trat später in seine Fußstapfen: sie wurde Buchhalterin. 1946 fuhr sie aus ihrem Heimatdorf in die Stadt Abakan. Dort beendete sie ihre Buchhalter-Kurse und begann zu arbeiten, und 1947 heiratete sie den Offizier Stepan Wasiljewitsch Slepkow, der von der Front zurückgekehrt war. Das bestimmte in vielen Dingen ihr weiteres Schicksal. Als Frau eines Offiziers im Ruhestand, eines ehemaligen Frontkämpfers, hatte sie es leichter als ihre Schwestern; sie konnten sich ihr Leben einrichten und im Beruf vorankommen. 1948 kam der erstgeborene Sohn Walera zur Welt. Die jungen Eltern arbeiteten zunächst beim Bau der Krasnojarkser Eisenbahnlinie, anschließend an der Zweiglinie Abakan – Tajschet. Der kleine Walera wurde anfangs von Großmutter Maria aufgezogen. Vier Jahre später wurde den Slepkows der zwiete Sohn – Wladimir – geboren. Die Jahre gingen dahin. Die Slepkows erhielten eine Wohnugn in Abakan.Anna kam auf der Dienstleiter schnell voran. Sie wurde Hauptbuchhalterin in der großen Abakaner Fabrik „Abakanwaggonmasch“ (Abakaner Waggon- und Maschinenfabrik; Anm. d. Übers.). Die Söhne wuchsen heran, dienten in der Armee, und jeder von ihnen bekam später ebenfalls zwei Söhne. Ihre Mutter starb 1981.
Klawdia, die mittlere Tochter, wurde 1926 geboren. Sie war von Kind an äußerst aktiv, unfolgsam – ein fröhliches Mädchen. Sie begeisterte sich für Sport, nahm an Leichtathletik-Wettkämpfen und Pferderennen teil. Einmal nahm sie den zweiten Platz in Sibirien und dem Fernen Osten ein. Mit siebzehn Jahren verliebte sie sich in einen bildhübschen Zigeuner aus einem durchreisenden Zigeunerlager und wollte mit ihm fliehen, aber die Mutter verhinderte es. Das Schicksal der Tochter war eine Wiederholung des Schicksals ihrer Mutter: das Verbot der Heirat, der Fluch der Eltern und als Folge davon ein in jeder Beziehung ungeordnetes Leben. Klawdia wurde Kassiererin an der Dorfschule. Allerdings brachte ihr leichtfertiger Charakter sie ständig in unangenehme Situationen Wegen einer unbedeutenden Unterschlagung wurde sie verurteilt und verbrachte daraufhin zehn Jahre in einem Lager. Ihr persönliches Schicksal kam nicht in geordnete Bahnen, sie hatte keine Kinder, aber sie liebte ihre Neffen über alles. Klawdia war geschickt im Handarbeiten, konnte ausgezeichnet nähen und auf verschiedene Arten sticken. Sie konnte auch gut kuchen und Essen zubereiten, mochte immer gern Besuch haben. Sie starb 1972 im Alter von 48 Jahren.
Nina, die jüngste Tochter wurde 1937 geboren. en Vater bekam sie schon nicht mehr zu sehen, denn er war verhaftet worden. Und als sie vierzehn Jahre alt war, verstarb nach schwerer Krankheit ihre Mutter. Die beiden älteren Schwestern konntern sich mit der Erziehung der jüngsten nicht befassen, und so kam Nina ins Internat. Nachdem sie die Schule beendet hatte, ließ sie sich am Krasnojarsker Medizinischen Institut einschreiben. Niemand half dem jungen Mädchen; es war ganz auf sich allein gestellt und mußte sich als Pflegerin im Krankenhaus etwas dazuverdienen. Oft war sie krank. Aufgrund all dieser Umstände wurde Nina nach dem ersten Semester wegen mangelnder Leistungen vom Studium ausgeschlossen. Von diesem Moment an beginnt ihre Odyssee auf der Suche nach dem Glück. Sie fuhr durch die halbe Sowjetunion, versuchte sich in mehreren Berufen: Kochgehilfin, Krankenpflegerin, Kindergärtnerin im Kinderheim, Erzieherin im Internat. In Krasnojarsk lernte sie einen rothaarigen, blauäugigen Burschen aus der Umgebung von Rjasan kennen – Viktor Gadyschew. Das Schicksal sollte sie zusammenführen und – wieder trennen. Vier Jahre später heirateten sie. Viktor diente zu jener Zeit in der Armee; zwei ganze Jahre hatte er dort noch nach.Die beiden ließen sich beim Standesamt der Stadt Schuja registrieren. Sie besaßen nichts weiter, als ein Bettlaken und eine Soldatendecke, die Viktor in seiner Einheit geschenkt bekommen hatte. Nach der Registrierung fuhr Nina in die Stadt Frunse, wo im Oktober 1963 Tochter Natascha geboren wurde, meine Mama. Nach der Armee kam Viktor zu Frau und Kinf nach Frunse. Hilfe konnte die junge Familie von niemandem erwarten. Viktors Vater starb, und dann wurde seine Mutter, die in er Umgebung von Moskau wohnte, schwerkrank. 1969 wurde den Gladyschews eine weitere Tochter, Ljuba, geboren. Zu jener Zeit zog die Familie nach Abakan um. Als Tochter eines Repressierten erhielt Nina eine Wohnung. Sie arbeitete am Verkehrsknotenpunkt als Sortiererin, anschließend als Ingenieurin mit Dienstausweis für den Einsatz an verschiedenen Orten. Viktor war als Maschinist auf einer Diesellok tätig. 1977 wurde ihr Sohn Denis geboren. Nina Semjonowna Gladyschew, meine Oma, verstarb 1998 in Abakan; sie wurde in Tolstyj Mys beerdigt, ein Ort, den die Familien ihrer Kinder, zusammen mit den Verwandten, jedes Jahr einmal aufsuchen.
Die älteste Tochter der Gladyschews – Natalia – ist meine Mama. Sie wurde Lehrerin für Französisch und Englisch und begab sich zum Arbeiten in den Nowoselowsker Bezirk, wo sie sich seit nunmehr zwanzig Jahren mit pädagogischen Tätigkeiten an der Mittelschule in Tolsyj Mys befaßt: vierzehn Jahre als Englischlehrerin, vier Jahre als stellvertretende Direktorin für Lehr- und Erziehungsarbeit und nun im zweiten Jahr als Direktorin der Schule. Hier hat sie auch geheiratet.
Welches Schicksal wäre der Familie meiner Urgroßeltern widerfahren, wenn Semjon Timofejewitsch nicht Opfer von Repressionen geworden wäre? Wr hat am meisten unter dieser Situation gelitten? Die junge Frau, die den geliebten Mann verlor, alle verfügbaren Kräfte auf die Erziehung ihrer beiden Töchter verwandte, früh alterte und so früh aus dem Leben schied, dass sie eine erst vierzehnjährige Tochter als Waise hinterließ? Oder vielleicht Klawdija, die mittlere Tochter, die es nicht verstand, sich ein glückliches Familienleben zu schaffen und ihre besten Qualitäten unter Beweis zu stellen? Oder ist es Nina, die ihren Papa nie zu sehen bekam, die ohne einen klugen, strengen, aber liebevollen Vater aufwuchs und ohne eine starke, unerläßliche, männliche Schulter an ihrer Seite? Ich denke, dass alle sehr gelitten haben – auch die Gesellschaft. Vielleicht hätte Chakassien unter anderen Umständen auf Klawdijas sportlichen Erfolge stolz sein können, und Nina hätte als Ärztin viele Leben retten können.
Von meinen Verwandten haben Mama, Großvater, Verwandte, die in Abakan wohnen, mir erzählt. Vieles habe ich aus Fotografien entnommen (s. Anlage), auf denen leider weder Semjon Timofejewitsch Tormosakow, noch Maria Michailowna Tinnikowa zu sehen sind. Leider war es niemandem vergönnt, die Papiere dieser, meinem Herzen wichtigen Menschen zu bewahren. Angesichts meines Alters und Bildungsniveaus habe ich das Ausmaß der Tragik, die Bitterkeit über Verlust und Enttäuschung, die meine Verwandten am Wendepunkt der Geschichte unserer Heimat heimsuchten, nicht vollständig begriffen, aber eines habe ich im Verlauf dieser schriftlichen Arbeit verstanden: die Geschichte des Landes setzt sich zusammen aus der persönlichen Geschichte eines jeden von uns.
Ich bin tzutiefst davon überzeugt, dass meine Arbeit, die in unserem Familienarchiv aufbewahrt wird, es unseren Nachfahren nicht gestatten wird, unsere chakassischen Wurzeln zu vergessen, beziehungsweise nichts über sie zu wissen; sie werden stolz darauf sein, von unseren Vorfahren lernen Schwierigkeiten zu bewältigen, fleißigund zielstrebig zu sein und Güte und Hochachtung gegenüber den Menschen ihr ganzes eigenes Leben hindurch zu beherzigen.
Vor drei Jahren nahm ich an einem Fern-Wetbewerb von Referaten zum Thema „Meine Ahnentafel“ teil, in dem ich eine Beschreibung unseres chakassischen Geschlechts gab, das durch den Tod meiner Großmutter Nina Semjonow Gladyschewa, der Mutter meiner Mama, ein jähes Ende nahm. Unsere gesamte Familie verbrachte ganze Abende mit ergreifenden Gesprächen über die Geschichten von Liebe, elterlichen Verwünschungen und den Schicksalsschlägen, die meinen Urgroßeltern und ihren Kindern im Laufe ihres Lebens zuteil geworden waren. Mein Vater verheimlichte nicht einmal seinen Ärger und seine elterliche Eifersucht: warum ich nicht über sein Geschlecht schriebe, wollte er wissen. Damals schien ich darauf eine eindeutige Antwort zu haben: die Geschichte von mamas Familie war ganz klar und durchdringend, und in einem gewissen Maße sogar romantisch. Mr schien es, als ob es noch mehr Kummer, noch größere Verluste gar nicht geben konnte. Was konnte das chakassische Geschlecht, Abkömmlinge von Steppenbewohnern, mit den Auswanderern aus Deutschland gemeinsam haben, die seit dem 18. Jahrhundert in Rußland, auf der Krim, lebten? Und was war am Leben meiner Großmutter, Papas Mutter, so interssant? Ich liebe sie sehr, sie lebt in Tolstyj Mys, gar nicht weit von uns, und in ihrem Leben ereignet sich nichts Besonderes, Außergewöhnlichs, Ergreifendes. An die Erforschung von Papas Familie machte ich mich anfangs nur deswegen, weil ich Vater nicht kränken wollte, aber das, was ich dann über das Schicksal meiner Verwandten erfuhr, hat mich zutiefst erschüttert. Hatte ich im vergangenen Jahr einen guten Berater in meiner Mama gefunden, so war es in diesem Jahr äußerst schwer, Angaben über die Vergangenheit der Familie zu erhalten und die Einzelheiten zu analysieren: Oma kann sich an vieles nicht mehr erinnern, und an vieles möchte sie ganz offensichtlich auch gar nicht zurückdenken. Ich mußte mich an Bekannte, Verwandte und Druckwerke wenden, denn auch Pap weiß nicht sehr viel, die Oma ist keineswegs redselig und man möchte sie auch nicht mit unnötig mit schweren Erinnerungen belasten und in Unruhe versetzen. Leider sind keinerlei Dokumente erhalten geblieben.
Die Familie meines Vaters besitzt tiefe deutsche Wurzeln. Ihre Geschichte ist uns seit dem Augenblick bekannt, als die ersten Deutschen in Rußland heimisch werden und ihre nationalen Siedlungen aufbauen. Einer dieser Siedlungen wurde die Kolonie Straßburg in der Region Odessa. Jetzt ist dies nächstgelegenes Ausland, aber damals war Straßburg teil der großen Sowjetunion. Es war ein großes Dorf, wohlhabend, und es gab sogar eine katholiche Kirche. Die deutschen Familien zeichneten sich durch einen starken Zusammenhalt aus und waren kinderreich. Viele von ihnen besaßen eine große, florierende Wirtschaft. Eine dieser Familien waren die Fischers.
Jakob wuchs in einer Familie auf, in der Fleiß und Achtung gegenüber den Alten zu den traditionellen Werten gehörten. Die einträchtig miteinanderlebende Familie besaß eine gesunde Wirtschaft, es fehlte an nichts. Allerdings verstieß Jakob gegen die Grundsätze seiner Familie, als er Margarita begegnete. Sie war ein Mädchen mit ungewöhnlich schönen Augen, deren Blick geradewegs das Herz des jungen Mannes durchbohrte. (Diese wunderbare Schönheit der Augen hat sich bis ins Alter bewahrt). Sie gewannen einander lieb. Aber Jakobs Eltern waren kategorisch gegen diese verbindung, denn Margarita kam aus einer für Deutsche untypischen Familie, aus einer – wie man heute sagen würde – mißratenen. Die Familie sprach einen Fluch über Jakob aus, alle Verwandten sagten sich von ihm los, aber er heiratete trotzdem seine geliebtes Mädchen und zog mit ihr in ein eigenes Haus um. Das waren meine Urgroßeltern Margarita Adamowna Masset und Jakob Andrejewitsch Fischer. Sie lebten sehr einträchtig miteinander, liebten sich sehr, obwohl es schwierig war, sich ohne die Hilfe der Eltern auf eigene Beine zu stellen. Am 12. Januar 1940 wurd ihr drittes Kind geboren. Sie nannten das Mädchen Regina – zu Ehren der Großmutter. Regina war meine Oma.
Kurz darauf brach der Große Vaterländische Krieg aus. Es war eine schwere Zeit, man hatte kein Vertrauen zu den Deutschen. Eines nachts, als alle schliefen, drangen Soldaten in das Haus der Fischers ein und jagten alle hinaus; zu diesem Zeitpunkt war Jakob im Krieg. Aus den Erinnerungen von Urgroßmutter Margarita Adamowna: „Wir nahmen nur das mit, was wir tragen konnten; sie erlaubten jedem nur ein paar Kilogramm einzupacken. Wir begriffen nicht, was da vor sich ging, waren völlig erschreckt und verängstigt. Lange Zeit liefen wir durch die Dunkelheit, alle schrien, die Mütter hatten kleine Kinder auf dem Arm; alle wurden in einen Raum hineingetrieben, und dann wurden alle in verschiedene Richtingen verschickt“. Sie fuhren in beheizbaren Güterwaggons, in denen viele Menschen zusammengepfercht waren. Zugluft, Kälte, Hunger, Bombenbeschuß. Ein bewaffneter Soldat begleitete sie während der gesamten Fahrt. Es war verboten, während der Zughalte den Waggon zu verlassen, und sie erlaubten Margarita auch nicht, ihr verstorbenes Kind zu beerdigen, sondern erteilten ihr vielmehr den Befehl, es bei voller Fahrt aus dem Zug zu werfen. Die Urgroßmutter hat über ihre Gefühle, die sie in diesem Moment empfand, nicht gesprochen, aber es läßt sich unschwer vermuten, was in ihr vorgegangen ist und was sie durchgemacht hat.
Wohin man sie brachte, was mit ihnen geschehen würde – das wußten sie nicht. Für Margarita und ihre Kinder war es eine sehr lange und beschwerliche Fahrt. Die Familie wurde auf grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 repressiert und zur Sonderansiedlung in den Bezirk Jemeljanowo, Region Krasnojarsk, zwangsverschickt. Sie bekam ein einziges Zimmer für die ganze Familie zugewiesen. Jakob war im Krieg, und so mußte Margarita allein die Kinder großziehen; sie hatte verschiedene Arbeitsstellen, aber das reichte nicht aus, um alle Kinder in die Schule schicken zu können. Geholfen haben ihr der Gemüsegarten und die hier ansässigen Bewohner; sie pflanzten Kartoffel, Kohl, Steckrüben, Rüben und Wurzeln. Mit Kleidung halfen die anderen Dorfbewohner aus. Was für ein sonderbares Schicksal: der Mann an der Front, Frau und Kinder in Sonderansiedlung. Es war ihnen nicht erlaubt, nach Krasnojarsk zu fahren. Es war eine schreckliche Zeit. Wir kennen das sibirische Klima und sind es bereits gewohnt. Aber stellt euch vor, wie es denen erging, die seit ewigen Zeiten in den südlichen Gegenden des Landes gewohnt und von der Landwirtschaft gelebt hatten. Jetzt wurde all das abgelöst von rauhen klimatischen Bedingungen und Schwerstarbeit bei der Beschaffung von Lebensmitteln. Äußerst schwierig gestaltete sich die Situation mit dem Wohnraum, der Lebensmittelversorgung, Kleidung und den alltäglichen Lebensbedingungen überhaupt. In der Bracke, in der sich ihr Zimmer befand, gab es unendlich viele Ritzen in den Wänden, es war kalt und zog. Möbel gab es praktischnicht – ein Tisch, Pritschen anstelle von Betten und ein kleiner Ofen. An Kleidung besaßen sie nur das Allernötigste. Allen sowieso schon vorhandenen Widrigkeiten zum Trotz ließ sich das Leben nichts entgehen: es gab Krankheiten, Kummer und Gram, aber auch freudige Ererignisse. Vor mir liegen Fotos, die mir die Oma gegeben hat. Eines von ihnen (s. Anlage) hat mein besonderes Augenmerk auf sich gezogen. Man sieht darauf ein Mädchen in weißer Tracht, ähnlich einem Hochzeitskleid, mit einem merkwürdigen Kranz auf dem Kopf. Ich befragte Großmutter zu dieser Fotografie und sie erzählte mir, dass das Bild anläßlich ihres ersten Abendmahls gemacht wurde. Es war eine fremde, unruhige Zeit damals, als viele deutsche Familien, die man nach Sibirien umgesiedelt hatte, gezwungen waren, ihr Leben wieder ganz von vorn und unter neuen Bedingungen anzufangen. Aber es änderten sich lediglich die äußeren Bedingungen; Erinnerung, Sitten und Bräuche, Traditionen und Familienzusammenhalt bleiben erhalten, die Menschen gaben sie von Generation zu Generation weiter. Die Deutschen erzogen ihre Kinder stets im christlichen Glauben. Da machte auch Großmutters Familie keine Ausnahme. In der Siedlung, in die sie „umgezogen“ waren, wurde eine Sonntagsschule für Mädchen eingerichtet, wo sie Kirchenlieder und Gebete in deutscher Sprache lernten. Als der feierliche Moment gekommen war, legten die Mädchen weiße Kleider und einen Kopfschmuck aus Blüten und Spitzen an. Diese Tracht symbolisierte die Reinheit ihres Benehmens und ihre Gedanken. Zuerst wurden von den Mädchen Lieder gesungen und Gebete gesprochen, und dann vollendete der Geistliche das Geheimnis des ersten Abendmahls. Nach meinem Gespräch mit der Oma betrachtete ich noch lange das alte, im Laufe der Zeit vergilbte Foto. Wieviel Zeit verbirgt sich hinter einer einzigen Aufnahme!
Meine Großmutter, Regina Jakowlewna, wurde im Alter von sechzehn Jahren aus der Sonderansiedlung freigelassen – am 23, Januar 1956, auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955. Anschließend zog die Familie nach Krasnojarsk um.
In Tolstyj Mys, Nowosjelowsker Bezirk, ließ sich Reginas älteste Schwester Maria nieder, die den jungen, schönen Johann Specht geheiratet hatte. Dieser hatte einen Bruder namens David. Regina kam eines Tages zu ihrer Schwester zu Besuch, wo sie David kennenlernte, und bald darauf heirateten die beiden und zogen ebenfalls nach Tolstyj Mys. Regina holte nach und nach ihre Eltern und ihre Oma Regina Masset zu sich, wo diese bis zu ihrem Tode lebten. David brachte Regina nach Kasachstan zu ihren Eltern. Aber es kam kein vernünftiges Familienleben zustande, und so kam Regina erneut nach Tolstyj Mys, nun bereits ohne Ehemann, schwanger und mit einem einjährigen Kind auf dem Arm. 1964 bekam sie Sohn Andrej. David kam mehrmals, um Regina zurückzuholen, bat sie wieder nach Hause zu kommen, aber sie öffnete ihm nicht einmal die Tür.
Das Schicksal meinte es mit meiner Großmutter nicht gut. Es gelang ihr nicht, ein Familienleben aufzubauen, weder in derster noch in zweiter Ehe, aber das konnte sie trotzdem nicht zerbrechen. Sie erzog vier bemerkenswerte Kinder, von denen der älteste, Andrej Davidowitsch Specht, mein Vater ist. An ihn gab sie auch das wunderbare Blau und den einzigartigen Ausdruck der Augen Margaritas, seiner Großmutter, weiter. Meine Oma verstand es nicht nur ihr eigenes Leben in würde zu leben, sondern dies auch ihre Kinder zu lehren. Ihr ganzes Leben lang hat sie immer gearbeitet, niemals die Hände in den Schoß gelegt. Sie arbeitet als Hilfsarbeiterin in der Nowoselowsker Sowchose und zählte immer zu den Bestarbeiterinnen. Für ihre Akkordarbeit wurden ihr Urkunden und Diplome verliehen, sie erhielt wertvolle Geschenke. Einmal wollte man sie mit einem Reisegutschein zur Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft in Moskau ehren, aber sie lehnte ab: sie wollte ihre kleinen Kinder und die Wirtschaft nicht im Stich lassen. Ihre Kinder erzog sie zu fleißigen Menschen, die es verstehen Schwierigkeiten zu keistern, genau so wie sie es selber immer gehalten hat. Oma hat es immer verstanden (und auch heute gelingt ihr das noch sehr gut), ihren Haushalt so zu führen, dass sie und ihre Kinder, trotz eines niedrigen Verdienstes und einer heute geringen Rente, nicht nur das Allernötigste besaßen, sondern immer auch etwas Neues, Zeitgemäßes (Möbel, Kleidung, Transportmittel). Es gibt wohl keine einzige Universität auf dieser Welt, die einen ein solches Handwerk lehren kann. Das Leben selbst war für meine Großmama, eine bescheidene, rastlose Arbeiterin, die kaum lesen und schreiben konnte, der weiseste Lehrmeister.
Vor mir liegen Familienrelikte – Fotografien. Auf diesem hier ist sie noch ganz jung, ergreifend schwächlich in ihrer weißen Tracht; das erste Abendmahl. Und da, da ist sie schon in reifem Alter, mit Bekannten und Verwandten, mit Enkeln und Urenkeln (s. Anlage). Viele Bilder wurden am Arbeitsplatz gemacht, darauf sieht die Großmutterimmer ernst aus. So war sie auch im Leben. Für mich ist meine Großmutter die fürsorglichste und beste, zärtlichste und zugleich strengste Oma. Sie liebt all ihre Enkel und Urenkel sehr – dreizehn hat sie schon. Ich habe niemals gesehen, dass Großmama einfach nur so dagesessen und sich ausgeruht hat, sie hat immer irgendeine Arbeit, ist immer mit irgendetwas beschäftigt. Und sie hat beim Großziehen all ihrer Enkel mitgewirkt. Oma ist immer bemüht, allen zu helfen. Für mich ist sie ein Musterbeispiel an Fleiß, Genauigkeit, Standhaftigkeit und Beharrlichkeit beim Erreichen von Zielen, der Liebe zum Leben und der Fürsorge für ihre Lieben.
Die Bedingungen, unter denen meine Großmutter lebte, haben einen Stempel auf ihrem Charakter, ihrer Lebensweise hinterlassen. Leider spricht sie überhaupt kein Deutsch, obwohl sie das, was man in ihrer Muttersprache sagt, versteht; schließlich ist doch die Sprache das wichtigste Element der geistigen Kultur. Sie ist auch mit der nationalen Küche nicht vertraut. Wie alle repressierten Rußland-Deutschen, die praktisch nichts mehr besaßen, was sie an das Leben an den Heimatorten erinnerte, hat Oma doch noch vieles in der Erinnerung und in ihrem Herzen bewahrt. Die heutigen Deutschen – das sind schon nicht mehr diejenigen, die vor mehr als sechzig Jahren hierher kamen. Aber bis heute verstehen sie, wer sie sind und wer ihre Vorfahren waren, und ihr Wissen vermitteln sie an uns weiter, an ihre Kinder und Enkel.
Heute sehe ich mit ganz anderen Gefühlen auf die Menschen um mich herum. Ich begreife, dass jedes Leben seine Besonderheiten hat, helle, klare Ereignisse, glückliche und bittere Momente. Die Geschichte eines jeden Menschen stellt ein kleines Stückchen der Geschichte unseres Landes dar.
Meine Urgroßväter Semjon Timofejewitsch Tormosakow und Jakob Andrjewitsch Fischer haben sich nie gekannt. So verschieden sie waren, so viele Gemeinsamkeiten gab es in ihren Schicksalen! Sowohl die Geschichte von Liebe, Treue und Ergebenheit der Liebenden, als auch die Repressionen und ihre Folgen, der Krieg, die ganze Tragik dessen, was sie durchmachen mußten. Das sind Menschen des 20. Jahrhunderts, in deren Schicksalen sich die Geschichte unseres Landes widerspiegelt. Wie es scheint, ist es sehr leicht einen Menschen zu töten, aber es ist unmöglich, ein ganzes Volk in die Knie zu zwingen. Es wird keine schlechten Völker geben – aber es gibt schlechte Menschen. Und nur dann, wenn wir diesen Unterschied begriffen haben, wird es weniger zwischennationale Konflikte geben und Wortgefüge wie „unterdrücktes Volk“ und „unterdrückte Kultur“ werden im Leben nicht mehr zu finden sein. In vielem hängt dies auch von uns ab. In unserem Alltagsleben begegnen wir den Kulturen anderer Völker, die Seite an Seite mit uns leben, nicht immer mit Verständnis und Achtung. Dass sich unsere Kultur von der ihren unterscheidet, dass sie eine andere Sprache sprechen – das bedeutet doch nicht, dass ihre Kultur schlecht ist, schlechter als die unsere. Sie ist eben nur anders. Also laßt uns andere Völker und Kulturen respektieren, laßt uns nicht auf Alltagsebene Unterdrückungsmaßnahmen vornehmen und die schrecklichen Fehler der Vergangenheit wiederholen.