Allrussischer Wettbewerb historischer Arbeiten von Schülern der höheren Klassenstufen „Der Mensch in der Geschichte. Russland 20. Jahrhundert“
Autorin: Viktoria Sergejewna Titowa
Schülerin der 9. Klasse, städtische allgemeinbildende Einrichtung
Allgemeinbildende Oberschule N° 9 in Aleksejewka
Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Schüler „Poisk“ (Suche; Anm. d.
Übers.)
Leitung und Textkorrektur:
Maria Wasiljewna Romantschenko
Geschichtslehrerin an der städtischen allgemeinbildenden Einrichtung der
Oberschule N° 9 in Aleksejewka,
Leiterin der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Schüler „Poisk“
Aleksejewka 2012
Der Hunger der Nachkriegszeit war eine der „am meisten verschlossenen“ Episoden in der sowjetischen Geschichte. Alle Angaben über die Größenordnung der Katastrophe wurden streng geheim gehalten. Eine „Folgeerscheinung des Krieges“, die große „Dürre“ – das ist die sorgfältig dosierte Auswahl an Informationen, die sich selbst in der Epoche der Perestroika ganz beharrlich hielten. Viele haben sogar überhaupt noch nie von der Hungerzeit 1946-1947 gehört. Das ist einer der Gründe, weshalb dieses Thema für mich aktuell ist, aber das Wichtigste ist, dass die Geschichte unserer Siedlungen, über die wir hier schreiben wollen, bislang nur bis zur Mitte der 1940er Jahre aufgeschrieben wurde; daher hat sich das Thema praktisch selbst definiert und stellt die Fortsetzung einer Forschungsreihe von Mitgliedern der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Schüler „Poisk“ an der Allgemeinbildende Oberschule N° 9 in Aleksejewka dar.
Das Thema des Nachkriegshungers wurde von Historikern bislang nur wenig erforscht. Und auch wenn in den Jahren der Perestroika Forschungsergebnisse über die UdSSR insgesamt auftauchten, so gab es doch keine Publikationen über Russland, und erst Anfang der 1990er Jahre erscheinen in der Zeitschrift „Vaterländische Geschichte“ Artikel des Doktors der Geschichtswissenschaften W.F. Zima, die dem Thema des Hungers in Russland gewidmet sind. Und anschließend auch seine Monographie „Der Hunger in der UdSSR in den Jahren 1946-1947: Ursprung und Folgen“ (Moskau, Institut für Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften, 1996), in der zum ersten Mal auf Basis neuen, zuvor für Geschichtsforscher nicht zugängigen Materials an geheimen Dokumenten aus den Fonds der Partei- und Staatsarchive der UdSSR, Briefen und Erinnerungen von Augenzeugen Gründe, Maßstab und Folgen des Nachkriegshungers in der UdSSR aufgezeigt werden. Publikationen über den Hunger in der Region Krasnojarsk gibt es nicht, geschweige denn über einzelne Bezirke oder gar Dörfer, das bedeutet, dass das Thema Hunger in der Region Krasnojarsk überhaupt noch nicht erforscht ist.
In den Archiven gibt es keinerlei Dokumente für den Zeitraum 1937-1957, mit Ausnahme von Sitzungsprotokollen des Bezirksexekutiv-Komitees Kuragino, und auch keine gebündelten Zeitungsdokumente über eben diese beiden Jahre 1946 und 1947. Eine weitere Quelle, die dazu geeignet wäre, Licht in das Problem zu bringen, sind die Erinnerungen noch lebender Augenzeugen der Ereignisse – Bewohner der Ortschaft Aleksejewka, der Dörfer Nowopokrowka und Sidororwo im Bezirk Kuragino sowie des Dorfes Tygda im Idrinsker Bezirk. Eine von ihnen ist meine Urgroßmutter Antonina Sacharowna Glekowa, geboren 1926, die ihr Leben lang in der Kolchose „Banner der Arbeit“ (Nowopokrowka) arbeitete.
Ziel meiner Forschungsarbeit ist es, den Beweis zu erbringen, dass der Tatbestand einer Hungersnot in den Jahren 1946-1947 nicht nur in den westlichen Teilen der UdSSR, die von einer Dürrekatastrophe betroffen waren, existierte, sondern auch in den ländlichen Gebieten Sibiriens, die den ganzen Krieg hindurch die Front mit Lebensmitteln versorgten. Und die Regierung hat mit ihrer Politik diesen Hunger nicht nur provoziert, sondern auch offiziell seine tatsächliche Existenz geleugnet und die Bevölkerung einfach sich selbst überlassen, indem sie damit rechneten, dass deren eigene Kräfte dafür schon ausreichen würden. Der Große Vaterländische Krieg führte zu riesigen Verlusten an Menschenleben und einer nie dagewesenen Zerstörung. Die Dörfer im westlichen Teil des Landes, die unter Okkupation standen, wurden menschenleer. Die ländlichen Gebiete in Sibirien, in denen es weder Bombardierungen noch Besatzer gab, erlitten ebenfalls schwere Verluste. Durch Schwerstarbeit völlig entkräfte Frauen und Halbwüchsige, die bereits während der ersten Kriegsjahre in der Landwirtschaft mit Pferden und Kühen hatten arbeiten müssen, hießen den Sieg willkommen. Denn während des Krieges waren die Belieferungen der Dörfer mit Traktoren und Pflügen um das Neunfache gekürzt worden, die Bereitstellung von Mähdreschern reduzierte sich sogar um das Fünfzigfache. Die Anzahl von Fahrzeugen ging 1946 im Vergleich zu 1940 um das Zweifache zurück [6, S. 279)].
In Nowopokrowka arbeiteten 2 Traktoren auf dem Feld, die aus den Wolgograder und Charkower Traktorenwerken stammten, sowie 2 Mähdrescher mit Traktorenzugkraft der Modelle „Kommunar“ und „Stalinjez“. Es waren nicht genügend Pferde vorhanden, denn die besten, die aus dem Staatsfond stammten, wurden an die Front geschickt, und die verbleibenden reichten nicht aus; zudem gab es häufig Ausfälle durch Krankheiten, schlechtes oder gar fehlendes Futter. Das war letztendlich der Grund, weshalb man Kühe im Gespann verwendete, und zwar nicht nur während des Krieges, sondern auch gegen Ende der 1940er Jahre. Davon ist in den Materialien der Sitzung des Bezirksexekutiv-Komitees in Kuragino die Rede: „1. Wegen des unorganisierten Beginns der Frühlingsfeldarbeiten im April 1947, der Nichteinbeziehung von großem Hornvieh durch die Kolchosarbeiter und das Verpassen der besten agrotechnischen Aussaatzeiten ist der Vorsitzende der Kolchose „Weg des zweiten Fünfjahresplans“, Genosse Wolskij, dahingehend zu verwarnen, dass über ihn strenge Strafmaßnahmen verhängt werden, sofern er nicht in den allernächsten Tagen die Arbeit umstellt und sämtliche verfügbaren Zugtiere der Kolchose sowie die Rinder der Kolchosarbeiter zu den Arbeiten auf dem Feld mit hinzuzieht….“ [1, Bl. 105]
W.F. Sima schreibt in seinem Artikel, dass der Grund für den Mangel an Getreide der war, dass ein Teil des Korns für die Verfütterung an Pferde und Kühe verwendet wurde. Aber wie sich Wasilij Gawrilowitsch Ganenko, der 1923 geboren, im März 1947 demobilisiert wurde und als Leiter der Pferdefarm in der Kolchose „Steppen-Pflüger“ arbeitete, erinnert: … wenn man auch den Pferden vor der Aussaat eine Handvoll Hafer gab, so schenkte niemand den Kühen Beachtung; sie krepierten häufig, und das ging so schnell, dass Kobsar ihnen nicht einmal mehr das Fell abziehen konnte“. (Stepan Stepanowitsch Kobsar arbeitete als Wärter auf der Farm). „Und in Nowopokrowka, - erinnert sich die Großmutter, - haben wir alle Rinder auf der Farm während des Kalbens geholt. Die Kühe waren zu mager und schwach, ihnen fehlte die Kraft zum Kalben; wir zogen die Kälbchen heraus – und die Kuh verendet. Im Frühjahr hatten wir nichts, womit wir sie hätten füttern können, wir haben das verfaulte Stroh von den Dächern geholt, aber die Kühe schreien, reißen uns das Stroh aus den Händen, bevor du es ihnen hingehalten hast. Die ganze Joppe haben sie einem dabei mit ihren Hörnern zerrissen“. Weshalb gab es solche Schwierigkeiten mit der Futterversorgung, obwohl in den Dörfern überhaupt keine Dürre herrschte? W.G. Ganenko: Aus den Kolchosen holten sie alles fort, sogar die Dielenbretter, und später kaufte die Kolchose die Abfälle von Sagotserna“. (Staatliche Getreide-Beschaffungsstelle, die 28 km von Nowopokrowka und 17 km von Aleksejewka entfernt lag). Das heißt: über die Folgen einer derartigen Lebensmittel- und Futter-Beschlagnahme aus den Kolchosen hatte niemand wirklich nachgedacht oder die Kolchosleiter waren gezwungen so vorzugehen, weil sie Unterdrückungsmaßnahmen von Seiten der übergeordneten Parteiorgane fürchteten.
Eine Bezahlung für die Arbeit nach Tagesarbeitseinheiten gab es nicht, aber die tägliche Ration betrug zumindest schon 500 Gramm. Häufig gab man ihnen einfach Hafermehl, aus dem sie dann für die ganze Familie Grütze kochten. 1946 wurde in der Kolchose eine Bäckerei eröffnet, bis zu dem Zeitpunkt wurde die Brotration jeweils in den Häusern gebacken. In der Bäckerei fingen sie an Kalatschi (Weißbrot in Form eines Schlosses; Anm. d. Übers.) zu backen, extra 500 Gramm schwer, gerade so, wie die Brotration angesetzt war. „Wir haben also,- erzählt Baba Tonja, - den ganzen Krieg hindurch für die Brotration gearbeitet, für die Anzahl der erarbeiteten „Stöckchen“ (so wurden die Tagesarbeitseinheiten gezählt; Anm. d. Übers.), und nach dem Krieg auch – du arbeitest von früh bis spät und erhältst dafür ein 500-Gramm-Weißbrot; oder unsere Brigadeführerin Fekla Stepanowna Dozenko, teilt uns jeder eine Handvoll Hafermehl zu, und das ist alles, und davon sollst du dann für den ganzen Tag deine Familie ernähren“.
Warum behandelte der Staat sein Volk auch weiterhin dermaßen stiefmütterlich? Es war ja so gewesen, dass in den Jahren 1946-1947 der Hunger in der UdSSR in den Kornregionen Russlands, der Ukraine und Moldawiens ausbrach. Aufgrund der Trockenheit wurden im gesamten Land lediglich 4,6 Zentner pro Hektor geerntet, d.h. weniger als 1944-1945. In der entstandenen Situation nutzte der Staat die Dürre zur Anwendung grausamer Lebensmittelabgabe-Methoden, indem er die Kolchosen und Sowchosen zwang, an den Staat 52% der Ernteerträge abzugeben, also mehr, als in den Kriegsjahren. [7, S. 396].
Die Ablieferungen von Getreide an den Staat in allen Wirtschaftskategorien machten 1946 insgesamt 17,5 Millionen Tonnen aus – das war um 2,5 Millionen Tonnen niedriger als der Stand von 1945 und zweimal weniger als 1940. [8, S. 28]. Unter Berücksichtigung der vorhandenen Vorräte und Reserven reichte die geerntete Menge an Getreide zur Versorgung der gesamten Bevölkerung des Landes aus. Aber, nachdem die Regierung beschlossen hatte, von den Ernteerträgen so viel wie möglich zurückzulegen, wählte sie einen anderen Weg. Im Herbst desselben Jahres strichen sie für 28 Millionen Arbeiter und ihre Familienmitglieder, die in ländlichen Gebieten wohnten, die Lebensmittelversorgung auf Marken. Insgesamt wurden 1946, einschließlich der Kolchosarbeiter, mehr als 100 Millionen Personen nicht mehr mit Brot versorgt. Millionen Menschen waren praktisch schutzlos dem Hunger ausgeliefert, der in den meisten Gebieten der Schwarzerde-Zone, der Mittleren und Unteren Wolga, dem Süd-Ural, West-Sibiriens, der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens wütete. Die Hungersnot streifte Moskau, Leningrad, Minsk, Kiew, Kischinew, Swerdlowsk, Nowosibirsk und andere große Verwaltungszentren. [9, S. 202-204].
Im Bezirk Kuragino wurde die Versorgung auf Marken eingeführt und „Kontingent sowie Normen für die Brotausgabe bestätigt: 1. …. 1956 Personen, die innerhalb des Systems der Konsumgüter-Kooperative mit Brot versorgt werden … 2. … die Normen der Brotausgabe für Lehrer, Ärzte, landwirtschaftliche Spezialisten, die staatliche Planversorgung, das sowjetische Parteiaktiv und andere auf 1166 Personen mit je 500 Gramm, für Arbeiter der Maschinen- und Traktoren-Stationen sowie Demobilisierten auf 220 Personen mit je 350 Gramm, für andere Arbeiter und Dienstleistende auf 370 Personen mit je 200 Gramm sowie für nicht verdienende Familienmitglieder auf 190 Personen mit jeweils 100 Gramm festzusetzen. 3. Den Vorstand der Bezirkskonsum-Union und die Dorf-Konsumgenossenschaft zu verpflichten, an die Bevölkerung Brotmarken auszugeben und das Brot ab dem 1. Mai 1947 entsprechend der o.g. Normen auszuhändigen“. [2, Bl. 165]., Fond 1, Verz. 1, Akte 684, Bl. 165. Die Größe der Ration in den Kolchosen wurde ebenfalls gekürzt: Frauen bekamen für ihre Arbeit nur noch 300-350 Gramm, Männern, die als Mechanisatoren tätig waren, beließ man die 500 Gramm-Ration. (Nach den Erinnerungen von Anna Petrowna Ganenko, geboren 1926, die 1947 als Lagerverwalterin der Kolchose „Steppen-Pflüger“ arbeitete). Nach den Erinnerungen der Eheleute Karsakow, bestand die Ration in Tygda aus einer Menge zwischen 100 und 300 Gramm. Um den Hunger zu lindern, rührte man in das erhaltene Mehl zerkleinerten Sauerklee und Sauerampfer, die man beide im Sommer gepflückt hatte, und buk daraus Puffer.
Um den Staatsplan bei der Getreideernte zu erfüllen, beschlagnahmte man in den Sowchosen und Kolchosen das Saat- und Lebensmittelgetreide, einschließlich des Getreides, das für die geleisteten Tagesarbeitseinheiten ausgeteilt werden sollte. Für die Gewährleistung der Annahme der zur Reserve eingesammelten 2,8 Millionen Tonnen Getreide wurden in aller Eile zusätzliche dreitausend Sammelpunkte in der tiefsten Provinz eröffnet. Aber da es dort keinerlei Möglichkeiten gab, das Getreide durchtrocknen zu lassen und aufzubewahren, ging eine große Menge durch Fäulnis verloren. [10, S. 25]. Derartige Fälle gab es auch in den „Sagotserno“, den Getreidebeschaffungsstellen im Bezirk Kuragino, wovon im Beschluss des Exekutivkomitees des Bezirksrates die Rede ist: „ … bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde immer noch keine geeignete Möglichkeit zur Lageru8ng des Getreides an den Getreide-Beschaffungspunkten eingeführt … nicht in allen Provinzstellen sind bislang Plomben angebracht worden … in den Lagerschuppen liegen Schnee und Vogel-Kot, und der aktuelle Zustand des Getreides wird nicht systematisch kontrolliert … während der Nacht werden keinerlei Streifengänge von Seiten der Wachmannschaften durchgeführt. … [3, Bl. 27, 28]. Fond 1, Verz. 1, Akte 684, Bl. 27, 28. Dass derartige Erscheinungen tatsächlich massenhaft auftraten, bestätigt Wasilij Gawrilowitsch Ganenko in seinen Erinnerungen: „ Im Herbst brachten wir (zur Mithilfe bei der Getreideernte aus den militärischen Truppenteilen mobilisiert; Anm. d. Autorin) Korn zur Schalobolinsker Getreidebeschaffungsstelle, und dort passierte folgende Geschichte. Am Getreideabladeplatz, neben einem Pfeiler, lag gekeimtes, verfaultes Getreide; mein Dorfnachbar, Jakob Jakowlewitsch Ameltschenko, nahm etwas davon auf und steckte es in sein Zigarettenetui. Er zeigt es uns mit den Worten: da ist es also, unser Körnchen, uns nehmen sie das Allerletzte, und dann gehen sie so damit um“. Sogleich wurde er von Leuten in Uniform umringt, die seine Papiere verlangten und an Ort und Stelle ein Verhör veranstalteten: - wer er sei, was er damit gemeint habe, und dann brachten sie ihn zurück, dass wir alle glaubten, man würde ihn nun verhaften. Aber von unterhalb des Flusses Tuba näherten sich Männer aus anderen Dörfern und meinten: „Seht nur, was dort am Ufer vor sich geht, da – sie werfen das Getreide in den Fluss“. Sofort ließen die Männer von Jakob ab. Es stellte sich heraus, dass der Lastkahn nicht rechtzeitig eingetroffen war, es gab keinen Platz, an dem man das Korn hätte trocknen können – und da hat man es einfach in den Tuba gestoßen“. Und das zu einer Zeit, als die Menschen sogar in den sibirischen Dörfern Öde bekamen und vor lauter Hunger starben, denn, unabhängig von den Ernteerträgen, wurde das Getreide in den Kolchosen beschlagnahmt, die Pläne für die Getreideabgaben an den Staat wurden weiter erhöht, und demzufolge blieb nichts mehr übrig, was man an die Kolchosarbeiter für deren erarbeiteten Tagesarbeitseinheiten hätte austeilen können. Auf Befehl der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR vom 21. Juli 1947 N° 191 „Über die Überwachung der genauen Einhaltung der Gesetze über Ernteertrag und die Bereitstellung landwirtschaftlicher Produkte für das Jahr 1947“ begaben sich die Ermittlungsrichter in die Kolchosen, wo sie an Ort und Stelle die Einhaltung der Gesetzmäßigkeiten kontrollierten. [1, S. 49]. Nur ergab es sich so, dass sie die Einhaltung nur von den hungrigsten Arbeitern verlangten. Und wie W.F. Sima schreibt, hätte das verdorbene Korn gereicht, um die hungernden Kolchosbauern Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens für ihre geleisteten Tagesarbeitseinheiten zu bezahlen. Nach unvollständigen Berechnungen ließ man in der UdSSR in den Jahren 1946-1947 ungefähr eine Million Tonnen Getreide einfach verfaulen“. [12, S. 36].
Und nichtsdestoweniger belief sich per 1. Februar 1947 die sogenannte Staatsreserve auf 10 Millionen Tonnen Getreide. Nicht viel, aber immerhin mehr als Anfang 1946. Für die inländischen Bedürfnisse, den Unterhalt der Armee und der Beamtenschaft, die Rationen für Arbeiter, Wissenschaftler, Mitarbeiter der „Straforgane“ wurden etwa 5,7 Millionen Tonnen Korn verbraucht. Auf diese Weise hätten die staatlichen Vorräte den Hunger stoppen können. Zu den Staatsreserven muss man noch das Getreide hinzurechnen, das aus der UdSSR in die Länder Osteuropas geschafft wurde. Das geschah aus rein politischen Beweggründen: Getreide erhielten die Länder, in denen sich die Kommunisten an der Macht befanden. Allerdings war die Getreideausfuhr nicht sonderlich bedeutend – 1,7 Millionen Tonnen im Jahre 1946. Wäre dieses Getreide unter der Landesbevölkerung verteilt worden, dann hätte die zusätzliche Ration pro Kopf insgesamt 27 Gramm am Tag oder 10 kg im Jahr betragen. Aber die Pro-Kopf-„Normen“ der Lebensmittelausgaben an die Berliner Bevölkerung überstiegen jene, die im damaligen Russland zu verzeichnen waren. [13, S. 38].
Baba Tonja erinnert sich: „Irgendwie kam der Bevollmächtigte aus dem Bezirkshauptstadt; eine Versammlung wurde einberufen. Die Leute versammelten sich in der Schule, und der Bevollmächtigte sagt in seiner Rede: - der Kolchosplan wurde nicht erfüllt, die Kolchosbauern sollen kein Getreide erhalten, so lange der Plan nicht erfüllt ist. Und die Kolchosarbeiter sitzen da in abgetragener Kleidung, mit ihren Mützen auf dem Kopf – manche ohne Mützenschirm, andere ohne Ohrenklappen. Ergeben lauschen sie, was da gesagt wird. Plötzlich wendete sich der schon betagte Kolchosbauer Ilja Saizew zu den Versammelten um und sagt: - na also, Jungs, wieder wir, denkt doch mal nach – ein halbes Jahr haben wir gearbeitet, und wieder sagt man uns, dass es nichts gibt. Er erhob sich und verließ schimpfend die Versammlung, und alle folgten ihm ins Freie, nachdem sie laut mit ihren Stühlen geschurrt hatten. Und so wurde dann auch nichts entschieden. Es war doch immer dasselbe – die Leute bekamen ihr Korn nicht.
Es verhielt sich so, dass der Ukas vom 27. Juni 1947 „Über Maßnahmen zur Gewährleistung der Unversehrtheit des Getreides, des Nichtverschwendens, der Verhinderung von Diebstählen und Beschädigungen“ sowie der Ukas vom 25. Oktober desselben Jahres „Über die Gewährleistung der Unversehrtheit von Staatsgetreide“ [14, S. 48], die Bauern erneut daran erinnerten, dass das von ihnen produzierte Korn Staatseigentum sei und dass weder sie, noch die Vorsitzenden, das Recht hätten, darüber zu verfügen und es zu verwalten. Für die Verheimlichung (Unterschlagung) von Korn und seine Herausgabe gegen geleistete Tagesarbeitseinheiten vor Berücksichtigung der staatlichen Getreideabgabe wurde die Kolchosleitung ebenso zu strafrechtlicher Verantwortung herangezogen, wie für die Verschwendung von Staatseigentum. Als Verschwendung von Korn in den Kolchosen galt die Ausgabe desselben als Vorschuss auf später zu leistende Tagesarbeitseinheiten oder die Abgabe für die Gemeinschaftsverpflegung, vor Abzug der an den Staat zu leistenden Pflichtabgaben. Über solche Vorfälle schrieben die Zeitungen: „Die Zahl der in den Jahren 1946-1947 vor Gericht gebrachten Kolchosvorsitzenden betrug 21285 Personen. N.W. Karsakow: „Auch in Tygda wurde der Kolchosvorsitzende Terentij Wasiljewitsch Dibin zu drei Jahren verurteilt, weil er an die Leute mehr Korn als vorgesehen ausgegeben hatte“. Neben den Vorsitzenden kamen 14569 Personen aus dem Dorfrat sowie dem Kolchosaktiv hinter Schloss und Riegel“ [12, S. 38]. Aber nach so einer Berechnung waren die Kolchosspeicher leer. Die Bauern, die sich an die Hungersnot in den 1930er Jahren erinnerten, begriffen, was sie nach der Ernte 1946 erwartete. Da die Menschen für ihre geleistete Arbeit nichts ausgehändigt bekamen, waren sie gezwungen zu stehlen. Besonders schwer hatten es Familien mit Kindern. Mütter versuchten jede Gelegenheit wahrzunehmen, um ihren Kindern wenigstens eine Handvoll Korn mit nach Hause zu bringen. Großmama Tonja erinnert sich: „Am Rodkina-Berg arbeiteten die Frauen mit hölzernen Dreschflegeln, das gemähte Heu war noch nicht in Garben gebunden – Anastasia Sacharowna Chrunowa, Fedosia Ilinitschna Woloschina, Natalia Kutscherowa, Anna Smirnowa, Marja Semjonowa und andere. Gerasim Aleksejew war der Graupenschäler in der Kolchose. Die Frauen dreschen drei Sack Getreide am Tag, bringen sie zum Lager zum Schälen, und der Vorsitzende – Grigorij Grigorjewitsch Popow, sitzt beim Friedhof, der auf dem Wege liegt, und kontrolliert sie. Sie halten ein kleines Säckchen unter ihren Röcken verborgen, ganz wenig nur; das wollen sie zuhause trocknen und dann im Mörser mit dem Stampfer zerstoßen, anschließend durchsieben und eine Suppe daraus kochen, die sie mit Milch verdünnen und ihren Kinder davon zu essen geben. Aber später erzählte jemand, dass sie immer ein Säckchen Korn nach Hause trugen; am Morgen bestellte man sie alle ins Kontor, die Miliz kam: - wer von euch hat hier das Sagen? Wir nehmen jetzt alle mit zur Miliz. – Aber das geht doch nicht – jede von ihnen hat doch zu Hause 5-6 Kindchen zu versorgen. Die Frauen sind zornig: - wir haben von den Säcken nichts genommen, nur das, was in den kleinen Säckchen war, haben wir nach Hause gebracht, damit unsere Kinder zu essen haben. Da lachen die Leute von der Miliz und sagen: - verschwindet, aber hört mit dem Stehlen auf. So also retteten die Frauen ihre Kinder vor dem Verhungern, aber nicht immer sind sie glücklich davon gekommen. Bei uns im Vorratslager gab es eine Wiegemeisterin namens Jelena Krajuschnikowa, eine junge Frau mit einem Säugling. Als sie sah, wie auf den Feldern das Korn verloren ging, fing sie an den Leuten zu sagen, dass sie es nehmen sollten, denn dort würde es sowieso nur verfaulen. Einige folgten dem Aufruf und holten sich von den herabgefallenen Getreidekörnern, aber am nächsten Morgen kam die Miliz und durchsuchte sämtliche Häuser. Überall suchten sie, stachen mit Heugabeln in den Boden, aber sie fanden nichts, und Lena verriet keine einzige von ihnen. Wir versteckten unsere Säckchen unter einem doppelten Boden, aber bei Lena zuhause lag die kranke Großmutter – sie versteckte die Säckchen mit dem Getreide in ihrem Bett, wo man sie sogleich aufspürte. Lena wurde zu 5 oder 7 Jahren verurteilt, und das Kind ließen sie bei ihrer Mutter. Die Pferde waren alle für den Krieg fortgeholt worden, und auf dem Acker lagen die riesigen Haufen mit Weizen, die man nicht abtransportieren konnte. In Malinnika, am Fuße des Rodkina-Berges, ganz in der Nähe von Dubinkin Log (Dubinkin-Schlucht; Anm. d. Übers.) lagen Haufen von jeweils 300-400 Zentnern. Mit ihnen wurden die Kolchos-Schweine gefüttert – es gab am Rodkina-Berg eine Farm mit 500 Schweinen. Die Kartoffeln, die nicht rechtzeitig hatten ausgegraben werden können, gefroren im Boden; auch sie dienten als Schweinefutter. Aber sich den Feldern auch nur anzunähern war strengstens verboten. Der übergeblieben Weizen wurde in den Boden gestampft, aber die Frauen fegten ihn mitsamt der schmutzigen Erde zusammen, wuschen das Ganze immer wieder, entnahmen ein Tässchen voll aus dem kleinen Sack, kochten und aßen es. Meine Familie, meine Schwester und die Mama, gingen dorthin, das ganze Dorf ging dorthin – sie wollten Getreide, denn das hatten sie 5 Jahre nicht zu sehen bekommen“.
Nachdem das Korn auf den Feldern überwintert hatte, besaß es toxische Eigenschaften. Überall im Land kam es zu Massen-Vergiftungserscheinungen, die nicht selten zu einem tödlichen Ausgang führten, denn vielen Kranken wurde nicht rechtzeitig genug medizinische Hilfe zuteil. Die Todesursache in solchen Fällen wurde als septische Angina angegeben, denn die Leidtragenden klagten über Halsschmerzen mit blutigen Absonderungen. Unter dem Begriff der septischen Angina verbargen sie eine Erkrankung namens Leukopenie, welche zu einer Vergiftung des blutbildenden Systems führt. Die medizinischen Angestellten durften keinerlei Hinweise auf die tatsächliche Diagnose, d.h. Leukopenie oder Ruhr, geben, denn der Tatbestand einer Hungersnot wurde von der Regierung offiziell nicht anerkannt. [12, S. 38]. Im Land gab es tausende Erkrankte und Tote, auch im Bezirk Kuragino gab es derartige Fälle. Galina Michailowna Galenko, geboren 1935, die in ihrer Kindheit zusammen mit den Brüdern in dem Dorf Sidorowo gelebt hatte, erinnert sich, dass „sie durch unser Dorf mit Pferden halbtote, entkräftete Menschen ins Ponatschewsker Krankenhaus brachten; sie lagen auf den Fuhrwerken, und aus ihren Mündern floss Blut. Es hieß, dass sie aus Tscherdaki oder den nahegelegenen Dörfern Wikulowo oder Kartaschowo kamen und viele von ihnen später starben … Und so war das nicht nur einmal. Und die Erwachsenen berichteten auch noch, dass sie gestorben waren, weil sie im Frühling aufgetautes Getreide gegessen hatten; man sei sogar extra von Haus zu Haus gegangen, um die Leute zu warnen, dass beim Essen dieses Korns Todesgefahr bestünde, aber die Menschen konnten nicht anders – sie wollten nichts als essen“. Im Archiv von Kuragino fanden wir Protokolle des Exekutivkomitees des Bezirksrats, welche die Massenerkrankungen an septischer Angina im Bezirk bestätigen: „Entsprechend des Beschlusses des Exekutivkomitees des Regionsrats vom 26. März 1947 N° 271 hat das Exekutivkomitee des Bezirksrats, mit dem Ziel, einer Erkrankung an septischer Angina rechtzeitig vorzubeugen, beschlossen: 1. Die Dorfratsvorsitzenden unverzüglich zu verpflichten, unter der Bevölkerung eine breit angelegte Aufklärungs-Kampagne über die tödliche Gefahr, die durch den Verzehr des im Winter im Boden tiefgefrorenen Getreides und dessen Weiterverarbeitung besteht, durchzuführen; dies soll mittels Massengesprächen und Vorlesungen geschehen, wobei auch Presse und Rundfunk eingesetzt werden sollen. Ferner sind medizinische Mitarbeiter, Lehrkräfte, Schüler der älteren Klassenstufen und das Dorfaktiv für diese Arbeit mit heranzuziehen. 2. Die Bezirksgesundheitsbehörde zu verpflichten, den medizinischen Mitarbeitern im Bezirk Instruktionen über septische Angina zu erteilen, und zwar nicht später, als bis zum 10. April 1947 …“ [4, Bl. 100-101. Fond 1, Verz. 1, Akte 684, Bl. 100-101].
Galina Michailowna erinnert sich auch noch an einen Fall von Hungertod in Sidorowo: „einer Mutter starben zur gleichen Zeit drei Kinder; ihr Nachname war Istomina. Sie wurden in einem gemeinsamen Sarg bestattet. 1946 starb mein Klassenkamerad Mischa Sibrin. Es kam vor, dass er an irgendein Fenster herantrat und um Almosen bat, nach ein wenig Brot fragte, aber woher sollte er es bekommen? Später hörte man: - Mischa ist verhungert …“. Im Dorf Scherbaticha, im Bezirk Kuragino, setzte ein wahres Massensterben ein. Menschen, die unter dem Schnee Hirsekörner hervorgekratzt und gegessen hatten, starben gleich familienweise, bis sich endlich die Bezirksbehörden einmischten. Man begann essbares Getreide ins Dorf zu bringen und es gegen das ungenießbare Korn auszutauschen. Davon erzählte Maria Stepanowa Lisiza, geboren 1930, die in jenen Jahren in Scherbaticha lebte, ihrer Tochter Tamara Tarasowa.
Die Eheleute Karsakow – Soja Fjodorowna, geboren 1935, Mädchenname Balmajewa, und ihr Mann Nikolaj Wasiljewitsch: „In Tygda (Idrinsker Bezirk, Anm. der Autorin) starben die Leute häufig durch vergiftetes, mit Sporen infiziertes Getreide. Die hungrigen Menschen aßen, als hätten sie den Verstand verloren, alles, was ihnen in die Finger kam und sammelten auch das über Winter auf den Feldern oder nach der Drusch auf der Tenne liegen gebliebene Korn auf. Die Sterberate war so hoch, dass sie mitunter täglich zwei Särge hinaustrugen. Bei den Nikitins starben Mutter Maria Iwanowna und Tochter Marusja und bei den Popkows waren es beide Eheleute. Ach, was für eine Armut damals herrschte! Als man den Ehemann beerdigte, sammelten sie ein wenig Kleidung von anderen Leuten zusammen; und ihre Bestattung war ganz schrecklich. Anstelle eines Leichentuchs legten sie den Sarg mit den Blättern von Kletten aus; mit diesen Blättern wurde auch der Leichnam bedeckt, und drei Töchterchen blieben als Waisen zurück“. Warum gab es in der Familie damals so gut wie keine Kleidung? Wahrscheinlich war sie gegen Lebensmittel eingetauscht worden.
Zu jener Zeit galt der Umtausch von Getreide, das während des Winters im gefrorenen Boden unter dem Schnee gelagert hatte, gegen frisches Korn als effektivste Maßnahme zur Vorbeugung von Erkrankungen mit septischer Angina. An die organisierten Umtauschstellen gelangten 1947 von der Bevölkerung 9287 Tonnen Korn, das von Kolchosen und Sowchosen nicht rechtzeitig abgeerntet worden war und das hungrige Menschen im Winter und Frühjahr von den Feldern abgesammelt hatten. In der Region Krasnojarsk wurden 227 Zentner Weizen, Roggen und Hafer entgegen genommen und anschließend zur Weiterverarbeitung in Schnapsfabriken geschickt. [12, S. 45].
Oma Tonja erinnert sich, dass man auch in Nowopokrowka das schlechte Korn zur Schnapsfabrik in Minusinsk abtransportierte und von dort gutes Getreide mitbrachte. Und ihr Vater, der 70-jährige Sachar Jakowlewitsch, arbeitete in Aleksejewka im Vorratslager als Wächter; dorthin brachten sie das Getreide, und er half beim Abladen. „Es kam vor, dass ein wenig Korn aus den Säcken irgendwo auf den Boden rieselte, und dann nahm mein Vater es mit dem Schmutz auf und brachte es der Witwe mit den vier Kindern, in deren Wohnung er mit lebte; sie wusch es ab und kochte Brei daraus. Und einmal gerieten die Witwe und eine Nachbarin in Streit; letztere meldete daraufhin der Leitung, dass mein Vater Getreide vom Lagerhaus mit nach Hause bringt; da fingen sie an die Kinder auszufragen, was sie denn essen würden, und der jüngste sagte, dass Mama ihm Brei kochen würde. Sie kamen wieder und führten eine Haussuchung durch; dabei fanden sie 2 kg Korn und steckten den Vater für zwei Jahre ins Gefängnis. Dort begann er an offenen Ekzemen zu leiden, er wurde immer schwächer, und nach neun Monaten schickte man ihn zum Sterben nach Hause. Aber zu Hause wurde er wieder gesund und arbeitete dann erneut in einer Brigade als Wächter, um seine Brotration zu bekommen. Es war ihm jedoch kein langes Leben mehr beschieden. Irgendwie verendete in der Brigade ein Fohlen, der Vater zog ihm das Fell ab und brachte esm wie vorgesehen, zum Lager; dabei bat er darum, das Fleisch nicht wegzuwerfen – er kochte und aß es. Danach trank er kaltes Wasser und zog sich eine Erkältung zu. Gegen Morgen war sein Körper ganz angeschwollen, er hatte hohes Fieber, die Pferdepfleger brachten ihn nach Hause. Aus Aleksjewka wurde die Feldscherin Maria Michailowna Bespalowa geholt. Nachdem sie ihn untersucht hatte, meinte sie, dass sie nichts mehr für ihn tun könne. Und so starb er zwei Wochen später unter großen Qualen – die ganze Zeit über schrie er vor Schmerzen. Sie hatten keine Kleidung, in der sie ihn hätten beerdigen können, - sagte die Großmutter, - wir zogen ihm eine Reithose an, die nicht seiner Größe entsprach, die andere Leute ihnen gegeben hatten; sein Unterhemd wuschen sie, und als sie es ihm überzogen riss es entzwei – es war alt und viel zu klein. Und so bestatteten sie ihn. Im Sarg breiteten sie ein halbes Tischtuch aus, das Mama gegen ein paar Kartoffeln bei verbannten Deutschen eingetauscht hatte, mit der anderen Hälfte deckten sie den Leichnam zu; aber sie hatten nichts, worauf sie seinen Kopf betten konnten. Da nahmen sie eine Rute, streiften die Blätter ab und legten sie ihm anstelle eines Kissens unter den Kopf. Später erschien der Tote Mama im Traum und sagte zu ihr: „Warum, Alte, hast du mir kein Hemd genäht?“ Für das Totenmahl buken sie Fladen mit Gräsern und kochten Kartoffeln. Das war 1947, im Sommer, zwei Jahre nach Kriegsende, und immer noch war unser Leben so schwer und hoffnungslos“, - sagte Großmutter. Es geschah, dass mein Urgroßvater, von Hunger gequält, anfing Aas zu essen. Großmama berichtete auch von anderen derartigen Fällen: „In der Kolchose starben häufig Pferde, weil sie nicht genügend Futter bekamen oder krank wurden. Man warf sie in eine Grube, eine Gruft für Vieh, und des nachts ließen die Leute ihre Kinder an Seilen hinab, damit sie mit einer kleinen Axt Fleisch heraushackten; das wurde anschließend im Fluss immer wieder gewaschen, gekocht und dann gegessen. Sie aßen es ohne Salz. Und niemand starb – offenbar wurden wir von Gott behütet“. S.F. Karsakowa: auch in Tygda aßen die Menschen die Köpfe verendeter Tiere.
Der Hunger wurde auch von anderen Alltagsproblemen begleitet, an die sich die Großmama erinnert: „In dem kleinen Laden gaben sie uns 3 Liter Kerosin pro Jahr; das gossen wir drei oder fünf Markierungsstriche hoch in die Lampen. Wir hatten statt einer Lampe eine Flasche mit einem kleinen Rohr daran. Wir steckten einen kleinen, aus Stofffetzen gedrehten Docht hinein, zündeten diesen am Ofen an und nahmen im Halbdunkel unser Abendessen ein, und Mama sagt: „Legt euch schnell schlafen, Kinder, sonst haben wir nachher kein Kerosin mehr, es wird nicht für den langen Winter reichen!“ Im Sommer brauchten wir keinen Docht; wir kamen von der Arbeit, wuschen uns in der Finsternis und tasteten umher. Streichhölzer, mit dem wir den Ofen hätten anheizen können, gab es 1947 und 1948 noch nicht. Man schickte sich gegenseitig los, um aus irgendeinem Ofen ein Stückchen glühende Kohle zu holen. In unserer Nähe wohnten Hirten, und am Morgen rannte das ganze Dorf zu ihnen, um Kohle zu bekommen und damit ihren eigenen Ofen anzuheizen. Sie stellten sich offensichtlich Schwefelhölzchen her, indem sie ein Holzstöckchen in heizen Schwefel tauchten. Und Schwefel gab es in den Tier-Krankenstationen, wo man das Vieh damit von Flechten, Grind und Räude heilte.
Und die Läuse – sie fraßen einen buchstäblich auf. Mein Gott! Die Kleidung
war aus Schafwolle gestrickt, Seife gab es nicht, gewaschen wurde mit
Holzspänen, und auch die Leute wuschen sich damit“. G.M. Ganenko: „Mein älterer
Bruder rettete sich vor den Läusen mit Hilfe von Pulver und Sauerrahm, woher er
das hatte – das weiß ich nicht“. Das große Defizit an Seife herrschte sowohl in
der Stadt, als auch auf dem Lande, denn der Produktionsausstoß betrug 1946
lediglich ein Drittel der Vorkriegsmenge (1940). [12, S. 39].
Die Bezirksbehörden hatten die Kolchosvorstände dazu verpflichtet,
Läusevernichtungs-kammern (Desinfektionskammern) einzurichten, in denen die
Kleidung heißem Dampf ausgesetzt wurde, aber diese waren nicht überall in
Betrieb. Es gab Fälle von Flecktyphus-Erkrankungen. Soja Fjodorowna Karkasowa
erzählt: „In der Familie meines Großonkels Iwan Kanajew starben die Ehefrau und
vier Kinder an Typhus. Als sie, einer nach dem anderen, starben, kamen Leute aus
dem Bezirkskrankenhaus und meinten, dass sie Typhus hätten und sie nicht näher
an sie herantreten dürften, da sie sich sonst anstecken würden. Aber meine
Großmutter und meine Mama gingen nachts zu ihnen, brachten ihnen ein wenig Essen
mit und kümmerten sich um sie, aber sie starben trotzdem alle“.
Der Hunger wurde auch durch die Steuererhöhungen verursacht. Das Eintreiben der Steuern galt als dermaßen wichtige Maßnahme, dass das gesamte Dorfaktiv dazu herangezogen wurde. Auf den Sitzungen des Dorfrates lauschten sie 1-2 Mal im Monat hingebungsvoll den Informationen über die Erfüllung des Plans für die Steuereintreibung.
Das Nachkriegssystem für die Steuererhebungen bestand aus mehreren Arten staatlicher und lokaler Steuern. Zu den Staatssteuern gehörten – die Landwirtschafts- und Einkommensteuer (für Arbeiter), die Steuer für Junggesellen und Bürger mit kleinen Familien, die 250 Rubel betrug (genauso hoch war die Steuer für junge Kühe)., ferner Abzüge für Fischfang und Fahrkarten (die den Fischfang gestattete) und die Steuer für Pferde, deren Besitzer Einzelbauern waren. Zu den lokalen Steuern gehörten: die Steuer auf Gebäude, Grund- und Bodenrente, eine einmalige Erhebung für Kolchosmärkte, Gebühren für Besitzer von Transportmitteln, bis hin zu Fahrrädern, Gebühren für Besitzer von Vieh sowie auf Vorstellungen (Kino- und Theater-Aufführungen, welche zu den staatlichen Einrichtungen zählten). Als selbständige Leistung mit steuerähnlichem Charakter blieb auch die staatliche Zollgebühr in Kraft.
Beinahe jede Familie in ländlicher Gegend zahlte eine selbstauferlegte Abgabe, die im Unterschied zur Steuer eine freiwillige Abgabe darstellte. Die erhaltenen Mittel wurden für die Durchführung von Straßen-Reparaturen, den Bau und Erhalt von Schulen, Krankenhäusern u.a. veranschlagt. Im Jahr 1948 betrug die Gesamtsumme der freiwillig gezahlten Geldmittel 358 Millionen Rubel [14, S. 117]. Aber nur ein unbedeutender Teil dieser Summe wurde zweckgerecht verwendet.
Der beginnende „Kalte Krieg“ forderte immer höhere Rüstungsausgaben; der Staat sah keinen anderen Weg für die Aufstockung des Staatsbudgets, als ständig die Steuern zu erhöhen. S o stieg zum Beispiel die Landwirtschaftssteuer von 1947 bis 1948 auf 30% [14, S. 117]-
Großmama erinnert sich: „ – oh je, was haben sie uns damals für Steuern aufgebürdet; wie man da überhaupt überleben konnte! Gib die Milch ab, die Butter, das Fleisch, Eier, Wolle, Schaffelle – gib alles ab. Die Kriegssteuer – zahl sie, und kauf dir Staatsanleihen. Wenn keine Butter und keine Eier da sind, dann kauf sie – und anschließend gibst du sie ab. Wir hatten bei uns eine Steueragentin namens Metrena Epifanowna Kildewatowa, die verstand es, die Steuern aus uns „herauszuschlagen“. Die Kühe wurden mit Stroh gefüttert, auf dem Acker, und wir hatten nur ein kleine Kuh – ganz mager war sie und gab drei Liter Milch pro Tag. Den ganzen Sommer hungern wir, aber die Kuh bekommt ein Kälbchen; die schaffst es noch nicht einmal, das Kalb eine Woche lang mit Milch hochzupäppeln, da bringen sie dir auch schon die Quittung: du sollst 500 Liter Milch abgeben. Überleg‘ doch mal: wir bekamen die Milch nie zu sehen, den ganzen Sommer über schleppten wir Liter für Liter in die Rahmabteilung. Und die Kartoffeln wuchsen damals schlecht – jeder bekam zwei gebackene Kartoffeln, und das war das ganze Abendessen. Damals haben wir dann auch so einen Vierzeiler gesungen:
Wenn du jemanden kennenlernen willst -
Komm auf den kleinen Hügel,
Bring auch gleich vier Fladen mit,
Und Kartoffeln in ‚nem Tiegel.
Ja, so was sangen sie damals; sie träumten davon, sich wenigstens an Kartoffeln sattessen zu können.
Na ja, um die Steuern zu bezahlen, bringe ich den Hammel nach Abakan auf den Markt; dort ziehen sie Ferkel auf, und weißt du, womit sie die füttern? Mit Pferdemist, in ganzen Scharen standen sie danach an, und mancher bekam nichts davon ab. Den Mist vermischten sie mit Kleie, und das haben sie dann verfüttert, und die Schweine sahen ganz mager und gelb aus. Später haben wir sogar schon Mehl dorthin gebracht. Du kommst vom Markt zurück, zählst nach – und es reicht nicht, um alles zu bezahlen.
Die festgesetzte Landwirtschaftssteuer zwang die Dorfbewohner, ihre Erzeugnisse auf dem Markt zu einem Spottpreis zu veräußern. Die Preise für Lebensmittel sanken im Vergleich zu 1947 um das 3-4fache. Im Zentralen Schwarzerde-Gebiet ermäßigte sich der Durchschnittspreis für Fleisch von 37 auf 11 Rubel, für Tierfett von 115 bis auf 33-40 Rubel pro Kilo, für Milch von 6 auf 2 Rubel pro Liter, für Kartoffeln von 3 Rubel auf 56 Kopeken für ein Kilogramm. [14, S. 117]. Um die Geldsteuer bezahlen zu können, mussten die Bauern fast alle in ihrer Wirtschaft erzeugten Produkte verkaufen. „Und außerdem, - sagt Oma, schrieben sie die Kuh, das Schaf weiterhin zu: sie gehören dir schon längst nicht mehr, aber trotzdem verlangen sie dafür Steuern. Aber wo sollen sich diejenigen, die weder lesen noch schreiben können, beschweren!? Und jede Woche kommt die Kildewatowa an: - willst du nun endlich deine Steuern zahlen oder muss ich dich vor Gericht bringen? Schau mal, wenn du dein Soll nicht abgibst, wirst du dorthin gehen (ins Gefängnis)“.
Und das waren immerhin keine leeren Drohungen. Die Steuer besaß Gesetzeskraft, jeglicher Widerstand bei der Zahlung, die Verletzung der festgelegten Zahlungsfristen galten als Staatsverbrechen. Und wer seine Erzeugnisse nicht abgeben konnte, dem konnten sie einfach die Juh oder das Ferkel wegnehmen. Im September 1948 verabschiedete das Sekretariat des Zentralkomitees der WKP (B) die Anordnung „Über die Verschärfung und Organisation der Eintreibungsmaßnahmen für die Landwirtschaftssteuer“, welche den lokalen Parteikomitees das Recht verschaffte, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. [13, S. 116].
Gemeinsam mit dem Dorfaktiv besuchten die Bevollmächtigten die Höfe der Kolchosbauern. Sie forderten von ihnen die Erfüllung ihrer Verpflichtungen für die Ablieferung von Kartoffeln, Getreide, Fleisch, Eiern, Wolle und Fellen an den Staat. Dabei konfiszierten sie nicht selten alles, was ihnen bei der Hofbegehung in die Augen fiel, und es gab Fälle, in denen die Bauern verprügelt wurden, die versuchten ihr Eigentum zu verteidigen.
Bei unserer Nachbarin Katerina Matwejewna Senotowa, der Mutter von Lena Krajuschnikowa, die ihre Tochter aufzog, - erzählt die Großmutter, - konfiszierten sie wegen Nichtzahlung der Steuern die Kuh. Die Frau lief weinend hinterher: - Meine Burenuschka, gebt mir meine Burenuschka wieder! – Sie stießen die alte Frau so heftig zurück, dass sie hinfiel – 76 Jahre war sie alt und blieb nun mit dem Kind auf den Armen und ohne Milch zurück. S.F. Karsakowa erinnert sich: „Uns nahmen sie, weil wir die Steuern nicht zahlen konnten, zwei Schafe weg. Ein Schaf blieb mit seinem Lämmchen bei uns“.
1947 wurden die Höfe der nichtarbeitsfähigen Kolchosbauern, die aus eigener Kraft ihre Wirtschaft führten, von der Steuerzahlung freigestellt. Aber im Zusammenhang mit dem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Und 15. Juni 1948, mit dem die Landwirtschaftssteuer auf 30% erhöht wurde, waren diese Wirtschaften, die früher überhaupt keine Steuern gezahlt hatten, mit 50% der berechneten Steuern in der Pflicht. Wenn die Kolchosbauern es schon vor der Verabschiedung des Ukas nicht leicht hatten, weil sie ihre letzten Nahrungsmittel und ihr allerletztes Geld hergeben mussten, um mit dem Staat abzurechnen, so kürzte man ihnen jetzt auch noch den Viehbestand und das Saatgut, und das führte zu einer Verminderung der Einnahmen an Naturalien und Geldmitteln zugunsten der Staatskasse. Aber die Regierung, die keinen anderen Ausweg fand, setzt ihre Politik der Steuererhöhungen fort. Wenn im Jahre 1947 die Landwirtschaftssteuer 217 Rubel ausmachte, so belief sie sich 1948 bereits auf 642 Rubel.
Welche Folgen hatte eine derartige Staatspolitik gegenüber den Bauern? Nachdem sie den Dorfbewohnern ganz bewusst unerfüllbare Steuerverpflichtungen auferlegt hatten, kürzten sie ihnen nun auch noch die sowieso schon recht geringe Anzahl an Vieh in ihren persönlichen Hilfswirtschaften. Das wiederum führte zur Kürzung der Einnahmen an Naturalien und Geldmitteln zugunsten der Staatskasse.
Für das gesamte Land gesehen hatte die Zerstörung der Dörfer von Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre katastrophale Auswirkungen. 1951 betrug die Produktion von Getreide 82%, Sonnenblumen 65%, Flachs 55%, Kartoffeln 77%, Gemüse 69% des Standes von 1940 [8, S. 24-25]. Laut Plan war beabsichtigt, im Jahre 1951 in den Kolchosen 34 Millionen Stück Hornvieh, 18 Millionen Schweine sowie 88 Millionen Schafe und Ziegen zu besitzen, aber tatsächlich waren es lediglich 28. 12,68 Millionen Stück [10, S. 38]. Die staatlichen Aufkäufe an Getreide, Sonnenblumen, Kartoffeln und Gemüse standen im sechsten Jahr des Friedens weit hinter denen des Jahres 1940 zurück [8, S. 28].
Demnach war der Hunger in Russland zwischen 1946 und 1947 ganz bewusst herbeigeführt worden, hervorgerufen durch die Politik der Regierung, welche die Probleme der Nachkriegskrise auf den Schultern des verelendeten Volkes ablud. Das Ziel bestand darin, das Volk, das auf einen Wandel zum Besseren hoffte, durch Hunger zum Gehorsam zu zwingen und sich auf diese Weise einer Entscheidung über die Probleme der äußerst defizitären Lebensmittel im Lande zu entziehen, indem man alle Verluste auf die große Dürre schob. Durch die legitimierten Plünderungen in den Dörfern, das Hungerdasein aller Werktätigen, ließen sich die Staatsreserven an Nahrungsmitteln aufstocken, der Export stieg an und die eingenommenen Geldmittel wanderten in den Produktionskomplex „Rüstung“ – zur Stärkung der Macht des sozialistischen Lagers. Und all das trifft in vollem Umfang auch auf die sibirischen Dörfer zu, die genauso an dem bewusst herbeigeführten Hunger zu leiden hatten.
Literaturangaben
1. Fond 1, Verz. 1, Akte 684, Blatt 105
2. Ebenda, Blatt 165
3. Ebenda, Blatt 27, 28
4. Ebenda, Blatt 100-101
5. „Die Hungersnot in der UdSSR in den Jahren 1946-1947: Ursprung und Folgen“,
Moskau,
Institut für Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften, 1996, S.
4
6. J.W. Arutjunan. Die sowjetische Bauernschaft in den Jahren des Großen
Vaterländischen Krieges, Moskau, 1970, S. 279
7. Die sowjetische Bauernschaft: kurzer Abriss der Geschichte (1907-1970),
Moskau, 1973, S. 396
8. Landwirtschaft: Statistische Sammlung, Moskau, S. 28
9. A.W. Ljubimow. Handel und Versorgung in den Jahren des Großen Vaterländischen
Krieges, Moskau, 1968, S. 202-204
10. Vaterländische Geschichte, 1993, N°. 1, S. 35
11. Vaterländische Geschichte, 1993, N° 5, S. 49
12. Vaterländische Geschichte, 1994, N° 1, S. 36, 38, 45, 39
13. Vaterländische Geschichte, 1995, N° 5, S. 48, 117, 116, 118
14. W.B. Ostrowskij. Die Kolchos-Bauernschaft in der UdSSR, Saratow, 1967, S. 38