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Einer von 42

Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation, Komitee für Bildung und Wissenschaft der Region Krasnojarsk, Jenisseisker Bezirksverwaltung für Bildung, Kommunale allgemeinbildende Einrichtung „Allgemeinbildende Oberschule N° 5“, Siedlung Nowokargino, Jenisseijsker Bezirk

Autor: Aleksander Tschaschtschin, Schüler der 6. Klasse
Leitung: N.G. Oskolkowa, Lehrerin für Geschichte und Gesellschaftskunde,
Siedlung Nowokargino, 2009

Anmerkungen

Thema der Forschungsarbeit „Einer von 42“
Ein schweres Kreuz entfiel auf das Los unseres Volkes. Die Repressionen der 1930er und 1940er Jahre berührten fast jede Familie. Unter den Verfolgten befanden sich Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Es ist unsere Geschichte, und ihr Studium – ein Zeichen des Gedenkens und ein Tribut der Ehrerbietung an diejenigen, die unschuldig gelitten haben. Die Kenntnis aller Fakten unserer Vergangenheit, besonders der tragischen, gibt uns eine vollständigere Vorstellung über uns selbst, über die Gegenwart.

Der Zweck der vorliegenden Arbeit war das Studium der Entstehung des Stammbaums und der Dynamik seiner Weiterentwicklung.

Entsprechend den Zielen wurde eine Reihe von Aufgaben gestellt:
• Studium des Familienarchivs (Dokumente, Fotos)
• Systematisierung und Zusammenfassung der Informationen
- Ereignisse aus der Geschichte des Geschlechts (Erinnerungen von Verwandten)
- aus der Geschichte des deutschen Volkes in den Jahren der Stalinistischen Repressionen
• Bildung eines eigenen Urteils zur vorliegenden Frage auf Grundlage der erworbenen Kenntnisse
• persönliche Bewertung der konkreten Fakten und Ereignisse der Vergangenheit

Die Geschichte meiner Familie steht in einem engen Zusammenhang mit der Geschichte des gesamten Landes. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, während der Regierungszeit Alexanders I, trafen meine Vorfahren aus Deutschland über den Fluss Donau in der Ukraine ein. Wir wurden sie von dem Land aufgenommen? Neuland, Steppengras, Schlangen. Die Menschen, die mit der ersten Partei ankamen, kamen in der unbewohnten Gegend alle ums Leben. Erst den Menschen, die danach eintrafen, gelang es, sich hier einzuleben.

Mein Urgroßvater – Heinrich Genrichowitsch Fetzer, geb. 1908, und meine Urgroßmutter – Lidia Jefremowna Resle, geb. 1901, wurden in der Ukraine, unweit von Odessa, geboren. Dort, in dem Dorf Neuburg, heute Nowogradowka, 25 km von Odessa entfernt, wurde meine Großmutter Irma Genrichowna Fetzer 1931 geboren und lebte dort 13 Jahre.

Im August 1941 wurde die gesamte Intelligenz des Dorfes Neuburg, darunter auch mein Urgroßvater (denn er war der Kolchos-Vorsitzende) ins Gefängnis gesperrt. Und so blieb meine Urgroßmama mit drei kleinen Kindern zurück, von denen das älteste meine Großmama war.

Der Große Vaterländische Krieg brach aus. Die Ukraine geriet unter feindliche Besatzung. Meine Großmutter musste in der deutschen Schule lernen. Sie absolvierte vier Klassen.

Im März 1944 erging der Befehl, dass alle Einwohner des Dorfes Neuburg, die der deutschen Nationalität angehörten, das Nötigste zusammenpacken und die Sachen auf Leiterwagen verladen sollten. Ihnen stand eine lange Fahrt nach Deutschland bevor. Vierzig Tage waren sie unterwegs, die einen auf Fuhrwerken, andere zu Fuß, und gelangten so nach Ungarn. Und von Ungarn nach Polen fuhren sie in offenen Güterwaggons. In Polen lebten sie sechs Monate. Nach Deutschland kamen sie zum Mai des Jahres 1945. Es war eine unruhige Zeit: es gab häufig Fliegeralarm. Vor den Bomben versteckten sie sich in unterirdischen Bunkern. Durch die Stadt gingen alliierte Amerikaner. Und dann endlich – der langersehnte SIEG!

Nach Kriegsende teilte man den Umsiedlern mit, dass man sie nun in ihrer Odessiter Heimat zurückschicken würde. Aber in Wirklichkeit verschleppten sie sie ins ferne, unbekannte Sibirien. Zuerst brachte man sie mit einem Zug nach Krasnojarsk, von dort auf dem Jenissei, mit dem Raddampfer „Majakowskij“ bis zu einem kleinen Fleckchen, das sich in 5 km Entfernung vom Dorf Kargino befand (heute heißt dieser Ort Krutoj Log (Steile Schlucht; Anm. d. Übers.)). Die erste Nacht verbrachte ein Teil der Umsiedler am Ufer des Jenissej (es war Oktober), die anderen waren in leerstehenden Häusern des Dorfes Kargino untergebracht.

In der Nachkriegszeit gingen Kinder, um nicht den Hungertod zu erleiden, ab dem Alter von 14 Jahren arbeiten. Sie arbeiteten in der Waldwirtschaft bei der Holzbeschaffung. Allen Umsiedlern wurde das Recht entzogen, den Ort zu verlassen; außerdem mussten sie sich einmal im Monat in der Kommandantur melden.

Ausgerechnet hier, in dieser sibirischen Gegend fanden sich meine Großeltern. Übrigens, mein Großpapa Rudolf Rudolfowitsch Kraus nahm den gleichen Weg aus dem Gebiet Odessa nach Sibirien.

Die Jahre vergingen. Und nach wir vor leben sie in Krutoj Log, und ihr mit Blumen übersätes Haus ist stets nicht nur für ihnen nahestehende Menschen offen, sondern auch für Leute, die rein zufällig vorbeikommen. Heute haben sie 3 Söhne, 3 Töchter, 13 Enkel- und 8 Urenkelkinder. Insgesamt besteht unsere Familie aus 42 Personen, und ich – bin der jüngste Enkel.

Die Geschichte meiner Familie – ist eine von vielen. In meiner Generation, bei der es sich nun schon um die Enkelkindern der deutschen Deportierten handelt, existiert der Wunsch, die Geschichte seiner Familie, seines Volkes kennenzulernen, und das wieder aufleben zu lassen, was noch möglich ist. Das ist notwendig, damit Kultur, Tradition, Eigenarten, die gerade dem deutschen Volk zugeschrieben werden, nicht unwiederbringlich verloren gehen.

1. Einleitung

„Die Zeit glättet alles. Doch das menschliche Gedächtnis bleibt“
(John Locke, englischer Philosoph)

„Gott, errette Russland! Du bist groß und mächtig. Auf deinen Wegen wandelt die Wahrheit. Mögen die Mächte für Russland stehen und an das Volk denken. Mögen die Menschen einander lieben. Im Elend den Bruder nicht im Stich lassen. Möge Russland geheiligt sein!

Aktualität des Themas.
„Politische Repressionen – sind Strafmaßnahmen, die von staatlichen Organen mit dem Ziel der Unterdrückung oder Einschränkung seiner tatsächlichen wie auch vermeintlichen Gegner angewendet werden“. (Definition aus dem Lexikon).

Ein schweres Kreuz entfiel auf das Los unseres Volkes. Die Repressionen der 1930er und 1940er Jahre betrafen fast jede Familie. Unter den Verfolgten befanden sich Menschen unterschiedlicher Nationalitäten – Deutsche, Letten, Polen, Esten, Chakassen, Tuwiner und viele andere.

Während des Großen Vaterländischen Krieges nahm unser Jenisseisker Boden zehntausende deportierter Deutscher auf.

Unter ihnen leben Menschen, deren Familien aus ihren Heimatorten verschleppt, deren Verwandte am eigenen Leib erfuhren, was Gefängnis und Verbannung bedeuten. es sind Menschen, deren Schicksal Teil jener tragischen Jahre war. Die Stalinistischen Repressionen durchzogen auch das Leben meiner Familie, meines Geschlechts, wie eine rote Linie.

Die Stalinistischen Repressionen gehören zu den tragischsten Seiten der Geschichte unserer Heimat. Aber es ist unsere Geschichte, und ihr Studium ist ein Zeichen des Gedenkens und ein Tribut der Ehrerbietung gegenüber denen, die schuldlos leiden mussten. Die Kenntnis aller Tatsachen unserer Vergangenheit, insbesondere der tragischen, gibt uns eine vollständigere Vorstellung von uns selbst, von der Gegenwart.

Objekt der vorliegenden Forschungsarbeit war das Leben von vier Generationen eines Geschlechts.

Gegenstand der Forschung war die Dynamik der Entwicklung des Lebens von vier Generationen eines Geschlechts in den Kriegs- und Nachkriegsjahren sowie Faktoren, die das begünstigten.

Ziel der vorliegenden Arbeit war das Studium der Entstehung des Familienstammbaums und der Dynamik seiner Entwicklung.

Entsprechend den Zielen wurde eine Reihe von Aufgaben gestellt:
• Studium des Familienarchivs (Dokumente, Fotos)
• Systematisierung und Zusammenfassung der Informationen
• Ereignisse aus der Geschichte des Geschlechts (Erinnerungen von Verwandten)
• aus der Geschichte des deutschen Volkes in den Jahren der Stalinistischen Repressionen
• Bildung eines eigenen Urteils zur vorliegenden Frage auf Grundlage der erworbenen Kenntnisse
• persönliche Bewertung der konkreten Fakten und Ereignisse der Vergangenheit

Chronologischer Rahmen der Forschungsarbeit. In der Arbeit werden die Lebensereignisse eines Geschlechts beleuchtet, welche sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag zugetragen haben.

Territorialer Rahmen der Forschungsarbeit.
Ukraine, Ungarn, Polen, Deutschland, UdSSR (RF), Region Krasnojarsk

Kapitel 1
Die Geschichte des Volkes… Die Geschichte der Familie…

Ich möchte von den Ursprüngen bei der Entstehung unseres Stammbaums, seinen Wurzeln erzählen. Die Geschichte meiner Familie steht in einem engen Zusammenhang mit der Geschichte des gesamten Landes. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, während der Regierungszeit Alexanders I, trafen meine Vorfahren aus Deutschland über den Fluss Donau in der Ukraine ein. Wir wurden sie von dem Land aufgenommen? Neuland, Steppengras, Schlangen. Die Menschen, die mit der ersten Partei ankamen, kamen in der unbewohnten Gegend alle ums Leben. Erst den Menschen, die danach eintrafen, gelang es, sich hier einzuleben.

Mein Urgroßvater – Heinrich Genrichowitsch Fetzer, geb. 1908, und meine Urgroßmutter – Lidia Jefremowna Resle, geb. 1901, wurden in der Ukraine, unweit von Odessa, geboren. Dort, in dem Dorf Neuburg, heute Nowogradowka, 25 km von Odessa entfernt, wurde meine Großmutter Irma Genrichowna Fetzer 1931 geboren und lebte dort 13 Jahre.

Im August 1941 wurde die gesamte Intelligenz des Dorfes Neuburg, darunter auch mein Urgroßvater (denn er war der Kolchos-Vorsitzende) ins Gefängnis gesperrt. Und so blieb meine Urgroßmama mit drei kleinen Kindern zurück, von denen das älteste meine Großmama war.

Der Große Vaterländische Krieg brach aus. Die Ukraine geriet unter feindliche Besatzung. Meine Großmutter musste in der deutschen Schule lernen. Sie absolvierte vier Klassen.

Eine schreckliche Seite in der Geschichte der Russland-Deutschen. 900.000 wurden von der Wolga, aus dem Kaukasus, aus der Ukraine deportiert. Am Verbannungsort trafen 100.000 Menschen weniger ein – zuerst starben alte Leute und Kinder, diejenigen, die es ganz besonders schwer hatten. Aber wer zählte diese Differenz bei der Anzahl der Menschen schon. Ein einziger Ukas des Führers entschied über das Schicksal eines ganzen Volkes. Unten den Deportierten befanden sich Väter, Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Brüder und die Kinder derer, die an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges kämpften.

Fakten

• Nach den Angaben der Volkszählung von 1939 lebten auf dem Territorium der Region etwa 4000 Deutsche. Infolge der Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen nach Sibirien, stieg diese Zahl allein im September-Oktober 1941 auf 75.000 an; untergebracht waren sie in 42 Bezirken der Region.
• Aus den Erinnerungen von Augenzeugen: „Wir wurden unter der Begleitung von Wachleuten abgeliefert, der Winter 1941-1942 in der Verbannung stand vor der Tür, und wir fast ohne Kleidung, barfuß, mit einem Bündel in den Armen, das pro Person nicht mehr als 20 Kilo wog. Uns, die Benachteiligten und Entehrten, die wir in unserer Heimat, an der Wolga, alles zurückgelassen hatten, was wir in ehrbarer, gewissenhafter Arbeit nach und nach erworben hatten…“
• Riesige Verluste erlitt die Ukraine: selbst ohne das Krim-Gebiet, das zu der Zeit zur RSFSR gehörte, auf sie entfielen 52,3% DER Toten innerhalb der friedlichen Bevölkerung, 33,7% der Kriegsgefangenen und 49% der zum Arbeiten nach Deutschland Vertriebenen.
• Am 28. August 1941 kam der Ukas heraus, gemäß dem die sogenannten „russischen“ Deutschen der Unterstützung des Feindes beschuldigt wurden und von ihren angestammten Wohnorten ausgesiedelt werden sollten, wobei die eigentliche Aussiedlung in einer ziemlich grausamen Weise durchgeführt wurde.
• Fragmente aus der „Instruktion zur Durchführung der Umsiedlung der Deutschen“, die im August 1941 verabschiedet wurde: „Der Umsiedlung unterliegen alle Einwohner deutscher Nationalität, die in den Städten und Dörfern der ASSR der Wolgadeutschen sowie den Gebieten Saratow und Stalingrad leben. Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und der Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugend-Organisation werden gleichzeitig mit den anderen ausgesiedelt. Deutsche, die in den genannten Bezirken wohnen, werden auf das Territorium der Kasachischen SSR, der Regionen Krasnojarsk und Altai sowie der Gebiete Omsk und Nowosibirsk ausgesiedelt. Familien Mitglieder von Militärangehörigen der Roten Armee und Angehörige des Führungspersonals unterliegen der Aussiedlung nach den allgemeinen Grundlagen“.

Im März 1944, auf Befehl, sollten alle Bewohner deutscher Nationalität aus der Ortschaft Neuburg die allernötigsten Sachen zusammenpacken und auf Leiterwagen verladen. Ihnen stand eine lange Reise nach Deutschland bevor. Vierzig Tage waren sie unterwegs, die einen auf Fuhrwerken, andere zu Fuß, und gelangten so nach Ungarn. Und von Ungarn nach Polen fuhren sie in offenen Güterwaggons. In Polen lebten sie sechs Monate. Nach Deutschland kamen sie zum Mai des Jahres 1945. Es war eine unruhige Zeit: es gab häufig Fliegeralarm. Vor den Bomben versteckten sie sich in unterirdischen Bunkern. Durch die Stadt gingen alliierte Amerikaner. Und dann endlich – der langersehnte SIEG!

1945 endete der Große Vaterländische krieg. Es schien, dass sich die Situation für die deutsche Bevölkerung nun bessern würde, aber die Schwierigkeiten blieben auch in den Nachkriegsjahren: manche konnten aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit keinen Studienplatz am Institut bekommen, manche hatten Probleme, sich einen Platz im allgemeinen Leben einzurichten. Es kam auch vor, dass Deutsche aus Angst vor der Zukunft ihrer Kinder ihre Nachnamen in russische umänderten; die Eltern erzählten ihren Kindern nicht, dass sie Deutsche waren und brachten ihnen auch die deutsche Sprache nicht bei. Und das kam noch zu dem Umstand hinzu, dass sich die Deutschen im Zeitraum zwischen 1946 und 1955 im Status des Sondersiedler-Regimes befanden. Unter Androhung einer 20-jährigen Zwangsarbeit war es ihnen verboten, ihren Aufenthaltsort zu verlassen.

Anfang der 1960er Jahre begann man damit, an die Deutschen Ausweise zu vergeben, doch die endgültige Rehabilitierung erfolgte erst 1991 nach der Verabschiedung des Gesetzes „Über die repressierten Völker“. Trotz der Tatsache, dass bereits viel Zeit verstrichen ist, leben Schmerz und Kränkung wegen des damals durch den Staat verursachten Leids in den Herzen der Deutschen weiter. Und infolgedessen nimmt die Anzahl der deutschen Bevölkerung von Jahr zu Jahr weiter ab, sie kehren in ihre historische Heimat zurück.

Nach dem Krieg versprach man den Deutschen, sie auf ihren heimatlichen Boden im Gebiet Odessa zurückzuschicken. In Wirklichkeit verschleppte man sie ins ferne, unbekannte Sibirien. Zuerst brachte man sie mit dem Zug nach Krasnojarsk, von dort auf dem Jenissei, mit dem Raddampfer „Majakowskij“ bis zu einem kleinen Fleckchen, das sich in 5 km Entfernung vom Dorf Kargino befand (heute heißt dieser Ort Krutoj Log (Steile Schlucht; Anm. d. Übers.)). Die erste Nacht verbrachte ein Teil der Umsiedler am Ufer des Jenissej (es war Oktober), die anderen waren in leerstehenden Häusern des Dorfes Kargino untergebracht.

Dich nach dem Willen bösartiger Genies und wohl auch aufgrund irgendeines höheren Sinns dorthin zu schicken, wo niemand auf dich wartete, um all das auf dich zu nehmen, was auf dein Los entfiel, und das größte menschliche Gefühl des Herzens zu erfahren – Barmherzigkeit und Vergebung. Die Rettung aus der Verzweiflung blieb der Optimismus, der Glaube daran, dass alles nicht für immer ist, die Angst um die Kinder und die Hoffnung auf Rückkehr zu einem normalen Leben…

„Durch die Hand des Führers wurden sie im ganzen Land verstreut. Man befahl ihnen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Sprache zu vergessen. Elend und Kränkung lagen wie eine schwere Last auf ihnen, schwemmten methodisch die Grundlagen ihrer Kultur fort“.

„Und es fiel ein steinernes Wort auf meine noch lebendige Brust. Es macht nichts, schließlich bin ich bereit. Irgendwie werde ich damit schon zurechtkommen. Ich habe heute viel zu tun – die Erinnerung muss bis zum Ende ausgelöscht werden. Die Seele muss erstarren. Man muss ganz neu lernen zu leben“.

Wie genau hat Anna Achmatowa das Gefühl der Menschen wiedergegeben, die mit allem ganz von vorn beginnen, wieder ganz von „Null“ anfangen mussten. Sie mussten ihr Schicksal von Grund auf in Ordnung bringen. Und sie schafften es, hielten durch, bezwangen alles Unglück, alle widrigen Lebensumstände. Sie, grau und weißhaarig geworden und weise durch die Lebenserfahrung, sind in der Lage, die Frage „Was bedeutet Schicksal?“ zu beantworten.

In der Nachkriegszeit gingen Kinder, um nicht den Hungertod zu erleiden, ab dem Alter von 14 Jahren arbeiten. Sie arbeiteten in der Waldwirtschaft bei der Holzbeschaffung. Allen Umsiedlern wurde das Recht entzogen, den Ort zu verlassen; außerdem mussten sie sich einmal im Monat in der Kommandantur melden.

Erst 1956 wurden sie aus der Verbannung entlassen, allerdings ohne das Recht auf Rückkehr in die Heimat. 1964 wurden die Deutschen aufgrund eines Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR rehabilitiert, und 1972 wurden ihnen die Einschränkungen bei der freien Wahl des Wohnortes erlassen. Viele Deutsche reisten nach Deutschland aus, in ihre historische Heimat. Manch kehrten auch dorthin zurück, von wo sie einst von den Behörden vertrieben wurden. „Wozu mache ich mich in meine lieben heimatlichen Gefilde auf? Wozu fliege ich zum Licht meiner heimatlichen Erde? In meinem Haus wohnen schon längst andere. Schon lange sind die schmalen Pfade zu gewuchert… Dem Armlosen brennt bisweilen die Hand. Der Blinde träumt von grellem, weißem Licht. Und bei mir schmerzt die Seele wegen des Hauses. Ich will nach Hause… Doch mein Zuhause ist nicht mehr…“

Aber für die meisten von ihnen wurde das raue Sibirien zur zweiten Heimat. Die sauberen, akkurat aussehenden Häuschen von Krutoj Log. Im Sommer – die schattigen Pavillons und Sitzbänke, auf dem die Alten sich miteinander unterhalten, die Bibel lesen, singen – deutsches Gerede, vermischt mit russischen Wörtern, Bewirtung an den Feiertagen.

Sie leben hier bereits seit langem und sprechen schon nicht mehr so häufig von ihrer historischen Heimat, aber sie erinnern sich an die reichen Kornfelder an der Wolga und in der Ukraine. Längst schon sind sie hier heimisch geworden. Doch manchmal scheinen sie entfremdet und finster. Als wenn die bitteren Erinnerungen jener Zeit zu ihnen zurückkehren, wenn zwischen Vergangenheit und Zukunft nur 10 Minuten dafür liegen, um das Haus zu verlassen, zurück zu lassen, ein paar kümmerliche Habseligkeiten zusammenzupacken und unter Wachbegleitung in die Nacht hinauszuziehen…

Ausgerechnet hier, auf diesem sibirischen Boden, fanden meine Großeltern einander. Übrigens ging mein Großvater Rudolf Rudolfowitsch Kraus denselben Weg – er kam aus dem Gebiet Odessa nach Sibirien.

Die Jahre vergingen. Und nach wie vor leben sie in Krutoj Log, und ihr Haus, das im Sommer in einem Blumenmeer versinkt, ist stets nicht nur für Nahestehende geöffnet, sondern auch für Menschen, die nur ganz zufällig vorbei kommen. Heute haben sie drei Söhne und drei Töchter, 13 Enkelkinder und 8 Urenkel. Insgesamt besteht unsere Familie aus 42 Personen – und ich bin der jüngste Enkel.

Schlussbemerkung

In jedem von uns sollte die Erinnerung an die Opfer der ungesetzlichen politischen Repressionen gewahrt werden – um Willkür und Gewalt heute zu besiegen, muss man sehr gut wissen und verstehen, was gestern war.

Viele fragen sich jetzt: wozu soll man sich denn daran erinnern? Aber das ist doch schließlich unsere Geschichte, eine bittere und schreckliche.
Wenige verstanden es damals durchzuhalten, nicht sich und andere zu Unrecht anzuklagen, diesem höllischen Fleischwolf standzuhalten.

Die Geschichte meiner Familie. Eine von vielen. Heute leben neben uns Menschen, Augenzeugen jener Ereignisse, diejenigen, die die schweren Jahre des Leids, des Elends und der Entbehrungen am eigenen Leib erfahren haben. Und alles, was sie durchgemacht haben, bleibt für immer im Gedächtnis, denn so etwas vergisst man sein ganzes Leben nicht.

In meiner Generation, bei der es sich nun schon um die Enkelkindern der deutschen Deportierten handelt, existiert der Wunsch, die Geschichte seiner Familie, seines Volkes kennenzulernen, und das wieder aufleben zu lassen, was noch möglich ist. Das ist notwendig, damit Kultur, Tradition, Eigenarten, die gerade dem deutschen Volk zugeschrieben werden, nicht unwiederbringlich verloren gehen.

 


Genrich (Heinrich) Genrichowitsch Fetzer, geb. 1908


Lidia Jefremowna Resle, geb. 1901


1941


Irma Genrichowna Fetzer mit Ehemann

 


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