Fast alle Bewohner des Wolgagebiets waren den politischen Massen-Verfolgungen, die während der Kriegsjahre vor sich gingen, unterworfen. Unter ihnen befanden sich auch meuine Großeltern, Konstantin Antonowitsch und Martha Michailowna Bechler. Für immer ist ihnen das ferne Jahr 1941 im Gedächtnis geblieben, als sie zusammen mit ihren Eltern ihre heimatlichen Häuser verlassen und sich in die Fremde begeben mußten, nach Sibirien. Man gab ihnen nicht mehr als 24 Stunden zum Packen, nach deren Ablauf die große Ortschaft Remmler im Gebiet Saratow innerhalb kürzester Zeit wie ausgestorben dalag. Als die Menschen sich mit den Fuhrwerken in Bewegung setzten, muhten die Kühe ihnen noch lange kläglich hinterher und die Schweine quiekten gellend, als sie nun, von ihren Herren verlassen, allein zurückblieben. Und vor ihnen lag die Ungewißheit.
Nach den Worten meiner Großmutter Martha Michailowna war ihnen auch in der Heimat kein süßes Leben beschert gewesen. Jede Familie durfte, unabhängig davon, aus wie vielen Mitgliedern sie bestand, nur ein einziges Schwein, eine Kuh oder eine Ziege halten, und von der Kolchose bekamen sie ein kleines Stückchen Land als Gemüsegarten. Aber immerhin war es die Heimat. Hier war die Großmutter geboren, hier hatte sie 8 Jahre mit ihren zahlreichen Geschwistern verbracht. Von hier wegfahren zu müssen war schrecklich. Die Deutschen wurden nahe der Stadt Ujar auf die Ortschaften und Dörfer verteilt. Die Eltern der Großmutter wurden in das Dorf Pawlowka, Bezirk Sajan, geschickt. Großvater Konstantin Antonowitsch wurde mit seinen Eltern in der Ortschaft Permjakowo angesiedelt. Sibirien zeigte sich gegenüber den Repressierten von seiner unfreundlichen Seite. Für die ortsansässige Bevölkerung waren sie einfach nur Deutsche, Fremde, deren Mitstreiter auf den Schlachtfeldern russische Soldaten töteten. Die Sibirjaken verhielten sich äußerst mißtrauisch gegenüber den Neuankömmlingen. Es kam vor, daß die Kinder sich mit den Fäusten auf ihre Altersgenossen stürzten. Einige Momente sind ganz besonders tief in der Erinnerung hängengeblieben.
- Die Leute meinten wohl, daß Teufel in Person eingetroffen wären, - erzählt der Großvater. – Sie kamen angerannt, um zu sehen, ob wir tatsächlich Hörner hätten, denn so wurden wir damals auf Plakaten der Faschisten dargestellt.
Die Ortsbewohner konnten nicht verstehen, daß sie genau solche Menschen waren und den Krieg ebenso haßten wie sie selbst.
Die russischen Frauen kamen angelaufen, um zu sehen, wie sie zurechtkamen, und sie wunderten sich sehr über die wattierten Decken. Hier gab es so etwas nicht. Bettwäsche, ebenso wie Kleidung, nähten sie aus gewöhnlichen Leinenstoffen … Als sie ankamen, war es bereits Herbst. Auf den Feldern war das Getreide noch nicht geerntet. Deswegen wurden die Älteren sogleich zum Einbringen der Ernte losgeschickt. Die Männer mähten, die Frauen banden die Garben zusammen. Das Verhalten ihnen gegenüber wurde allmählich milder. Mit ihrer Hände Arbeit erkämpften sie sich langsam den Respekt der Kinder und Erwachsenen.
Auch mit der Ausbildung war es schwierig. Seine Grundschuljahre hatte der Großvater noch in der Heimat absolviert. Nachdem sie nach Sibirien gekommen waren, mußte er auf den weiteren Schulbesuch verzichten und sich stattdessen eine Arbeit in der Kolchose suchen. Großmutter ging erst hier zur Schule, aber nachdem sie drei Klassen absolviert hatte, mußte sie ihre Ausbildung abbrechen, weil sie keine Kleidung besaß, in der sie hätte zur Schule gehen können. Und es kam so, daß sie die Sachen, die sie mit hierher gebracht hatten, praktisch sofort gegen Lebensmittel eintauschten. Und so lebten sie – die Menschen, die heute anerkanntermaßen als„Personen, die unter politischen Repressionen zu leiden hatten“, bezeichnet werden.
N. Bechler