Allrussischer Wettbewerb historischer Forschungsarbeiten von Schülern der höheren Klassenstufen: „Der Mensch in der Geschichte . Rußland – 20. Jahrhundert“.
Autor: Viktor Waizel (Weizel?)
Alter: 15 Jahre
Klasse: 9
Städtische Bildungseinrichtung: Süd-Jenisejsker allgemeinbildende Oberschule
Jede Familie besitzt ihre Besonderheiten, hat ihre Gewohnheiten, ihre Traditionen. In unserer Familie wird von Jahr zu Jahr, und das bereits seit mehreren Jahrzehnten, den nachfolgenden Generationen (und dies ist nun schon die vierte) die Geschichte unserer Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits erzählt. Natürlich erinnert man sich der Verwandten, berichtet über lustige Begebenheiten aus deren Leben, aber die Erwachsen kramen auch manche traurige, wehmütige oder anrührige Geschichte behutsam aus ihren Köpfen hervor.
Ganz traditionsgemäß tauchen auf unserem Tisch am 9. Mai, nach der Fernsehübertragung der Parade auf dem Roten Platz, die Familienalben mit Fotografien auf – und dann geht es los mit den vielen Erinnerungen. Ich verstehe, daß vieles nur für unsere Familie wichtig ist, aber ich bin so stolz auf meine Verwandten und habe eine solche Hochachtung vor ihnen, daß ich gern von ihnen allen ein wenig berichten möchte.
Jedes Jahr berichten Oma und Opa von ihren Eltern und Verwandten, die am Krieg teilnahmen und dem Hinterland den Sieg ein Stückchen näherbrachten.
In der Familie des Vaters wirkte sich der Krieg besonders grausam auf seinen Vater, meinen Großvater aus, dessen Familie, Rußland-Deutsche, in der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen lebte, in dem Dorf Grin (Grimm). Sie wahrten ihre Sitten, Gebräuche und Traditionen. Sie sprachen in ihrer deutschen Muttersprache, aber auch auf Russisch. Aber in ihrem tiefsten Inneren waren sie bereits Russen. Auch wenn sie es ungern taten, so nahmen sie doch die neue sowjetische Ordnung an, bemühten sich nach Kräften sie nicht zu verletzen. Und da begann der Krieg, und die Hitlersoldaten rückten weit ins russische Reich vor; J.W. Stalin bekam es mit der Angst zu tun, fürchtete, daß die Rußland-Deutschen mit dem faschistischen Deutschland gemeinsame Sache machen könnten. So ruft er in aller Eile eine NKWD-Einheit ins Leben, die alle Männer ins Lager holt, die Bevölkerung der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen in die entlegensten Gebiete Rußlands aussiedelt, nach Sibirien, und dabei die Bevölkerung der einzelnen Dörfer vollkommen zersplittert. Die Familie von Urgroßvater Alexander Alexandrowitsch Waizel geriet ebenfalls in diesen „Fleischwolf“. Der Urgroßvater kam ins Lager, wo er auch starb. Die gesamte übrige Familie wurde nach Kargino in der Region Krasnojarsk abtransportiert. Damals waren die Familien sehr groß; es war für eine Mutter allein schwer, all die Kindermäuler zu stopfen. Demzufolge war die Kindersterblichkeit ziemlich hoch. Um meinem Großvater, dem jüngeren Alexander, das Leben zu erhalten, überredeten seine Eltern den Dorfältesten dazu, die persönlichen Daten zu ändern, und so wurde der Opa auf sämtlichen Dokumenten jünger gemacht als er tatsächlich war. Nur deswegen konnte er bei der Mutter bleiben und hatte eine Chance, die Grauen der Repressionen zu überleben. Nachdem er schon ein erwachsener Mann geworden war, fürchtete er sich immer noch vor einer Wiederholung dieser Verfolgungen und erlaubte seinen eigenen Kindern nicht, von der Großmutter Deutsch zu lernen (welche dieser Sprache, ihrer Muttersprache, hervorragend mächtig war, doch häufig deutsche und russische Worte miteinander verwechselte oder vermischte); auf diese Weise lernte sie, laut Angaben der Verwandten, auch nie einwandfrei Russisch zu sprechen.
Einmal, als ihre Söhne aus lauter Übermut ein deutsches Hakenkreuz aus Wachs gegossen hatten, wich alle Farbe aus dem Gesicht des Großvaters; er sah sich nach allen Richtungen um und befahl seinen Kindern, sich von ihrem Spielzeug unverzüglich zu trennen. So stark war seine Sorge, seine Unruhe um das Schicksal der Kinder. Er hatte Angst, daß sie in ihrem Leben dasselbe durchmachen müßten wie er selbst. Und er hatte Demütigungen, Beleidigungen, regelrechte Hetzjagden und Feindseligkeiten erlebt. Denn viele dumme Menschen waren der Meinung gewesen, daß er, da er nun schon einmal Deutscher war, ganz bestimmt auch zu den Faschisten gehörte.
Meine Großmutter, Jewdokia Awdejewna Litwjakowa, kennt den Krieg nicht nur
vom
Hörensagen. Als der Krieg ausbrach, war sie 12 Jahre alt. Ihre Familie lebte in
Krasnojarsk. Ab ihrem 14. Lebensjahr arbeitete sie auf dem Postamt. Viele zu
einem Dreieck gefaltete Feldpostbriefe, aber auch staatliche Umschläge,
wanderten durch ihre Hände. Und jedes dieser Schreiben beinhaltete ein
menschliches Schicksal, eine Geschichte für sich. Sie hat sich ihr Leben lang
daran erinnert, daß es nichts zum Anziehen gab, daß sie manchmal bei strengem
Frost lediglich in Strümpfen, die bereits überall gestopft waren, zur Arbeit
ging. Und wie schwer war es, das Leid der Frauen zu sehen, deren Männer ums
Leben gekommen waren und die dann eine Todesnachricht erhielten; und wie
hoffnungsvoll waren die Menschen, wenn ihre Angehörigen als verschollen galten –
dann warteten sie trotzdem und glaubten ganz fest daran, daß sie eines Tages
zurückkommen würden. Mitunter geschah ein Wunder – daß nämlich nach einiger Zeit
plötzlich ein Brief eintraf, in dem der Verwandte schrieb, daß er gesund und
munter sei. Wie sehr fürchteten sie sich, ein Volksfeind zu werden; viele
leugneten ihre Verwandtschaft, wenn bekannt geworden war, daß ihre Angehörigen
ins Konzentrationslager geraten waren.
Zu der Zeit, als die Großmutter fernab im Hinterland arbeitete, rettete ihre Schwester Faina Leben und Seelen verwunderter Soldaten. Sie war Militärärztin in einem Sanitätszug. Vieles mußten sie während des Krieges durchmachen: Bombardierungen, Blutvergießen, Stöhnen, menschliche Dramen. An der Front lernte sie das Rauchen, das linderte die Ängste und dämpfte auch ein wenig das Hungergefühl. In erster Linie war alles für die Verwundeten gedacht, erst danach kamen die Ärzte, Krankenschwestern und alle anderen. Sie verwandelte sich von einem fröhlichen in einen ernsten, humorlosen Menschen und konnte erst Jahre später wieder zu einem normalen Leben zurückfinden.. Sie hatte jeden Tag den Tod vor Augen und versuchte wenigstens einen von vielen ins Leben zurückzuholen. Immer wieder brachten sie Verwundete ins Hinterland und retteten sie vor dem Krieg und vor weiteren Verwundungen. Diese bemerkenswerte Frau rettete zahlreiche Leben während des Krieges, aber auch in friedlichen Zeiten.
Auch auf Mamas Familie hatte der Krieg Auswirkungen. Meine Urgroßmutter, Soja Grigorjewna Temerowa, war Teilnehmerin des Großen Vaterländischen Krieges. Sie diente in den Reihen der Sowjetarmee vom 10. Juni 1943 bis zum 22. Juli 1945 als Soldatin. In der Familie der Urgroßmutter gab es sechs Kinder, sie selbst war das älteste. Urgroßmama wurde im Dorf Trjasutschaja, Balachtinsker Bezirk, Region Krasnojarsk, geboren. Dort lebte sie auch bis zum Beginn des Krieges. Als der Krieg ausbrach war die Urgroßmama 18 Jahre alt. Sie ging als Freiwillige an die Front. Denn jeder wollte doch irgendwie der Armee und der Front helfen. Urgroßmama war der Meinung, daß sie an der Front viel nützlicher sein würde, als im Hinterland. Sie und noch viele andere Mädchen erlernten in aller Eile, wie man mit Waffen umgeht und wie man Nachrichtenverbindungen herstellt, und dann wurden sie unverzüglich an irgendeinen Frontabschnitt fortgeschickt. Die Geschichte schweigt darüber, wieviele von ihnen am Leben blieben, denn etliche waren noch nicht einmal namentlich bekannt, so schnell war der Unterricht auch schon wieder vorbei.
Während des Krieges starb die jüngste Tochter Galja an Hunger. Die Urgroßmutter selbst erlitt Quetschungen und Verwundungen; aber sie blieb bis zum endgültigen Sieg an der Kriegsfront.
Das Kriegsgeschehen führte die Urgroßmama durch Polen, Ungarn und Österreich.
In unserer Familie werden sehr sorgsam ihre Kriegsauszeichnungen gehütet: „ Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“, der Vaterländische Kriegsorden II. Klasse sowie Jubiläumsmedaillen.
Als wir die Urgroßmutter fragten: „War der Krieg nicht schrecklich?“, antwortete sie stets traurig: „ Ja – sehr! Da passierte alles; alles war möglich, aber wir wußten, daß kein anderer außer uns die Heimat vor den Faschisten befreien konnte!“ Die Urgroßmutter erinnerte sich nur ungern an ihre Kriegsvergangenheit und sagte immer: „Gebe Gott, daß niemand mehr so etwas durchmachen muß!“
Urgroßvater Nikolaj Kondratewitsch Besrukich wurde im Dorf Kamenka, Bogutschansker Bezirk, in eine große, einträchtig miteinander lebende Familie hineingeboren (sechs ihrer Familienmitglieder waren Kinder). Zur Zeit der Kollektivierung (1932-1933) zogen sie zum Geldverdienen in die Goldbergbaugegenden um. Zwei seiner Brüder, Iwan und Aleksej fanden Arbeit als Goldsucher, w#hrend der Urgroßvater einen Schwimmbagger zur Förderung von Bodenschätzen bediente. 16 Jahre ware er damals alt. Begonnen hatte er als Uferarbeiter, danach ging er in Schichtarbeit und wurde gegen Kriegsausbruch Schwimmbaggerführer.
Als der Krieg ausbrach, zogen die Brüder Iwan und Aleksej an die Front; aber der Urgroßvater besaß eine Bescheinigung, die ihn vom Militärdienst befreite (denn Spezialisten, wie beispielsweise Schwimmbaggerführer, ließ man an ihren Arbeitsplätzen, werden andere Arbeiter von Frauen und Kindern ersetzt wurden). Sie schufteten jeweils 24 Stunden, das ganze Jahr hindurch. Nur im Winter wurde die Arbeit für 2-3 Wochen wegen irgendwelcher Reparaturen eingestellt. Neben der Tätigkeit mit dem Schwimmbagger mußten sie sich auch noch ihr Brennholz selber hacken.
Urgroßvater erzählte, daß er Bäume fällte, und eine der Bewohnerinnen unserer Siedlung – M.N. Koschina – schaffte es dann, daraus an nur einem Tag mit einer einfachen Säge 5-6 Kubikmeter Brennholz zu beschaffen (die Norm heute beträgt 6 Kubikmeter .... mit der Benzinsäge). So schufteten sie bis Kriegsende, ohne freie Tage, bis zur völligen Erschöpfung.
Der Krieg war zuende; aber Urgroßvaters Brüder kehrten nicht nach Hause zurück ...
Über einen von ihnen erhielten sie 1941-1942 die Benachrichtigung: „An der Leningrader Front verschollen“. Später erzählten Arbeitsgkollegin der beiden Brüder dem Urgroßvater, daß einer von ihnen im Kampf schwer verwundet worden war, der andere versucht hatte, ihn aus dem Feuergefecht herauszubringen, wobei er ihn mit seinem Körper bedeckt hatte, aber dann hätte es einen erneuten Angriff der Deutschen gegeben, und die Unseren hätten den Rückzug angetreten. Während sie zurückwichen hätten sie ihm zugerufen: „Laß ihn liegen! Hau ab!“ Aber die Brüder blieben beisammen; und was dann aus ihnen wurde, das vermag kein Mensch zu sagen. So verlor der Urgroßvater seine Brüder...
Mein Großvater versuchte seine Onkel oder wenigstens deren Begräbnisorte ausfindig zu machen, aber alle Anfragen blieben unbeantwortet.
Urgroßmutter Maria Nikolajewna Giljowa wuchs in einer großen Familie mit 16 Kindern auf; sie lebten in der Region Tschita, im Olowjansker Bezirk, im Dorf Tut- Chaltuj, an der Grenze zu China. Für damalige Verhältnisse waren sie recht wohlhabend.. Sie besaßen Pferde, Kühe, einige Stück Federvieh und ein wenig Land. Man sah sie als Kulaken an. Sie wurden entkulakisiert (enteignet; Anm. d. Übers.) und in die Leonowsker (heute Kirowsker) Siedlung für Sonderumsiedler ausgewiesen. Dort lebten sie zusammengepfercht in riesigen Baracken, die als Behausungen völlig ungeeignet waren. Sie schliefen auf Pritschen. Die Familien halfen sich gegenseitig so gut sie konnten. Das Haus in dem Dorf Tut-Chaltuj, in dem die Urgroßmutter einst lebte, ist bis heute erhalten geblieben.
Als sie selber noch klein war, arbeitete sie schon als Kindermädchen; später war sie am Schwimmbagger und in der Goldwäscherei tätig.
Vor dem Krieg hatte man sie auf Sprengmeister-Lehrgänge geschickt, die sie alle abschloß.
In demselben Jahr (1937) wurde ihr Bruder Maksim aufgrund einer Denunzierung verhaftet. Er verschwand spurlos. Wie sich später anhand offizieller Angaben herausstellte, kam er in einem der Norilsker Lager ums Leben. In dem Jahr starb auch ihr Vater.
Als der Krieg ausbrach, war die Urgroßmama 21 Jahre alt. Den ganzen Krieg hindurch arbeitete die Großmutter in der Goldwäscherei und führte, wenn es nötig war, auch Sprengungen durch.
Einmal wäre ihr dabei beinahe die Hände abgerissen worden. Im Winter war der Förderbagger stark eingefroren, und man bat sie, das Eis neben dem Fahrzeug fortzusprengen. Die Urgroßmutter bereitete eine Flasche mit Ammonal, einem Sprengstoff, vor und versuchte dann, sie unter das Eis zu stoßen, aber das Wasser drückte die Flasche wieder an die Oberfläche, in Richtung Bagger; doch die Zündschnur brannte bereits. Da nahm die Urgroßmutter einen Stock zur Hilfe, schob damit die Flasche wieder tiefer ins Eis und hielt fest, bis die Detonation erfolgte. Als die Explosion vorbei war, hatte die Urgroßmutter keinen Fetzen Haut mehr an den Händen.
Den ganzen Krieg über führten sie eine sehr schweres Leben und ständiges Hungerdasein...
Nach dem Krieg trafen Urgroßmutter und Urgroßvater aufeinander, heirateten und bekamen in der Folgezeit Kinder
N.K. und M.N. Besrukich
Ihr erster Sohn, mein Großvater – Viktor Nikolajewitsch Besrukich, wurde 1947 in der Siedlung Juschno-Jenisejsk, Uderejsker Bezirk, geboren, wo er auch heute noch wohnt.
Der Großvater diente in der Armee in Deutschland. Von 1966 bis 1968 war er in Potsdam in einer Einheit der sowjetischen Truppen in Deutschland. Er war an der Kontroll- und Durchgangsstelle „Nowowes“ tätig. Dort stellte er für Militärpersonen und Bürger aus den USA, England und Frankreich, die aus der Bundesrepublik nach West-Berlin wollten, Passagierscheine aus. Sie ordneten sich den Grenztruppen der DDR nicht unter.
Der Großvater hat mit eigenen Augen die Trümmer des Reichstags gesehen. Er war auch im Treptower Park und sah das Denkmal des Soldaten, der ein Mädchen gerettet hatte. Außerdem war er in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück. Das bleibt ein unvergeßlicher Anblick, selbst nachdem so viele Jahre seit Kriegsende vergangen sind. Der Großvater erzählte, daß man dort noch heute das Stöhnen der Menschen, ihr Bitten und Flehen vernehmen kann. Es ist dort dermaßen gruselig, daß einem die Schauer über den Rücken laufen und man sich immer wieder fragt, wie Menschen an diesem Ort überleben konnten und weder ihren Glauben noch ihre Menschlichkeit verloren. Sie schufen eine Untergrundbewegung und versuchten für sich und die anderen zu kämpfen, indem sie die körperlich Schwachen und Kranken schützten.
Außerdem war der Großvater un der Festung von Brest. Er betrachtete die Wände, die von Kugeln ganz durchlöchert waren; er war am Ort des geschehens, wo am 22. Juni 1941 der Krieg begann.
Meine Familie lebt auch weiterhin in der von uns allen geliebten Region Krasnojarsk. Wie sich unser Schicksal im weiteren Verlauf gestalten wird, wissen wir nicht; wir fangen ja gerade erst an hzu leben, aber trotzdem sollte sich jeder von uns auch an die Geschichte seiner Framilie erinnern. Dann besteht vielleicht die Möglichkeit, daß wir nicht jene Fehler wiederholen, die schon in der Vergangenheit gemacht wurden. Und dennoch, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die unsere Angehörigen überwinden mußten, waren sie glücklich und einträchtig beisammen und haben diese rauhe Gegend liebgewonnen....
Die Familie Besrukich
N.K. Besruckich nach dem Krieg, 1953
S.G. Temerowa
J.A. Waizel
Der Förderbagger
Aleksander Aleksandrowitsch und Jewdokia Awdejewna Waizel