Autorin: Anna Wysowa
Schule N° 20, Klasse 10a
Lehrerin/Projekleitung: Marina Anatolewna Poljakowa
Geschichtslehrerin an der Schule N° 20
Wissenschaftliche Beratung: Galina Andrjewna Kornejewa
Kandidatin der Geschichtswissenschaften
Dozentin am Lehrstuhl für „Russische Geschichte“
der staatlichen N.F. Katanaw-Universität
Stadt Abakan, 2001
Teil I:
1. Die Geschichte der Deutschen in Rußland
2. Die Lage des repressierten Volkes auf dem Territorium von Chakassien
(1941-50er Jahre des 20. Jahrhunderts)
Teil II:
Aus Archivbeständen repressierter Deutscher
Schlußbemerkung
Anmerkungen
Quellen- und Literaturangaben
Anhänge
Repressionen – das sind ungesetzliche Maßnahmen einer bestehenden Regierung, die sich in physischer und sittlich-moralischer Demütigung von Bürgern äußern1.
Im Sowjetstaat bezieht sich der Beginn der Repressionen auf das Jahr 1918, als der Rat der Volkskommissare (SNK) am 5. September 1918 die Anordnung „Über den roten Terror“ verabschiedete, in der von der Notwendigkeit die Rede ist, den Klassenfeinden ein Ende zu bereiten. Im Sommer 1918 traten auf dem Gebiet der Sowjetrepublik die ersten Konzentrationslager in Erscheinung, in denen „Klassenfeinde“ des Staates gefangengehalten wurden: Popen, Weißgardistenund später – Trotzkiste und Kulaken. Ende 1922 waren auf dem Gebiet der UdSSR 122 Lager in Betrieb, und 1934, als das NKWD der UdSSR gegründet wurde, wurden alle Lager in der Hauptverwaltung der Lager (GULAG) zusammengefaßt. Das GULAG-System gestattete die Verlegung kostenloser Arbeitskräfte zu verschiedenen Bauprojekten, zur Ausbeutung dieser oder jener Fundstätten nützlicher Mineralien, zur Holzbeschaffung, usw.
Man kann sagen, dass das GULAG-System eine der notwendigen Voraussetzungen für die Existenz eines totalitären Staatsregimes war, dessen Entstehung sich nach der Revolution von 1917 vollzog. Beginnend mit dem Jahr 1918 wurden verschiedene Bevölkerungsschichten Repressionen ausgesetzt, die man der konterrevolutionären Verschwörung, der Spionage, des Widerstands gegen den Kolchosaufbau beschuldigt wurden, und mit Beginn der 1940er Jahre wurde eine Großteil der Bevölkerung der UdSSR aus Gründen der nationalen Zugehörigkeit verfolgt. Ganze Völkerschaften - Deutsche, Inguschen, Tschetschenen, Kalmücken – wurden gewaltsam aus ihrem Territorium verschleppt und waren von da an in der Verwirklichung ihrer Rechte und Freiheiten eingeschränkt.
Das Thema der Repressionen in Bezug auf die deutsche Bevölkerung der UdSSR ist bis zum heutigen Tage nur wenig erforscht. Das hängt damit zusammen, dass alle Dokumente zu diesem Problem streng geheim gehalten wurden. In den zentralen und lokalen Zeitungen wurden lediglich die Erinnerungen von Trudarmisten und Sondersiedlern abgedruckt, aber diese Informationen reichten für ein vollwertiges Studium der Geschichte der Deutschen nicht aus.
Anfang der 1990er Jahre wurde auf Sitzungen und Konferenzen der Deutschen das Thema der Geschichte des deutschen Volkes nicht nur aufgrund einzelner Erinnerungen untersucht, sondern auch unter Heranziehung von Dokumenten der Staatsorgane und der KPdSU.
Im Rahmen der Demokratisierung der Gesellschaft wurde damit begonnen, die Geheinhaltung für Dokumente mit dem Siegel „streng geheim“ aufzuheben. Auf ihrer Grundlage kam 1993 in Moskau der Sammelband „Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten“ heraus, der es einem gestattet, die wichtigsten Etappen der Repressionspolitik des Staates im Hinblick auf Bürger deutscher Nationalität nachzuvollziehen. Große Bedeutung für das Studium an der Geschichte der Deutschen unter den Bedingungen der Sonderansiedlung hatte auch der Dokumenten-Sammelband „Die Geschichte der Deutschen in Kasachstan (1921-1971), Moskau, 1997.
Nach der Aufhebung der Geheimhaltung von Parteidokumenten, die in der Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien verwahrt wurden, ergab sich die Möglichkeit, die Probleme der Repressionen in Bezug auf die in Chakassien lebenden Deutschen zur erforschen. Eine Charakterisierung dieser Dokumente wurde in dem Artikel von S. N. Sjablizewa „Die Geschichte der Deutschen in Chakassien anhand von Dokumenten“ gegeben, der im Sammelband von Materialien der wissenschaftlich-praktischen Konferenz „Archive und Gegenwart“, die 1998 in der Stadt Abakan stattfand, veröffentlicht wurde.
Dokumente über die Situation der Deutschen, die in die Trudarmee mobilisiert wurden, sind im Sammelwer „.... sind die Deutschen in Arbeitskolonnen zu moobilisieren.... I. Stalin“, Moskau, 2000.
Mit dem Thema der Lage des repressierten deutschen Volkes auf dem Territorium der Republik Chakassien in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges befaßten sich: S.N. Sjablizewa, W.N. Tuguschekowa und S.W. Karlow. Durch Sjablizewa wurden Archivmaterialien aus der Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien über die Ansiedlung repressierter Deutscher auf dem Territorium der Republik Chakassien und Materialien, die die Situation repressierter Deutscher an ihren Wohnorten charakterisieren, in wissenschaftlichen Umlauf gebracht.
Am 20. Dezember 2000 wurde in der Stadt Abakan eine interregionale wissenschaftlich-praktische Konferenz zum Thema „Politische Repressionen in Chakassien und im Süden Ost-Sibiriens in den 1920er bis 1950er Jahren“ durchgeführt, auf der die Hauptspezialistin des Komitets für Archivangelegenheiten der Regierung der Republik Chakassien, S.N. Sjablizewa, auch in einer öffentlichen Rede die Probleme der Repressionspolitik in Bezug auf Bürger deutscher Nationalität in den 1940er bis 1960er Jahren beleuchtete.
Die Autorin setzte sich während der Arbeit an dem vorliegenden Referat ein Ziel: sie wollte die Besonderheiten der Repressionen seitens des Staates in Bezug auf Bürger deutscher Nationalität in Chakassien genau definieren. Dazu war es erforderlich, die Quellen des ersten Auftauchens von Deutschen in Rußland, ihren Rechtsstatus im zaristischen Rußland und in der Zeit nach der Revolution, als die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolgadeutschen (ASSP NP)gegründet wurde, die Besondergeiten der Deportation der Deutschen nach Sibirien und Kasachstan zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945), die rechtliche Situation der Deutschen als Sonderumsiedler, die Mobilisierung der Deutschen in Arbeitskolonnen und den Kampf der Deutschen um die Wiederherstellung einer nationalen Autonomie zu studieren.
Zur Erfüllung der gestellten Aufgaben machte die Autorin sich mit Dokumenten der Partei- und Sowjetorgane bekannt, die in der Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien aufbewahrt werden. Bei der Analyse der Dokumente lassen sich folgende Unterteilungen vornehmen:
• Materialien von offiziellem Charakter, welche die rechtliche, politische
und
soziale Lage der Deutschen als Sonderumsiedler festlegten;
• Dokumente der örtlichen Partei- und Sowjetorgane, die den Mechanismus
der Ausführung von Maßnahmen enthüllen;
• persönliche Bestände der Repressierten sowie Memoiren, die in bedeutender
Weise
die offiziellen Materialien ergänzen und es einem erlauben, recht genau zu
verfolgen, auf welche Weise sich die wichtigsten Erlasse und Anordnung der
Landesleitung in ganz konkreten Schicksalen der Deutschen widerspiegeln.
Folgende Materialien wurden von uns verwendet:
1. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 4
2. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 5
3. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 882, Verz. 1, Akte 42
4. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 882, Verz. 1, Akte 49, Blatt 1-5
5. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 882, Verz. 1, Akte 66
6. Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien
Fond 2, Verz. 1, Akte 808, Blatt 317
7. Archivabteilung der Schirinsker Bezirksverwaltung
Fond 67, Verz. 1, Akte 75, Blatt 1-10
Gliederung des Referats:
Die Arbeit besteht aus zwei Teilen:
Teil I:
Hier werden Fragen der Staatspolitik im Hinblick auf die Einbeziehung der
deutschen Bevölkerung in Rußland ab Beginn des XVI. Jahrhunderts und die
rechtliche Situation der Deutschen innerhalb des russischen Staates vor der
Revolution eingehend betrachtet. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die
Rechtslage der deutschen Bevölkerung zur Zeit der ASSR der Wolgadeutschen und
die Besonderheiten der Repressionspolitik des totalitären Regimes in Bezug auf
die deutsche Bevölkerung während des Großen Vaterländischen Krieges.
Teil II:
Beinhaltet Archivmaterialien aus persönlichen beständen repressierte Deutscher,
die in der Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien verwahrt
sind, sowie persönliche, von S.N. Sjablinzewa und M.D. Turizina gesammelte
Erinnerungen. Die vorliegenden Materialien wurden erstmalig wissenschaftlich
verwendet.
Die chronologischen Grenzen der Arbeit werden durch folgende Aufgabenstellung definiert:
Der Forschungszeitraumnimmt seinen Anfang im Jahr 1941, als der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 verabschiedet wurde, der den Beginn der Deportation von Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Kasachstan festlegte.
Ende des Forschungszeitraums ist die Periode des „Chruschtschowschen Tauwetters“, die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die bewegung der Deutschen zur Wiederherstellung einer ASSR der Wolgadeutschen einsetzte.
Die territorialen Rahmen dieser Arbeit umfassen das Autonome Gebiet Chakassien innerhalb der Region Krasnojarsk.
Die Wurzeln der Geschichte der Rußlanddeutschen liegen am Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung. EinTeil der heutigen Deutschen sind Nachfahren deutscher Ritter, andere tauchten in Rußland auf Einladung slawischer Fürsten auf. Kaufleute der deutschen Hanse ließen sich im Norden Rußlands, in Nowgorod, nieder. Zur Zeit der Herrschaft Iwans des Schrecklichen (1533-1584) wurden verstärkt unterschiedliche Spezialisten (Handwerker, Architekten, Baumeister, Ärzte, Offiziere, Beamte und andere) nach Rußland eingeladen. In Moskau enstand sogar ein ganzer Vorort (Deutsche Vorstadt), in der Peter I. (1682-1725) in seinen jungen Jahren gern aufhielt. Peter der Große, unter dem sich der Prozeß der Europäisierung Rußlands vollzog, zog viele Deutsche in seine nächste Umgebung. Seine Nachfolger vertrauten ebenfalls zahlreichen Deutschen verantwortungsvolle Posten in Diplomatie, Verwaltung und Armee an.
Die planmäßige Ansiedlung von Deutschen in Rußland begann unter Katharina II (1762-1796). In den unermeßlichen Weiten des russischen Imperiums gab es eine große Anzahl ungenutzten Ackerbodens. Die siegreichen Kriege gegen die Türkei Ende des XVIII. Jahrhunderts hatten das russische Territoriumim Süden der Ukraine erheblich vergrößert, aber die Bevölkerung war dort sehr gering. Um diese Böden urbar zu machen, gab Katharina II das Manifest vom 22. Juli 1763 heraus, in dem ausländische Bürger zur Ansiedlung in Rußland aufgerufen wurden. Die wichtigsten Leitsätze dieses Manifests lauten:
1. Gestatten wir allen Ausländern, in unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen.
2. Gestatten wir allen in unserem Reich ankommenden Ausländern ungehindert freie Religionsausübung gemäß ihren Kirchensatzungen und Gebräuchen.
3. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Abgaben entrichten und weder gewöhnliche noch außerordentliche Dienste leisten. Diejenigen, die sich in gänzlich unbewohnten Gegenden niederlassen, sollen für einen Zeitraum von dreißig Jahren von der Steuerpflich befreit sein; Siedler in anderen gegenden für 5 – 10 Jahre.
4. Solche sich in Rußland niederlassende Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins wider ihren Willen weder in Militär- noch in Zivildienst genommen werden.2
Den Kolonisten wurde das Recht auf Gemeinde-Selbstverwaltung erteilt. Sie unterstanden unmittelbar dem Thron und nicht der inneren Verwaltung des Landes. Außerdem konnten die Kolonisten Rußland jederzeit wieder verlassen. Im Unterschied zu den deutschen und den ortsansässigen Bauern waren die Kolonisten keine Leibeigenen, sie waren freie Menschen.
Die Privilegien, die die Kaiserin ihnen versprach, erschienen den Menschen, die ein Dasein in Armut und mit großen Entbehrungen fristeten, besonders attraktiv. Man kann folgende Gründe für die Emigration der Deutschen aus Deutschland nennen:
• politische Verfolgung durch ausländische und eigene Regierungen;
• Wehrpflicht und Zahlung von Abgaben an ihre Fürsten und fremde Mächte (z.B.:
Verkauf von Soldaten nach Amerika):
• wirtschaftliche Not, Mißernten, Hungerjahre (z.B.: Württemberg 1816);
• harte, teilweisen ungerechte Methoden in der Verwaltung;
• Einschränkung von Freiheit und Glaubensfreiheit;
• der 5-jährige Krieg, der napoleonische Krieg;
• ausländische Besatzung.3
So vollzog sich 1763 die Umsiedlung von Deutschen nach Rußland aus Hessen, aber auch aus den rheinnahen Gegenden in Württember. 1763-1768 ließen sich an der Wolga etwa 8.000 Familien mit einer Gesamtzahl von 27.000 Seelen nieder. Auf der Bergseite (am rechten Wolgaufer) wurden 45 Kolonien gegründet, auf der Wiesenseite (am linken Ufer der Wolga) 57. Außerdem existierten deutsche Siedlungen im Kaukasus, und es entstanden auch Siedlungen im südlichen Ural und in West-Sibirien.
In wirtschaftlicher Hinsicht waren die Siedler mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Aber ihr Fleiß, der Kinderreichtum in ihren Familien, Sparsamkeit und bäuerliche Fertigkeiten führten zu einem recht schnellen Aufschwung ihres Lebensstandards,und durch den Erwerb zusätzlicher Ländereien vergrößerten sich die Territorien der einzelnen Kolonien.
Alle deutschen Siedlungen waren streng nach Glaubensnekenntnis, katholisch oder evangelisch ausgerichtet. Das religiöse Leben war bei den Siedlern äußerst aktiv, denn viele hatten sich in Rußland aus religiösen Motiven niedergelassen. Da von Seiten der russischen Regierung Glaubensfreiheit garantiert wurde, waren die Kolonisten bereit, eine große Geldsumme in Form von Spenden für den Bau von Kirchen zur Verfügung zu stellen. Die Kirchen wurden aus eigenen Kräften gebaut. In jedem mittleren und größeren Dorf gab es, weithin sichtbar, eine Kirche mit einem stattlichen Glockenturm. In allen Kirchen gab es Orgeln. In den kleineren Dörfern und bei den Mennoniten standen lediglich Gebetshäuser und Glockenturm. Gleichzeitig diente sie auch als Schulen.
Den zweiten Grundstein für die Wahrung der Eigenheiten der Deutschen in Rußland bildete die Schule. Da die zarenregierung den Deutschen bei ihrer Niederlassung in Sachen Schulbildung völlige Freiheitließ, strebten die Kolonisten danach, den Schulbesuch zur Pflicht zu machen. In jedem deutschen Dorf gab es eine Schule, und der Unterricht wurde in deutscher Sprache abgehalten. Die Schulgebäude, die hauptsächlich aus Gemeindemitteln errichtet wurden, bezeugen dies Bemühen der deutschen Kolonisten nach allgemeiner Schulbildung. Unter den Siedlern fanden sich keine Analphabeten. Bald darauf entstand die Notwendigkeit höherer Lehranstalten mit einer Bildung auf höherer Ebene. Das waren die Zentralschulen, die Lehrer, Dorfschreiber und Kaufleute ausbildete. Eine große Rolle spielte dabei die deutsche Sprache und Literatur, sowie auch das Erlernen der russischen Sprache, denn sie war in allen offiziellen Behörden vorgeschrieben. Die Zentralschulen wurden in zahlreichen Kolonistendörfern gebaut. Daneben entstanden mit der Zeit (besonders nach 1905) Lehrer- und Predigerseminare, Gymnasien, Handels- und Landwirtschaftsschulen sowie Lereinrichtungen für taubstumme.
Im Jahre 1908 gab es im Russischen Imperium 2.700.000 Bürger deutscher Nationalität. Und 1918 wurde in den Bezirken mit größerer deutscher Bevölkerungsdichte auf dem Territorium der Gouvernements Samara und Saratow das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen gegründet, das 1924 in Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolgadeutschen umbenannt wurde. Auf diese Weise war es eineinhalb Jahrhunderte nach der Zeit der Massenumsiedlung von Deutschen nach Rußland nicht nur gelungen, Neuland urbar zu machen, die Wirtschaft der Wolgaregion zu entwickeln, Sprache, Sitten und Gebräuche, Traditionen und Glaubensbekenntnis zu wahren, sondern auch eine eigene Autonomie zu schaffen.
Auf chakassischem Territorium machten die Deutschen vor 1941 nur einen unbedeutenden Teil der Bevölkerung aus; nach der Volkszählung von 1939 betrug ihre Zahl lediglich 333 Personen. Die Massenumsiedlung der Deutschen nach Chakassien geschah zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges als Ergebnis der Deportationen (Zwangsumsiedlung) in die östlichen Bezirke des Landes und der Liquiedierung der ASSR der Wolgadeutschen.
Zum ersten Dokument für das jäh sich ändernde Schicksal des gesamten deutschen Volkes wurde der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen sowie die Liquidierung der ASSR der Wolgadeutschen“, in dem es hieß, „dass es unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione gibt, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Gebieten Sprengstoffanschläge verüben sollten. ...... verbirgt die deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht“.4 Somit erklärt dieser Erlaß alle Deutschen zu „Volksfeinden“.
In Chakassien begannen die Vorbereitungen für die Aufnahme und Unterbringung der Umsiedler am 8. September 1941 mit der Schaffung einer Gebietstrojka aus den Reihen der Vertreter des Gebietskomitees der WKP (B), der regionalen NKWD-Verwaltung und des Exekutivkomitees des Gebietsrates. Es war geplant, auf dem Territorium der Region 10,500 Deutsche aufzunehmen und anzusiedeln. Für ihre Unterbringung am neuen Wohnort war die Vergabe von Krediten in einer Größenordnung von 2000 Rubel durch die Landwirtschaftsbank mit einer Laufzeit von fünf Jahren vorgesehen. Außerdem sollte bei der Aussiedlung der Deutschen das von ihnen abgegebene Vieh und Getreide erfaßt werden, damit sie am neuen Wohnort, entsprechend den von ihnen vorzukegenden Quittungen. wieder Vieh bekommen konnten. Aber zu den in Kriegskzeiten herrschenden Bedingungen war die Verwirklichung dieser Pläne unrealistisch. Außerdem definierte die Formulierung „Volksfeinde“ im Ukas vom 28.08.1941 die Formen und Methoden der Aussiedlung der Deutschen, deren Leitung den NKWD-Organen oblag. ZumPacken der Sachen gab man den deutschen Familien bis zu fünf Tage Zeit; erlaubt wurde ihnen die Mitnahme von insgesamt 20 kg. Im weiteren Verlauf wurden alle auf Lastkähne, anschließend auf Güterwaggons verladen und in den Osten des Landes gebracht. Auf dem Weg dorthin, der sich für viele Deutsche über mehr als einen Monat hinzog, starben hunderte von ihnen an Hunger und Krankheiten.
Nach der Ankunft am Siedlungsort wurden die Menschen in verlassenen Scheunen, Klubgebäuden und Erdhütten unterbracht; viele wurden auch von ortsansässigen Einwohnern aufgenommen. In den Auskünften und schriftlichen Mitteilungen der Bezirkskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolchewiken) hieß es, dass die Umsiedler in äußerst dichter Belegung untergebracht waren und die vorgesehenen Wohnräume keinesfalls den normalen Bedingunen entsprechen.
Alle arbeitsfähigen Deutschen bekamen, sobald sie an ihrem Siedlungsort eingetroffen waren, eine Arbeit in den Kolchosen oder Sowchosen der Region zugewisen. In den Mitteilungen an das Chakassische Gebietskomitee der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) wird darauf hingewiesen, dass „der weitaus größte Teil er aus den Wolga-Rayons umgesiedelten Deutschen nun in den Kolchosen, Sowchosen und anderen Ortschaften gewissenhaft ihre Arbeiten erledigen“.
Sonderansiedlung – darunter versteht man die Einschränkung der Bürgerrechte am Wohnort, vor allem das Recht auf Bewegungsfreiheit. Die Sonderumsiedler wurden der persönlichen Meldepflicht bei den jeweiligen Kommandanten der Sonderkommandanturen unterstellt. Eine Besonderheit dieser Registrierung und Erfassung persönlicher Daten war, dass ihr ein ausschließlich allumfassender Charakter innewohnte. Für jede Sonderumsiedlerfamilie wurde eine Registerkarte F N°1 (für die ganze Familie) ausgestellt, außerdem für jeden Sonderumsiedler über 16 Jahre eine personengebundene Registrierkarts F N°2; Kinder bis zu einem Alter von 16 Jahren wurden auf einer Karte zusammengefaßt. Laut Angaben der Behörde für Staatssicherheit der Region Krasnojarsk befanden sich auf chakassischem Territorium mehr als 30 NKWD-Sonderkommandanturen, zu deren Aufgaben die Feststellung der Anzahl der Familien und Sonderansiedler, die Gewährleistung der Kontrolle über die Bewegungsgewohnheiten der Sonderumsiedler innerhalb der Grenzen ihrer Siedlungsbezirke, das Auffinden arbeitesfähiger Sonderumsiedler mit dem Ziel der Kontrolle ihrer Unterbringung an einem Arbeitsplatz, die rechtzeitige Aufdeckung von Fluchtversuchen seitens der Sonderumsiedler aus ihren Siedlungsorten und die Ausgabe von Bescheinigungen an die Sonderumsiedler gehörten. Die Deutschen mußten sich ständig bei den Kommandanten der Distrikte, an die sie gebunden waren, melden und erfassen lassen und besaßen nicht das Recht, sich auch nur für einen Tag außerhalb der Grenzen ihres Bezirks aufzuhalten. Im Bestand des Zentralen Staatsarchivs gibt es ein Dokument, das das in den Sondersiedlungen für die Deutschenden geltende Regime charakterisiert: Erlaubnis des Kommandanten der Sonderkommandantur der MWD-Behörde der Stadt Abakan zur Abfahrt der Familie F.D. Emich in die Abakaner Vorstadt für die Dauer von 2 Tagen zwecks Kartoffelernte.
Der nächste Schritt der Regierungspolitik gegenüber den Deutschen war die Mobilisierung der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung in die Arbeitsarmee. Laut Anordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung vom 14. Februar 1942 wurden alle deutschen Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren in Arbeitskolonnen mobilisiert, die zum GULAG-System gehörten. In den „Maßnahmen zum Unterhalt, der Struktur, Disziplin und dem Arbeitseinsatz der mobilisierten Deutschen in Arbeitskolonnen hieß es: „Alle zu mobilisierenden Deutschen im Einberufungsalter sind zum Arbeitseinsatz in Lager des NKWD der UdSSR zu schicken und in Arbeitskolonnen zu organisieren, die den Erziehungs- und Arbeitslagern des NKWD der UdSSR unterstehen“.6 Die schweren Lebensbedingungen in den Lagern des NKWD führten zum Tod von tausenden Arbeitsarmisten. Diesbezüglich charakteristisch ist eine Auskunft des Leiters der GULAG-Abteilung für die Registrierung von Häftlingen beim NKWD der UdSSR, des Hauptmanns der Staatssicherheit G.M. Granowskij, vom 31. August 1942:
„Eine Untersuchung der von den Lagern des NKWD vorgelegten Daten über den natürlichen Schwund der in den Arbeitskolonnen mobilisierten Deutschen zeigt, dass diesbezüglich in einer Reihe von Lagern vieles nicht gut läuft.
Die höchste Schwundquote bei den Deutschen im laufenden Jahr entfällt auf verstorbene oder demobilisierte Invaliden und Menschen, die zum Arbeiten völlig untauglich sind.
Unvollständigen Angaben zufolge starben zwischen Januar und Juli 1942 allein in fünf Lagern mit allgemeinen Bestandslisten von 5.181 per 1. August erfaßten mobilisierten Deutschen 4.385.
Eine besonders hohe Sterblichkeitsrate wird in Solikamsk gemeldet, wo innerhalb von sieben Monaten 1.686 Personen umkamen, was einem Prozentsatz von 17,6% des verzeichneten Häftlingsbestandes per 1. August entspricht; im Bogoslowsker Lager verstarben in demselben Zeitraum 1.494 Menschen oder 12,6% und im Sewscheldorlag (Nördliches Eisenbahnlager; Anm. d. Übers.) in nur drei Monaten 677 Mann = 13,9% des am 1. August erfaßten Bestandes.
Ziemlich weit verbreitet war in einer Reihe von Lagerm die Demobilisierung von Deutschen aufgrund von Invalidität oder Arbeitsuntauglichkeit. Allein in vier Lagern wurden zwischen Januar und Juli 6.425 Personen demobilisiert – bei einem allgemeinen Lagerbestand per 1. August von 34.677 Mann..... Gründe für diese hohe Zahl der Abgänge ist die zunehmende Entkräftigung des Arbeiterbestandes, die immer häufiger zu völliger Invalidität oder Arbeitsuntauglichkeit führt“.7
Am 7. Oktober 1942 verabschiedete das Staatskomitee für Verteidigung die Anordnung „Über die zusätzliche Mobilisation von Deutschen für die Volkswirtschaft der UdSSR“; daraufhin fand eine zusätzliche Mobilisierung aller männlichen Deutschen im Alter von 15-16 und 51-55 Jahren eineschließlich, sowie aller deutschen Frauen im Alter von 16-45 Jahren einschließlich statt. Von der Mobilisierung befreit waren lediglich Schwangere und Frauen mit Kindern bis zu einem Alter von drei Jahren. Das Staatskomitee für Verteidigung verpflichtete die örtlichen Räte der Deputierten der Werktätigen „Maßnahmen zur Unterbringung der elternlos gewordenen Kinder der Mobilisierten zu ergreifen“ und führte die strafrechtliche Verfolgung der Deutschen ein, „die sich zur Mobilisierung nicht an den Einberufungsorten oder Sammelpunkten einfinden, eigenmächtig die Arbeit einstellen oder aus den Arbeitskolonnen desertieren“.8
Auf diese Weise nahmen die Repressionen gegenüber den Deutschen, die mit Zwangselementen wie der gewaltsamen Umsiedlung und der Zwangsmobilisierung in die Trudarmee begonnen hatten, immermehr den Charakter von Strafmaßnahmen an. Am 26. November 1948 wurde vom Präsidium es Obersten Sowjet der UdSSR der Ukas „Über die strafrechtliche Verantwortung von Personen, die während des Großen Vaterländischen Krieges in entlegene Bezirke der Sowjetunion verbannt wurden, bei Fluchtversuchen aus den Siedlungsorten“ verabschiedet, in dem es hieß, dass die Umsiedlung der Deutschen für immer erfolgt war, und zwar ohne das Recht auf Rückkehr an ihren vorherigen Wohnort. Für eigenmächtige Abreise (Flucht) aus dem Zwangssiedlungsort wurde der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen – 20 Jahre Zwangsarbeit. In den Beständen des Zentralen Staatsarchivs gibt es Zeugnisse darüber, dass die Durchsetzung des obigen Ukas von den örtlichen Abteilungen des MWD noch durch weiteres Aufsichtspersonal vervollständigt, wobei man sich für 100-150 Erwachsene 1 Aufseher zum Ziel setzte. Man faßte alle Ausgesiedelten, die in entfernten Siedlungen lebten und nicht von Sonderkommandanturen des NKWD betreut wurden, zu größeren Siedlungen zusammen. Auf den Sitzungen der Gebiets- und Bezirkskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) wurden die Unternehmensleiter vorsorglich darüber informiert, dass das Entsenden von Ausgesiedelten über die Grenzen der Siedlungen hinaus unzulässig sei; das gleiche galt für ihre Verlegung von einem Arbeitsrevier in ein anderes und die Bewilligung von Jahresurlaub ohne Einverständnis der MWD-Organe. Für den Fall, dass Aussiedler Fluchtversuche unternahmen, wurden die Leiter der Unternehmen automatisch zu Helfershelfern erklärt und unterlagen der gerichtlichen Verurteilung; ihnen drohte eine Strafe bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug.
Aber trotz all der ergriffenen Maßnahmen gelang es nicht, die Migration unter der deutschen Bevölkerung vollständig zu unterbinden. „Nach Informationen des MWD der Region Krasnojarsk wurden 1948 mehr als tausend Fluchtversuche von Aussiedlern begangen: 43 versuchten aus dem Bezirk Taschtypsk, 27 aus dem Bezirk Bograd, 36 aus dem Bezirk Schirino zu fliehen. In der Regel handelte es sich um Versuche vereinzelter Familien sich mit ihren Verwandten wiederzuvereinigen ... Die Abschaffung der Meldepflicht in den Sonderkommandanturen und die Freilassung aus der administrativen Aufsicht vollzog sich für die Deutschen und ihre Familienmitglieder erst nach der Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 13. Dezember 1955, aber die Deutschen erhielten bis 1972 nicht das Recht an die Orte zurückzukehren, aus denen sie ausgesiedelt worden waren“.9
Dr weitere Verlauf der Geschichte der Deutschen steht mit ihrem Kampf um politische Rehabilitierung und dem Streben nach der Wiederherstellung der deutschen Autonomie im Zusammenhang. Unter den Deutschen tat sich eine Initiativgruppe hervor, die Briefe und Appelle an das Zentralkomitee der KPdSU sowie die Regierung der UdSSR vorbereitete, mit er Bitte, eine Lösung Ihres Problems herbeizuführen. Zwischen 1964 und 1988 wurden fünf Delegationen von Deutschen nach Moskau geschickt, um dort mit dem Staatschef zusammenzutreffen. Bei den Empfängen im Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR, im Zentralkomitee der KPdSU und den Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen berichteten die Delegierten über das ungerechte verhalten gegenüber dem deutschen Volks, versuchten ihre Gesprächspartner von der Notwendigkeit einer Entscheidung bezüglich der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen zu überzeugen, legten schriftliche Gesuche mit tausenden Unterschriften deutscher Bürger vor. Unter den Delegierten befanden sich auch Einwohner aus Chakassien: F.G. Schessler und G.F. Kaiser. Über ihre Aktivitäten in Chakassien wurden sowohl öffentliche, als auch geheime Beobachtungen seitens der Staatssicherheit geführt, was seine Bestätigung in zahlreichen Auskünften und Informationen der KGB-Organe findet.
Trotz aller Bemühungen der „deutschen Autonomisten“ kam es in puncto Wiederherstellung der deutschen Republik an der Wolga zu keiner Entscheidung.
So wurden infolge der gegenüber den Deutschen angewandten Politik in der Zeit des stalinistischen Totalitarismus viele deutsche Familien auseinandergerissen und bekamen danach nicht das Recht, miteinander Kontakt aufzunehmen; daher konnte die ältere Generation Sprache, Tradition, Sitten und Gebräuche des Volkes nicht an ihre Kinder weitervermitteln. Die Deutschen begannen nach und nach ihre nationalen Merkmale zu verlieren, vor allem die nationale Sprache. Gegenwärtig halten lediglich 38% der in Chakassien lebenden Deutschen die deutsche Sprache für ihre Muttersprache.
Das Bemühen um den Erhalt von Sprache, Tradition, Sitten und Gebräuchen ist einer der wichtigstenGründe der Massenrückkehr von Deutschen in ihre historische Heimat Deutschland; sie begann Anfang der 1990er Jahre und dauert auch heute noch an.
In der Archivabteilung der Schirinsker Bezirksverwaltung und anderen Archiven der Republik gibt es Dokumente, die von Deutschen in ihren Privatarchiven verwahrt wurden. Ihr Studium gestattet einem, am Beispiel ganz konkreter menschlicher Schicksale, ein tiefgründigeres Verständnis für die Tragödie des deutschen Volkes zu entwickeln.
Die stellvertretende Leiterin der Verwaltung in der Ortschaft Soljonosernoe im Schirinsker Bezirk, M.D. Turizina, sammelte Erinnerungen von deutschen Einwohnern ihres Dorfes, in denen von den Schwierigkeiten die Rede ist, welche die deutschen Familie in der Zeit der Aussiedlung durchmachen mußten (Fond 67, Verz. 1, Akte 75).
Raisa Iwanowna Welger
Wir wohnten in Naidorf (Neudorf), Bezirk Unterwalden, Gebiet Saratow. Das Dorf
war groß, etwa 900 Menschen lebten dort. Wir hatten im Dorf unsere eigene
Maschinen- und Traktoren-Werkstatt, eine Schweinefarm, eine Melkeinheit, ein
Krankenhaus, eine siebenklassige Mittelschule, einen Klub und eine Walkerei; die
Schafe gaben eine grobe Wolle, sie wurden zweimal im Jahr geschoren, und diese
Wolle verwendete man für Filzstiefel. In der Melkstation wurde die Milch sofort
weiterverarbeitet; dort wurde Butter geschlagen. Die fertigen Produkte wurden in
die Stadt Wolsk gebracht. Einen Teil verkaufte man, der andere Teil wurde an den
Staat abgegeben. Die Leute arbeiteten dort auf Basis von Tagesarbeitseinheiten.
In unserem Dorf, damals gab es bei uns eine Kolchose namens Budjonny, wurde
Weizen angebaut; und aus dem Ertrag von Sonnenblumenkernen konnte man bis zu 2
Kannen Öl herstellen. Jeder besaß eine große eigene Wirtschaft. Man hielt
mehrere Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner und Gänse. Sie betrieben auch
Gemüseanbau. Bei uns gab es Kolchosgärten, in denen Wasser- und Honigmelonen
angebaut wurden, dort wurden auch Gurken und Tomaten gezogen; alles gedieh
prächtig, ohne Setzlinge, und die Ernteerträge waren unübertrefflich.
Vom Kriegsbeginn erfuhren wir aus den Zeitungen. Ich erinnere mich, wie ein Trupp Soldaten zu uns ins Dorf kam, sie waren alle bewaffnet. Die Schule wurde geschlossen und stattdessen dort die Soldaten untergebracht. Man erlaubte uns nicht, auf die Straße zu gehen; sie zwangen uns, das Fensterglas weiß zu streichen oder die Fenster mit fest zugezogenen Vorhängen zu verdunkeln. Sie informierten uns darüber, dass man uns zunächst an die Wolga bringen und von dort auf Lastkähnen abtransportieren würde; aber wohin sie uns bringen wollten – das sagten sie nicht. Als der betreffende Tag hereinbrach, vernagelten wir unsere Häuser, schütteten dem Vieh noch eine Ladung Futter hin, füllten den Brunnen mit Wasser, weinten eine Zeit lang und gingen dann zu den Fahrzeugen. Die ungemolkenen Kühe brüllten uns hinterher. Es zerriß einem das Herz von all dem, was da geschah. Wir nahmen nichts weiter mit als Essen. Alles, was wir in den Säcken hatten, war getrocknetes Brot und gekochtes Fleisch. Mit den Autos wurden wir zum Fluß gebracht. Unterwegs begegneten wir einer Menge Fleisch – Vieh, das das ganze Getreide abgefressen hatte und noch auf dem Feld verendet war; das Feld war ja noch gar nicht abgeerntet worden. Die zurückgelassenen Plantagen leuchteten rot von all den reifen Tomaten, als ob sie mit unserem Blut getränkt worden wären.
Drei Tage und Nächte warteten wir am Ufer der Wolga auf Lastschiffe, die uns ins Unbekannte fortbringen sollten. Schließlich kamen sie, wir wurden aufgeladen, genauer gesagt, sie stopften uns hinein, bis der Kahn bis an den Rand mit Menschen gefüllt war, und dann fuhren wir in die Stadt Engels. Viele, und das waren in der Hauptsache alte Leute, starben während der Fahrt und erreichten die Stadt schon nicht mehr. Die toten Körper wurden einfach in den Fluß geworfen. In Engels wurden wir bereits von Güterwaggons erwartet. Sie luden jeweils 56 Personen un einen Waggon und transportierten uns nach Alma-Ata. Dort trieben sie die Menschenin einen Wald. Wir ernährtenuns nur von trockenem Brot, ohnen einen einzigenTropfen Wasser. Viele Kinder starben, wurden den Eltern weggenommen und fortgebracht. Wohin? Das weiß nur Gott allein. Ständig flogen unsere Flugzeuge über uns hinweg, sie erschreckten uns, weil wir glaubten, sie würden uns bombardieren; wir wunderten uns schon über nichts mehr, denn auf der Wolga waren einige Lastkähne voller Menschen auf befehl Kalinins versenkt worden. Im Wald hielten sie uns eine ganze Woche lang fest; danach brachten sie uns nach Engels zurück, dort stiegen wir in einen anderen Zug ein, der uns dann bis zur Station Schira brachte. Von dort verteilten sie uns auf verschiedene Dörfer. Unsere Familie geriet nach Tschebaki. Die Ortsbewohner sahen uns ängstlich an, suchten nach den Hörnern und Schwänzen, die wir angeblich haben sollten; denn man hatte ihnen eingeredet, dass die Deutschen mit Hörnern und Schwänzen versehen sind. Aber zu ihrer großen Verwunderung waren wir ebensolche Menschen wie sie selbst. In Tschebaki trafen wir am 3. Oktober ein. Wir und noch drei weitere Familien wurden im Klub untergebracht, und nach ein par Tagen gaben sie uns eine Scheune ohne Ofen und ohne vernünftigen Fußboden, die zudem noch mit verfaultem Kohl und Kartoffeln zugeschüttet war. Wir mußten dort gründlich saubermachen, bauten einen Ofen und lebten dort bis zum Frühjahr. Wir nagten am Hungertuch. Im Frühjahr zogen wir in das Dorf Vorpost um, wo wir auch heute noch wohnen. Sie brachten uns in einem eingestürzten Häuschen unter. Um nicht vor lauter Hunger zu sterben, gingen wir auf die Felder, gruben gefrorene Kartoffeln aus und sammelten Ähren. Die Kartoffeln trockneten wir, mahlten sie und buken Fladen daraus. Wenn es uns gelungen war, ein paar Ähren zu finden, dann mahlten wir die enthülsten Körner zusammen mit getrockneten Kartoffeln – dadurch wurden die gebackenen Fladen noch ein wenig schmackhafter. Aber es gelang nicht immer, vom Feld ein wenig Getreide nach Hause zu tragen. Die Kolchosvorsitzende war ständig hinter uns her, und wenn sie uns erwischt hatte, dann nahm sie uns das Getreide wieder weg. Als wir versuchten ihr zu erklären, dass wir Hunger hatten und essen wollten, antwortete sie: „Was kümmert es mich, ob ihr heute oder morgen abkratzt“.
Tag und Nacht arbeiteten wir in Brigaden, übernachteten direkt auf dem Feld. Bereits im Alter von 8 Jahren war ich gezwungen zu arbeiten. Das Heu mußte geradewegs im Wasser abgemäht werden, danach wurde das geschnittene Heu aus dem Wasser gezogenund getrocknet, und erst danach kam es in den Schober. Im Winter brachten sie uns zur Holzbeschaffung. Wir lebten in Baracken mit dreistöckigem Boden; der war mit Spänen ausgelegt. Das Holzbeschaffungsrevier befand sich 5 km von den Baracken entfernt; auf dem Weg dorthin wirst du bis auf die Knochen durchgeweicht, und so naß und hungrig haben wir dann gearbeitet. Vom Hunger bekamen die Menschen Ödeme, und auch von Läusen wurden sie ganz zerfressen. Man verhielt sich uns gegenüber sehr schlecht, sie sahen uns nicht als Menschen an; wir konnten uns nicht waschen, nicht ausruhen, und sie ließen uns auch nicht unsere Kinder im Dorf besuchen. Wenn man auf dem Feld arbeiten mußte, dann gaben sie einem die schlechtesten Pferde. Einmal krepierte mein Pferd auf dem Weg zum Acker. Natürlich gaben sie mir die Schuld, und ich kam vor Gericht. Ich bekam eine Strafe von 50 Rubel, und das auch nur, weil der Richter ein guter Mensch war.
So lebten wir, bis der Krieg zuende war. Wir weinten vor freude, hofften, dass das Leben nun für uns besser würde. Aber wir irrten uns, denn noch lange Zeit danach wurden wir als Volksfeinde angesehen.
1950 verkauften wir unsere Kuh und kauften unser eigenes Häuschen, wir arbeiteten auf Basis von Tagesarbeitseinheiten und konnten uns endlich sattessen. Niemals hättemein Vater gedacht, dass er das noch erleben würde“.
Krestjan (Christian) Genrichowitsch (Heinrich) Denk
Ich wurde 1915 in Naidorf (Neudorf) geboren. Ich habe vier Schulklassen
abgeschlossen. Ab dem 12. Lebensjahr ging ich in die Kolchose zum Arbeiten, und
mit 18 Jahren widerfuhr mir großer Kummer – meine Eltern starben. Nach
schrecklichen Hungerjahren begannen die Menschen, sich nach und nach ihren
Haushalt einzurichten; sie bauten Häuser, machten es sich etwas wohnlicher und
dachten an die Zukunft. Ich hatte ein großes Haus, eine Bauernwirtschaft. Jeder
Herbst erfreute einen mit seiner guten Ernte in Wassermelonen, Honigmelonen und
Getreide. Aber nach dem Ausbruch des Krieges kam der Ukas, der unter all das
einen Schlußstrich setzte, was diese Menschen besaßen – der Befehl zur
Umsiedlung. Zum Packen stellten sie uns äußerst wenig Zeit zur verfügung. Wir
konnten rechtzeitig ein wenig Essen und Kleidung zusammenraffen; wir verließen
unsere Häuser. In einem bis an den Rand mit vertriebenen Deutschen
vollgestopften Zug brachten sie uns fort – weit weg, ins schreckliche Sibirien.
Fast einen Monat war die Familie Denk unter der Begleitung von Wachen unterwegs,
bis sie schließlich in Tschebakow eintrafen, wo sie bis zum Frühjahr lebten, und
dann wurden sie zur Sonerkommandantur nach Budjonny verlegt. Hier lebten die
Deutschen unter Kiommandanturaufsicht. Wie Ausgestoßene mußten sie sich einmal
im Monat dort melden und registrieren lassen, egal bei welchem Wetter, sogar
alte Menschen hatten in der Sonderkommandantur zu erscheinen. Die
Kommandantenmachten sich Rechte zunutze, die denen der Gutsbesitzer zu Zeiten
der Leibeigenschaften ähnelten. Wenn einer der Deutschen ohne Erlaubnis einen
Besuch im Nachbardorf gemacht hatte, dann bekam er 10 Tage Arrest. So lautete
das Gesetz. Christian Genrichowitsch wurde bei seiner Ankunft mit der Familie in
einer armseligen, provisorischen Behausung untergebracht und zum Arbeiten in die
Holzbeschaffung geschickt. Und am 8. Mai 1942 wurde er gleich mit dem ersten
Aufruf in die Trudarmee nach Krasnoturinsk im Gebiet Swerdlowsk geholt. Das war
ein Zwangsarbeiterlager, umgeben von einem hohen Stacheldraht mit bewaffneten
Wachmannschaften. Sie lebten in Baracken, es war kalt. Sie arbeiteten viel, und
die Brotration betrug nur 300 Gramm pro Tag. Wieviele Menschen starben damals,
weil sie es nicht schafften, diese schreckliche Zeit durchzustehen?! Man benahm
sich gegenüber den Trudarmisten als wären es Verbrecher. Auf dem Weg von und zur
Arbeit wurden sie von einem Soldatenkonvoi begleitet, die den Befehl hatten,
beim geringsten Verdacht sofort zu schießen. Viele Erniedrigungen mußten sie
durchmachen; man nannte sie nicht bei ihren Namen, sondern mit beleidigenden
Worten, die den Menschen deutscher Nationalität zutiefst demütigten. Acht endlos
lange Jahre verbrachte Christian Genrichowitsch in der Hölle der Trudarmee und
kehrte erst im Jahre 1950 von dort zurück. Als er von jener Zeit erzählt, füllen
sich seine Augen mit Tränen, er erinnert sich, wie die Trudarmisten abends vor
den Wachmannschaften standen, bis endlich alle von der Arbeit zurückgekommen
waren, lange standen sie, und am Morgen sammelten sie dann im Wald die Leichen
derer, auf die sie am Vorabend umsonst gewartet hatten. Der Schmerz über das
Durchgemachte bleibt wohl für immer in der Erinnerung haften. Nach seiner
Rückkehr aus der Trudarmee setzte sich Christian Genrichowitsch hinter das
Lenkrad eines Traktors und arbeitete bis zu seiner Rente fleißig und
gewissenhaft. Davon zeugen seine Auszeichnungen: 2 Medaillen „Für die
Urbarmachung von Neu- und Brachland“, der Orden des Roten Arbeiterbanners, die
Medaille „Veteran der Arbeit“ und die Medaille „Für heldenhafte Arbeit im Großen
Vaterländischen Krieg 1941-1945“.
Aleksander Aleksandrowitsch Welger und Anna Christianowna Welger
Er war noch ein kleiner Junge, als seine Familie gezwungen wurde, sich dem Ukas
über die Umsiedlung der Wolgadeutschen unterzuordnen und, zuerst mit einem
Lastkahn auf der Wolga, anschließend in stickigen Güterwaggons mit dreistöckigen
Pritschen, die Heimat zu verlassen und, nachdem sie die lange, einen ganzen
Monat dauernde Fahrt überstanden hatten, rauhen sibirischen Boden zu betreten.
Die Kinder verstanden damals nicht, worüber die Frauen weinten, weshalb die Gesichter der Männer aschfahl aussahen. Alles war neu und interessant für die kleinen Mädchen und Jungen. Aber schon sehr bald fühlte Aleksander Aleksandrowitsch, dass großes Leid die Familie überkommen sollte: mit dem ersten Einberufungsbefehl wurde der Vater in die Trudarmee geschickt, dann die Mutter und die Schwester, und zwei Wochen später kam auch er an die Reihe. Er kam nach Buguruslan, und am nächsten Morgen mußten die Trudarmisten Brechstangen und Spaten in die Hand nehmen und zur Arbeit ausmarschieren. Die Arbeit war sehr schwer, man verhielt sich ihnen gegenüber, als wären sie Verbrecher, und dann noch die Typhusepidemie und die Läuseplage. Wieviel kann ein Mensch ertragen! Aleksander Aleksandrowitsch erkrankte an Typhus, kam ins Krankenhaus, wo er einen ganzen Monat lag, dann entließen sie ihn nach Hause. 1943 kehrte er nach Budjonny zurück, die Mutter kam 1947, und der Vater sah seine Familie überhaupt nich wieder. Nach seiner Rückkehr arbeitete er bis 1952 auf verschiedenen Arbeitsstellen als ungelernter Arbeiter, anschließend bis zur Rente als Traktorist. Es war ein schweres Leben, eine Menge Kummer und Gram entfiel auf sein Los, aber für eines ist er dem Schicksal dankbar: dass ab 1951 eine treue Gefährtin das gemeinsame Leben mit ihm bestritt – seine Ehefrau Anna, eine bemerkenswerte, bescheidene Frau, die ihm 6 Töchter schenkte, über deren Leben unbedingt auch etwas gesagt werden muß. Genau wie ihr Mann gelangte auch sie als 12-jährige, zusammen mit ihren Eltern, auf Grundlage dieses grausamen Ukas unter die Aufsicht der Sondrkommandantur in Budjonny. Die Eltern gingen sofort arbeiten, und 1942 wurdeAnnas Vater in die Trudarmee geholt. Im Oktober 1943 holten sie auch die Mutter, die noch zwei kleine Kinder auf den Armen hielt. Anna war damals gerade 14 Jahre alt. Bald darauf wurde auch Anna zur Trudarmee nach Krasnojarsk geschickt. Sie wurden in einem Lager abgeladen, in dem früher Kriminelle gehalten worden waren. Schrecklich war es dort: die ständige Begleitung durch Wachen, Wachtürme, strengste Bewachung auf Schritt und tritt. Anna arbeitete in der Hilfswirtschaft: dort wurden auf einer Fläche von 75 Hektar Kartoffeln für das Krasnojarsker Metallhüttenwerk angebaut. Wie grausam und ungerecht, dass Kinder wie Anna soetwas erlebenund durchmachen mußten: die kümmerliche Brotration von 300 Gramm pro Tag, die vor Hunger sterbenden Kinder, grimmiger Frost, Hunger, Elend, eine Leben ohne Hoffnung und Erlösung. Und der Wunsch zu sterben, um sich zu retten, um Ruhe zu finden. Wieviele Tränen vergoß Anna Christianowna in jener Zeit und auch jetzt noch, da sie sich an jene fernen Jahre des Leids erinnert. Der Stein, der schon seit vielen Jahren auf ihrer Seele lastet, wird schwerer, noch einmal ist sie gezwungen, all das Schreckliche jener Jahre zu durchleben. Wenig Gutes entfiel auf das Schicksal der Menschen. Ihr ganzes Leben verbrachten sie mit Arbeit, sie sahen keine Kindheit, keine Jugend. Nur Arbeit...
Filipp Andrejewitsch Schuman(n)
Schulabschluß: 5 Klassen; arbeitete danach als Ankuppler und machte später
eine Ausbildung zum Traktoristen; hinter dem Lenkrad eines Traktors arbeitete
er, bis der Ukas über die Umsiedlung kam. Die Familie wurde, zusammen mit
anderen, auf einen Waggon verladen, und der lange Zug trug ihn davon, weit weg
von seinen heimatlichen Gefilden, in den Schirinsker Bezirk, in die
Budjonny-Kolchose. Filipp arbeitete dort bis 1942, als er zur Trudarmee
mobilisiert wurde. Man brachte due Arbeitsarmisten in das Gebiet Kirow. Die
Lagerzone war von Stacheldraht umgeben, bewaffnete Wachen und Diensthunde liefen
herum. Filipp begann in der Holzfällerei zu arbeiten, er transportierte das Holz
mit einem besonderen Fahrzeug ab – einer kleinen Lok mit Verbrennungsmotor.
Einmal wollte er Wasser holen, sprang auf einen schwankenden Steg und hatte im
selben Augenblick ein Bein verloren. Drei lange Monate lag er im Krankenhaus.
Erwurde mit einer Prothese von dort entlassen und nahm sogleich wieder seine
Tätigkeit an seinem vorherigen Arbeitsplatz auf.
1946 wurde er freigelassen und fuhr als einer der ersten nach Hause, denn er galt seit seinem 20. Lebensjahr als Invalide. Lange war er unterwegs. Am 9. Januar 1947, nach vielen Qualen, öffnete sich für ihn die Tür des Hauses,in dem seine Mutter wartete. Viele Jahre sind seit dieser Zeit vergangen, aber Filipp Andrejewitschkann sich an sie noch gut erinnern. Und erneut reißen Demütigung und Schmerz die alten Wunden auf. Er weiß noch, wie erschrocken die Trudarmisten waren, wie sie sich fürchteten, einen falschen Schritt zur Seite zu machen, erinnert sich, wie die Menschen vor Hunger und aufgrund der schweren Arbeit starben; jeden Tah mußten Filipp und seine Genossen 16 Menschen fortschaffen. Ja. Die Menschen starben vor Hunger, obwohl die Lagerhäuser voll von Lebensmitteln waren, aber die gab man ihnen nicht; die lagen da und verdarben, und die Leute starben und starben. Filipp Andrejewitsch hatte Glück, er konnte dieser Hölle entkommen, fuhr nach Hause und fing auch dort sofort wieder an zu arbeiten. Ar bekam eine Arbeit als Mechanisator, gehörte stets zu den Bestarbeitern und besitzt eine ganze Reihe von Auszeichnungen, die er aufgrund seiner Arbeitsverdienste bekommen hat...
Alwina (Alwine) Jakowlewna Schenknecht (Schönknecht)
Alwina Jakowlewna wurde 1923 geboren. Als sie 9 Jahre alt war, mußte sie den
ersten großen Verlust erleiden, den sie niemals verwinden sollte – den Tod ihrer
Mutter. Das Mädchen war äußerst gescheit, ging jedoch nur bis zum Ende der 6.
klasse zur Schule. Im Alter von 14 Jahren ging sie als Melkerin arbeiten; das
Leben gestaltete sich schwierig, und deswegen hatte sie keine Möglichkeit eine
Ausbildung zu machen. Sie arbeitete bis 1941, bis zu jenem unvergeßlichen Tag,
als tausende Menschen deutscher Nationalität gezwungen waren, ihre angestammten
Wohnorte, Haus und Hof zu verlassen, die sie sich über viele Jahre geschaffen
hatten, und ins weit entfernte, beängstigend unbekannte Sibirien zu fahren.
Alwina Jakowlewna kam nach Ijus, von wo aus man sie zum Arbeiten in das Dorf
Podsaplot schickte. 1942 holten sie sie zur Trudarmee, und erneut ging es in
Waggons, unter strenger Wachbegleitung, auf eine lange, zermürbende Reise. Die
Züge mit den Arbeitsarmisten trafen in Baschkirien ein. In Ischimbaja wurde
Alwina eine Arbeit auf einem Erdölförderturm in einem baschkirischen Dorf
zugewiesen. Sie lebten dort im Kesselhaus, aus denen man die Kessel entfernt und
dafür Pritschen hineingestellt hatte. Hier war es feucht und kalt. Viele Frauen
konnten die Bedingungen nicht ertragen, unter denen sie in der Trudarmee leben
und arbeiten mußten. Alwina, eine junge, schöne und findige Frau, überstand
alles. Aber was mußte sie nicht alles durchmachen und ertragen: Schmerz,
Erbniedrigung, die schwere, alle Kräfte raubende Arbeit, Angst vor den
bewaffneten Wachen, die einen in jedem beliebigen Augenblick einfach erschießen
konnten. Während der 6 Jahre, in denen Alwina Jakowlewna auf dem Bohrturm tätig
war, wurden sie und andere Arbeiter von einer Stelle zur anderen versetzt, je
nach dem, wo gerade das Öl im Bohrloch am Sprudeln war. Sie lebten in einer
Erdhütte, in der ungefähr 90 Personen untergebracht waren. Schrecklich ist die
Erinnerung daran, und es fällt schwer sich vorzustellen, wie diese kleine,
gebrechliche Frau soetwas durchstehen konnte. In der Erdhütte wares stickig,
Wanzen, Flöhe, Läuse quälten die Menschen bis aufs Blut, die Essensration
reichte nicht aus, nichts konnte das ständige Hungergefühl lindern. Kälte,
unmenschliche Arbeit – das waren die Dinge, von denen Alwina Jakowlewna und all
die anderen, denen das Schicksal das Leben und Arbeiten in der Trudarmee
zugeteilt hatte, Tag für Tag begleitet wurden. 1946, als ihre Tochter geboren
wurde, wurde sie in eine Tischlerei versetzt. Hier arbeitete sie insgesamt 6
Jahre. Unsen, die wir soetwas nicht miterlebt haben, fällt es schwer, das zu
verstehen, was Alwine Jakowlewna innerhalb von 12 Jahren an Alpträumen in der
Trudarmee durchmachen mußte. Das, was ihr Herz und ihre Seele an jenem Tag im
Jahre 1954 empfanden, als sie die langersehnte Erlaubnis zur Heimreise erhielt,
lassen sich nicht mit Worten wiedergeben: nach Hause, aber nicht in die Heimat,
sondern in ein entferntes sibirisches Dorf. Nach ihrer Ankunft begann sie dort
als ungelernte Arbeiterin zu arbeiten...
Iwan Andrejewitsch Denk
Er mußte schon sehr früh mitarbeiten, denn in der Familie gab es große
Schwierigkeiten; 6 Kinder, eine Mutter, die nicht arbeiten konnte – sie hatte
eine schwere Operation überstanden, nach der ihr nur ein Bein blieb, unter des
Vaters Hände allein schafften es nicht, eine so große Familie zu ernähren. Es
kostete Iwan große Mühe, überhaupt die Schule zu besuchen, aber er beendete
immerhin 4 Klassen. Später arbeitete er auf Pferden. 1936 schloß er seine
Traktoristenausbildung ab. Nach und nach wurde das Leben etwas leichter: er hat
sein eigenes Haus, sein kleiner Hof ist eingerichtet, die Familie beginnt in
bescheidenem Wohlstand zu leben. Leben und sich des Lebens freuen. Aber
ungebetenes Leid klopfte an die Tür eines jeden Hauses, als Hitlers Truppen im
Jahre 1941 mit ihren blutigen Stiefeln in unser Land einmaschierten. Und schon
folgte der grausige Ukas über die Aussiedlung der Deutschen. Iwan Andrejewitschs
Familie war die letzte, die ihr Haus verließ. Nach einer langen Fahrt traf die
Familie Denk schließlich an dem ort ein, wo sie ihr Leben noch einmal von Null
beginnen sollte. In Schira stiegen sie aus dem Waggon; von dort wurden sie zur
Sondersiedlung in Kysyl-aal gebracht. Es ist unmöglich, über das, was in den
Seelen und Herzen dieser Menschen vor sich ging, zu berichten , geschweige denn
es nachzuempfinden. Am 18. April 1942 mußte Iwan Andrejewitsch die Familie
verlassen: er wurde in die Trudarmee mobilisiert. Erneut eine Fahrt in einem
völlig überfüllten Waggon unter Wachbegleitung. Im Krasnoturinsker Lager wurden
die Arbeitsarmisten abgeladen. Und es begann die schwere Arbeit in der
Holzfällerei. Iwan Andrejewtitsch erledigte vielfältig Arbeiten; er zog sechs
Meter hohe Bäume, und manchmal schien es ihm, als ob die Beine ihm dem Dienst
versagten und er vielleicht für immer unter einem dieser Bäume begraben blieb.
Dann hätte man seine Ruhe gehabt. Auch, wie sehr träumten sie von der Freiheit!
Und da, im Jahre 1948, erhielt Iwan Andrejewitsch den Bescheid über seine
Freilassung, aber anstatt ihn nach Hause zu schicken, transportieren sie ihn in
den Schirinsker Bezirk, zu einem Bergwerk, in dem Gold gefördert wird und wo er
sechs Monate arbeitete; danach fuhr er zu seiner Familie. Er arbeitete zunächst
als Traktorist tätig, und war später, aufgrund seines Gesundheitszustandes,
gezwungen als Schafhirte zu arbeiten – bis zur Rente.
Karl Dawydowitsch Wachtel
Ich wurde 1913 geboren. 1920 starb mein Vater an Typhus, und so mußte ich
mich bereits mit 7 Jahren als Knecht verdingen. Mit großer Mühe beschaffte ich
das tägliche Brot. Das ständige Hungergefühl, Müdigkeit und Erschöpfung, die
freudlose, schwere Kindheit lassen sich aus Karl Dawydowitschs Erinnerung nicht
herauswaschen. Er mußte alle Heruasforderungen und Prüfungen des Schicksals
durchmachen, die das Hungerjahr 1933 mit sich brachte. Aber das Jahr war auf
seine Weise auch ein glückliches Jahr – im Haus tauchte eine junge Frau auf. Die
Familie kam langsam wieder auf die beine: es gibt ein haus, eine kleine
Hofwirtschaft, und zu hungern brauchen sie nun schon nicht mehr. Karl
Dawydowitsch beendet seine Buchhalterkurse in der Saratower Filiale. Von
1938-1939 arbeitet er als Kolchosvorsitzender, danach wird er Oberbuchhalter.
Das ganze Leben ist eine helle Freude: gute Arbeit, die Familie lebt in Harmonie
zusammen. Aber an einem klaren Junitag hing die schwarze Wolke des Krieges über
der Heimat. Und sogleich belam man all das zu fühlen, was dieses Wort für völlig
unschuldige Menschen mit sich bringt. Karl Dawydowitsch erfuhr als einer der
ersten von der Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet. Nachdem die
Familie Wachtel ihre kleinen Bündel mit Essen und Kleidung genommen hatte, ließ
sie alles hinter sich, was sie in vielen Jahren mit ihren schwieligen Händen
geschaffen hatte und verließ das geliebte Haus im Gebiet Saratow. Für die Frauen
war es ein wenig leichter: sie weinen und heulen und bringen so ihren ganzen
Kummer und Schmerz zum Ausdruck, aber die Männer müssen diesen schweren Schlag
mannhaft und tapfer ertragen. Aber dumpf schmerzt auch ihnen das Herz, der
Schmerz ist unerträglich! Es quält einen die Frage: warum, warum hat man jene
ohne Kuh, ohne Essen und Kleidung gelassen, die jahrelang schwer geschuftet,
sich nach und nach alles mühsam angeschafft haben, um es irgendwann einmal als
ihr Eigentum bezeichnen zu können, und jetzt – jetzt werden diese Menschen wie
Vieh auf Züge verladen und unter Begleitwachen, wie Verbrecher, fortgebracht,
ins ferne Sibirien, das seine neuen Bewohner düster empfängt. Aus Schira
schickte man Karl Dawydowitsch in die Budjonny-Kolchose. Man benötigte Leute,
die lesen und schreiben konnten, deswegen ernannte man ihn nach sechs Monaten
Feldarbeit zum Buchhalter. Und so arbeitete er im Dorf bis zu seiner Rente. Er
zog sechs bemerkenswerte Kinder groß und verstand es, durch sein Verhalten und
seinen Respekt, eine große, freundliche Familie zu schaffen.
Germina (Hermine) Iwanowna Newerdinowa
Wie alle Wolgadeutschen wurde auch sie in den Schirinsker Bezirk ausgesiedelt –
in das Dorf Vorpost. Im Dezember 1942 rief man sie ins Kontor und teilte ihr
mit, dass sie nun in die Trudarmee käme. Sie ging nach Haus und berichtete es
der Mutter; mit Tränen in den Augen nähte die Mutter ihrer 13-jährigen Tochter
ein Kleid und eine Decke und sammelte ein paar Lebensmittel für unterwegs. Und
dann verließ das Mädel sein Elternhaus. In Schira ließ man die Mobilisierten in
Waggons einsteigen, und der Zug brachte sie fort – weit weg von Zuhause. Hermine
kam in ein Übergangslager an der Station Jenisej. Von dort wurde sie in eine
Hilfswirtschaft geschickt. 6 km mußten sie durch tiefen Schnee zufuß laufen.
Anfangs arbeitete sie in der Holzfällerei, später züchtete sie Gemüse, dann
wurde sie zur Hühnerwärterin ernannt. Nach Kriegsende, im Jahre 1945, wurde
endlich der das Lager umgebende Stacheldraht entfernt, die Wachen abgeschafft;
man fing an, ihnen etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen, denn sie wußten, dass
sie sowieso aus dieser Gegend nicht fliehen konnten. Hungernd und frierend, an
den Füßen Schuhwerk mit Holzsohlen und mit Zeltstoff als Obermaterial. Von
solchen Schuhen konnte niemand warme Füße bekommen. Aber arbeiteten mußten sie.
Tausende lebten unter solchen Bedingungen, genau wie hermine. Als sie 19 Jahre
alt war, kam der Befehl zur Freilassung und das langersehnte Wiedersehen mit der
vor Sehnsucht vergehenden Mutter konnte endlich stattfinden.
Raisa Filippowna Schenknecht (Schönknecht)
Geboren 1910. Wie alle personen deutscher Nationlaität wurdesie aus dem gebiet
Saratow in die Budjonny-Kolchose ausgesiedelt. Die Familie machte eine
schreckliche Hungersnot durch. Nur gut, dass der Ehemann in einer Mühle tätig
war. Raisa brint ihm das Mottagessen und läßt ein wenig Getreide mitgehen; das
zermahlenen sie mit einem Mühlstein und backen daraus dicke Fladen. Einmal wurde
sie mit demKorn aufgegriffen und wegen 6 kg vor Gericht gestellt. Sie wurde zu 2
Jahren Haft verurteilt. Das kleine Töchterchen war zu der Zeit gerade 2 Monate
alt, aber das interessierte den Richter überhaupt nicht. Dank der Tatsache, dass
sie auf ihrem weiteren Weg guten Menschen begegnete, saß sie insgesamt nur 11
Monate ab ...“10
Im Bestand des Zentralen Staatsarchivs, Fond 882, werden die persönlichen Erinnerungen von Andrej Iwanowitsch Wagner aufbewahrt, einer der Organisatoren der Gesellschaft „Wiedergeburt“ in Chakassien. In seinen Memoiren schreibt er:
„Ich wurde im Oktober 1924 in der Ortschaft Balzer, Kanton Kamenka, ASSR der Wolgadeutschen geboren.
Ich wuchs in einer großen deutschen Familie auf. Mein Vater hieß Johann, mein Name war Heinrich. Und viel später, in der Trudarmee, schrieben sie meinen Namen ins Russische um – Andrej Iwanowitsch.
Unser Dorf war sehr groß, mit langen, geraden Straßen. Das ganze Dorf sah sehr sauber aus. Damals war es in den deutschen Familien Tradition, jeden Abend unbedingt die Straße vor dem eigenen Haus zu fegen. In den Straßen sah man niemals Schweine, Hühner, Gänse; es schickte sich nicht sie auf die Straße hinauszulassen. Und jeder Viehbesitzer trieb seine Kühe bis ans Ende des Dorfes und nahm sie dort auch wieder in Empfang.
Unser Vater war ein einfacher Kolchosarbeiter; er war Tischler von Beruf. Im November 1937 wurde er zusammen mit seinem bruder verhaftet und kehrte nie wieder nach Hause zurück. Natürlich wußten wir nicht, wohin sie ihn brachten und warum. Aber viele holten sie damals aus dem Dorf fort, und sie verschwanden spurlos. Über das Schicksal des Vaters war lange Zeit nichts bekannt. Ich schrieb Anfragen an verschiedene Behörden, eine Antwort bekam ich nicht, und erst 1963 erhielt ich die Sterbeurkunde des Vaters, in der die Spalten „Todesursache“ und „Todesort“ einfach durchgestrichen waren. Erst 1997 gelang es uns in Erfahrung zu bringen, dass er wegen „Agitation gegen die Kolchose und Verbindungen zu Deutschland“ verhaftet worden war.
Am 18. November fand die Gerichtsverhandlung statt, und am 21. November wurde er erschossen.
Nach der Verhaftung des Vaters blieb unsere Mutter mit 8 Kindern allein zurück. Drei von ihnen starben früh, während der Hungersnot. Und 1939nahm mich meine älteste Schwester bei sich auf, um der Muitter deas Leben wenigstens ein wenig zu erleichtern. So geriet ich in den Kaukasus, in die Region Krasnodar, wo es einen deutschen Bezirk gab. Anfangs hieß er Aigenfeld, aber schon zu meiner Zeit wurde er in Gulkewitschi umbenannt.
1941 wurden die Deutschen aufgrund des bekannten Ukas von ihren Ländereien vertrieben. Am 6. Oktober wurden wir alle auf Fahrzeuge verladen und zur Bahnstation gebracht. Dort mußten wir in „Kälber“-Waggons einsteigen und wurden dann weitertransportiert. Um uns herum Wachmannschaften mit Gewehren; ein ganzer Wagen von unserem 60 Waggons zählenden Zug war ausschließlich von Wachsoldaten belegt. Niemand wußte, wohin wir fuhren. Es war Krieg, auf den Schienen der Eisenbahnlinie waren viele militärische Züge unterwegs; deswegen stand unser Zug an jeder Bahnstation zwei bis drei Tage. Und die Bedingungen in den Viehwaggons waren unmenschlich. In jedem waren 15-20 Familien untergebracht – Männer, Frauen, Kinder. Toiletten, geschweige denn Wasser, gab es in den Waggons nicht. Jeder aß, was er mitgenommen hatte. ls sie uns aussiedelten, erlaubten sie allen 20 kg Gepäck und einen Essensvorrat für einen Monat mitzunehmen. Die Leute schlachteten Hühner, die sie mit zerlassenem Speck bedeckten, damit sie nicht verdarben; außerdem hatten sie Brot getrocknet. Während der langen Zugaufenthalte kochten sie sich Essen. So waren wir ganze eineinhalb Monate unterwegs. Am 20. November, nachts, traf der Zug an der Bahnstation Tschany, im Gebiet Nowosibirsk, ein. Dort wurden wir sogleich von Fahrzeugen, Pferden, Schlitten in Empfang genommen. Die Kolchosvorsitzenden gingen durch die Waggons – auf der Suche nach Spezialisten. Man hörte Fragen wie: „Wer ist Traktorist?“ – „Gibt es hier einen Schmied?“ – „Ist ein Zimmermann unter euch?“ – „Wir fahren in unsere Sowchose!“. So gelangten wir in die Sowchose 288 auf dem Zentralgehöft. Wir wurden in Familien untergebracht, kostenlos verpflegt, bis man eine Arbeit für uns hatte; da arbeiteten wir dann fürs Essen. Ich kann mich noch gut daran erinenrn, dass wir alle in ganz leichter Kleidung dort ankamen, in Schnürschuhen und kurzen Jacken. Aber der Winter war schon da. Danke den menschen, die uns halfen, die uns einkleideten und uns wattierte Hosen gaben. Aber viele Monate lang fürchteten sie uns, zeigten sich menschenscheu. Der Krieg gegen die Deutschen war doch im Gange, und in den Zeitungen schrieben sie, dass die Deutschen Hörner und Schwänze haben. Hinter unserem Rücken wurde häufig geflüstert; die Leute wunderten sich, dass wir überhaupt keine Hörner und Schwänze hatten. Später ging es dann einigermaßen, sie gewöhnten sich daran, dass wir ganz normale Menschen waren. Und außerdem wunderten sie sich, dass wir Russisch konnten. Alle Deutschen, die im Kaukasus gelebt hatten, sprachen Russisch. Und in den Unterhaltungen wurde sogleich ein gravierender Unterschied spürbar – in der Familie, bei der wir wohnten, und auch überall um uns herum, wurde ohne Ausnahme geflucht. Wir haben uns so geschämt, bei uns im Kaukasus war Fluchen ganz ungehörig gewesen.
Im Februat 1942 wurde ich, wie alle deutschen Männer, in die Trudarmee mobilisiert. Zu jener Zeit war ich 17 Jahre alt. Man brachte uns in die Region Swerdlowsk, ins Isdelsker Erziehungs- und Arbeitslager, aus dem man die Gefangenen abtransportiert hatte. Aber für uns wurde es ebenfalls zu einer Lagerzone: alle paar Schritte gab es einen Wachturm, Wachen mit Maschinenpistolen. Dort verbrachte ich 5 Jahre. Es waren sehr schwere Jahre, jeden Tag dieser Kampf ums Überleben. Als sie uns ins Lager brachten, waren dort 6000 Deutsche, hauptsächlich aus dem kaukasus, als wir es verließen, waren davon noch 800 übriggeblieben; alle anderen waren durch Hunger, Kälte oder Krankheiten umgekommen. Die meisten Leute starben an Ruhr. Ich weiß das deswegen so gut, weil ich die ersten fünf Monate im Lager als „Militärarzt“ – als Sanitäter in der Baracke arbeitete. Ich mußte die Leichen hinaustragen. Jeden Tag starben 15-20 Mann.
Es kam vor, dass von zuhause ein Paket kam, aber es wurde einem nicht ausgehändigt. Si teilten einem lediglich mit, dass jemand ein Paket geschickt hätte und dass man sich den inhalt nach und nach bei der Lagerleitung abholen könnte. Da bekommt einer also ein Paket, und die Lebensmittel darin sind schon alt oder die aus der mitgeschickten Kleie gekochte Suppe wird überhaupt nicht gar – und schon bekommst du die Ruhr. Sie starben auf unterschiedliche Weise. Manche weinten, einige riefen nach ihren Kindern, einige hüllten sich in Schweigen. Wenn man an Ruhr erkrankt ist, hat man einen quälenden Durst; und so waren sie bereit mir, dem Sanitäter, für einen Schluck Wasser ihr letztes Hab und Gut zu geben: ihre Brotration, eine Anzug aus der Zeit vor dem Krieg.
Nach meiner schrecklichen Tätigkeit als „Militärarzt“ kam ich zur Holzfällerei. Wir mußten die Bäume entasten und die Rinde schälen, damit man daraus Eisenbahnschwellen herstellen konnte. Wenn man aus irgendeinem Grunde nicht zur Arbeit ausging, steckten sie einen in die Arrestzelle. Die Bedingungen waren dort so schlecht, dass viele Deutsche alle möglichen Verbrechen verübten. Dann konnte man eine Haftstrafe erhalten und ganz normal eingesperrt werden. Dort wurde man besser verpflegt und bekam auch Schuhe; dort ging es weniger streng zu. Auch ich habe mehrmals versucht, eingesperrt zu werden, aber es gelang mir nicht.
1946 wurde ich aus der Trudarmee aufgrund von Invalidität demobilisiert: ich hatte mir eine Lungentuberkulose eingefangen.
Damals bekam ich anstelle eines Passes und eines Komsomolzen-Buchs eine Bescheinigung, in der man meinen Namen als Andrej Iwanowitsch vermerkt hatte. Als ich versuchte zu erfragen, weshalb man meinen Namen geändert hatte, erhielt ich zur Antwort: „Im Russischen gibt es solche Namen nicht, freu dich lieber, dass sie dich gehen lassen“.
In wattierten weißen Hosen und Fußlappen kehrte ich nach Tschany zurück. Eine Witwe nahm mich bei sich auf, damit ich für sie Sachen transportierte; sie gab mir Filzstiefel und einen Wintermantel. So lebte ich einige Zeit in ihrer Familie, schlief auf dem russischen Ofen.
Ich konnte mich nach dem Lageraufenthalt ein wenig aufpäppeln. Und ich war jung, wollte mich mit Mädchen treffen, Freundschaft schließen. Ich kam einmal in den Klub, dort hatte sich die Jugend versammelt; sie spielten auf der Balalajka und tanzten. Ich setzte mich auf eine Bank, nahm meinen Tabaksbeutel heraus und merkte gar nicht, dass ich plötzlich ganz allein auf der Bank saß, alle hatten reißaus genommen, so zerlumpt sah ich aus.
Später arbeitete ich als Tankwart in der Traktorenbrigade, und um mich irgendwie einkleiden zu können, tauschte ich getreide gegen Schuhwerk und Hosen. Und nicht nur ich! Alle machten das, um zu leben.
1946, nach zahlreichen Anfragen, fand ich endlich meine Familie wieder. Es stellte sich heraus, dass sie im Turuchansker Bezirk, in der Region Krasnojarsk, lebten. Das war bereits der dritte Ort, an dem sie zwangsangesiedelt worden waren. 1941 hatte man sie aus dem Gebiet Saratow in den Atschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk ausgesiedelt, anschließend siedelten sie in den Bezirk Kuragino um und erst dann in den Bezirk Turuchansk. Und so erging es nicht nur unserer Familie, sondern auch viele andere mußten immer wieder an einen anderen Ort umziehen. Die Deutschen wurden immer dorthin geschickt, wo gerade Arbeitskräfte nötig waren. Natürlich wollte ich zu meiner Mutter und meinen Brüdern fahren. Aber die Kommandantur gab dazu nicht ihre Einwilligung, und so versuchte ich es auf eigene Faust. Für eigenmächtiges Entfernen vom Wohnort bekam man damals 20 Jahre Zwangsarbeit aufgebrummt. Zweimal holten sie mich aus dem Zug, aber da die Abfahrtgar nicht erst zustande gekommen war, kam ich ziemlich glimpflich mit 10 bzw. 15 Tagen Arrest davon. Aber beim dritten Mal schaffte ich es. Ich gelangte bis nach krasnojarsk, von dort mit dem Dampfer bis Turuchansk. Und von Turuchansk mußte ich noch 150 km auf einem Kutter fahren. Ich bat darum, vom Kahn aus meine Verwandten per Funk über meine Ankundt zu verständigen. Neun Jahre waren seit der Zeit vergangen, als wir voneinander getrennt worden waren, und deswegen erkannte ich auch die Geschwister gar nicht, die gekommen waren, um mich in Empfang zu nehmen. Eine Woche später kamen mit demselben Kutter Leute aus der Sonderkommandantur, um den Deserteur, also mich, zu suchen. Der Kommandant ließ mich zu sich ins Kontor kommen; er sagt: „Nach dem Gesetz müßten wir dich jetzt für 20 Jahre einbuchten, aber nun bist du ja schon bei deinen Eltern eingetroffen; kannst hier bleiben, von hier gibt es sowieso keine Möglichkeit irgendwohin wegzulaufen“. Und das war auch tatsächlich so; hier war man von der übrigen Welt vollkommen abgeschnitten. Überall Mückenschwärme und Stechfliegen - auf jedem Zentimeter. Die Sonne zeigte sich selten, lang waren die Polarnächte.
So lebten wir dann auch bis zu dem Zeitpunkt, als es uns endlich gestattet wurde, an einen beliebigen Ort unserer Wahl umzuziehen. Zu der Zeit heiratete ich Klara Bailman (Beilmann), wir ließen uns standesamtlich registrieren, allerdings unter der Bedinung, daß meine Frau nicht meinen Nachnamen annahm. Als sie es einem dann erlaubten den Nachnamen zu ändern, erhielten wir eine zweite Heiratsurkunde. So kommt es, daß wir zwei Dokumente über unsere Eheschließung besitzen. 1953 wurde unser Sohn geboren, 1955 unsere Tochter. Und 1956 machten wir uns auf den Weg zur Mutter und den Brüdern auf, die in der „Juschnij“-Sowchose, im Bezirk Kuragino, lebten. Das ist ein sehr großes Dorf, ganz im Grünen gelegen. Es befindet sich zwischen den beiden Flüssen Irba und Tuba, dort gibt es überhaupt keinen Wind, alles, was man anpflanzt, wächst wunderbar. Die Tomaten reifen dort direkt an der Pflanze (d.h. man pflückt sie nicht grün und läßt sie dann an einem geeigneten Ort nachreifen; Anm. d. Übers.), und sie sind dermaßen groß, daß die Leute aus sämtlichen umliegenden Dörfern zu uns gefahren kamen, um sie zu kaufen.
Ich arbeitete als Kassierer beim Arbeiterkomitee, aber auch als Tischler. Noch in Tschany, und später auch in Turuchansk begann ich mich mit „Politik“ zu befassen. Ich schrieb nach Moskau – über die Ungerechtigkeiten, die den Deutschen widerfahren waren, und wurde dann freiberuflicher Korrespondent der Zeitung „Neues Leben“.
Ich fuhr extra nach Abakan, um mit F. Schessler zusammenzutreffen – einem der Mitglieder der sowjetdeutschen Delegation, die nach Moskau gefahren waren, um die Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen sowie die vollständige Rehabilitation der Sowjetdeutschen zu erwirken. Monatelang hatten sie in Moskau im Hotel „Morgenröte“ gewohnt, hatten sich darum bemüht, ein Treffen mit Breschnjew zu erreichen. Und das war die Zeit, wo sie mir eine öffentliche Aufgabe stellten: ich sollte Unterschriften für die Wiederherstellung der Autonomie und jeweils 1 Rubel für die Delegation sammeln. Zu uns nach Kuragino kam der Leiter der Propaganda-Abteilung der Zeitung „Neues Leben“ Poljanskij. Ich war mit dem Korrespondenten der Zeitung Kurt Widmaier bekannt, er hatte sogar schon bei mir zuhause übernachtet. Ich bin noch im Besitz einer Fotografie, die K. Widmaier zusammen ,it A. Sacharow zeigt. Nach Widmaiers Worten hat A. Sacharow sehr viel für die Deutschen getan.
Ich organisierte die Gesellschaft der Deutschen „Wiedergeburt“ in Kuragino, gehörte zu den Organisatoren von „Wiedergeburt“ in Minusinsk. Damals begannen sich Leute vom KGB für mich zu interessieren. Zweimal kamen sie mit dem Auto aus Abakan angefahren: „Was ist das für ein Politiker, der da in Juschnij wohnt?“.
1984 zog ich mit der Familie nach Abakan um. Auch dort fing ich an, eine deutsche Gesellschaft zu organisieren. Ich konnte erreichen, daß die ehemaligen Trudarmisten im Laden genauso Lebensmittel bekamen, wie die Kriegsteilnehmer. Ständig befaßte ich mich mit der Rehabilitation von Deutschen, bis 1997 arbeitete ich in der Stadtverwaltung als verantwortlicher Sekretär der Rehabilitationskommission“.11
Im Bestand des Zentralen Staatsarchivs N° 882 existieren Dokumente des verdienten Lehrers der Russischen Föderation Iwan Nikolajewitsch Bellendir – Anträge, in denen er darum bittet, ihn aus der Trudarmee zurückzuholen und ihn wieder seiner pädagogischen Arbeit nachgehen zu lassen:
„Gesuch des I.N. Bellendir an die Schulabteilung des Zentralkomitees der
Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) über die Rückkehr aus der
Trudarmee an den pädagogischen Arbeitsplatz.
10. Mai 1946
Stadt Osinniki
Ich wende mich an das ZK der WKP (B) mit einer persönlichen Bitte – als
Kommunist und Speziallehrer. Aufgrund der Mobilisierung in die trudarmee wurde
ich im Juni 1942 zum Arbeiten in die Stadt Osinniki, Gebiet Kemerowo geschickt,
und zwar zun Arbeitseinsatz im „Molotower Kohletrust“ des
„Kusbas-Kohlekombinats“, wo ich bis heute im „Kapitalnaja“-Schacht tätig bin.
Im Jahre 1930 beendete ich die Staatliche Universität Moskau mit anschließender Aspirantur in dialektischem und historischem Materialismus im Jahre 1933. Von 1929 bis 1934 war ich als Lehrer und Dozent für Philosophie an der Moskauer Universität 2 (später Staatliches Pädagogisches Institut Moskau) tätig. 1934 wurde ich durch das Zentralkomitee der WKP (B) an die Höhere Bildungseinrichtung der Deutschen Republik entsandt, da ich die literarische deutsche Sprache beherrschte.
Außerdem verlieh mir das Volkskomitee für Aufklärung der RSFSR den Titel eines Mathematiklehrers an der siebenklassigen Mittelschule. Bis 1942 arbeitete ich ununterbrochen als Lehrer an höheren und mittleren Lehreinrichtungen. Bereits nach der Umsiedlung nach Sibirien, die gemäß dem Ukas vom 28.08.1941 erfolgte, war ich als Lehrer für Mathematik und Parteiorganisation in der Ortschaft Tascheba im Ust-Abakansker Bezirk, Autonomes Gebiet Chakassien, tätig.
In den schwierigen Kriegsjahren scheute ich mich vor keinerlei körperlicher Arbeit, und als sich in unserem Schacht im Jahre 1943 das Problem mit den Arbeitskräften ganz besonders verschärfte, ging ich auf Anraten der Parteiorganisation sogar untertage arbeiten und konnte dafür sogar fast meine gesamte Baubrigade gewinnen. Eineinhalb Jahre arbeitete ich untertage, obwohl ich eigentlich aufgrund meines gesundheitszustandes nicht für derartige Schachtarbeiten geeignet bin. Derzeit bin ich als Sekretär im 3. Schachtrevier tätig; da ich der deutschen Nationalität angehöre, stehe ich unter der Aufsicht der Sonderkommandantur der Stadt Osinniki und besitzte nicht das Recht, mich außerhalb der Stadtgrenzen frei zu bewegen.
Ein paar Worte über meine Stellung innerhalb der Partei. Ich wurde 1906 im Gouvernement Samara, Nikolajewsker Landkreis, Dorf Mannheim, geboren.
Im November 1925 wurde ich als Komsomolze für den Parteieintritt empfohlen und als Kandidat der WKP (B) der Marxstädter Parteiorganisation angenommen. Im Mai 1928 wurde ich vom Chamownitschesker Bezirkskomitee als Parteimitglied der WKP (B) aufgenommen. Mein Studium und meine pädagogischen Tätigkeitenhabe ich stets mit einer aktiven Teilnahme am Leben unserer Partei verbunden, angefangen mit meiner Arbeit als Sekretär der primären Parteiorganisation, bis hin zum Mitarbeiter des Gebietskomitees der WKP (B), dem Leiter einer Abteilung des Zentralkomitees der WKP (B) beim Deutschen Gebietskomitee, bis hin zur Ausführung einzelner Aufträge des Regionskomitees und des Zentralkomitees der WKP (B). Eine Unterbrechung meiner Arbeitarbeit fand von 1938 bis 1940 statt, als ich nach zehnmonatiger Untersuchungshaft und einer schweren Erkrankung erst im Februar 1940 nach Moskau fahren konnte, um dort im Zentralkomitee der WKP (B) die Frage meines Verbleibs in der Partei zu regeln.
Aber auch in den allerschwierigsten Jahren meines Parteilebens, als ich mich in der Lagerzone befand und nicht die Möglichkeit besaß, an den Parteisitzungen teilzunehmen (1943-1944), wie auch gegenwärtig, habe ich niemals die Verbindung zu den Parteiorganisationen in der Schachtanlage verloren, sondern habe stets – und das ist auch jetzt noch der Fall – jene kleinen Parteiaufträge erledigt, die für mich unter Berücksichtigung meiner derzeitigen Lage zugänglich sind.
Ich wende mich mit der Bitte an das Zentralkomitee der WKP (B), mir dabei zu helfen, das Recht für die Ausreise in die Stadt Abakan, Region Krasnojarsk, zu erhalten.
Ich möchte gern zu meinen pädagogischen Tätigkeiten zurückkehren, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass ich mit dieser Art von Arbeit der Partei und dem Staat viel mehr geben kann, als es jetzt der Fall ist.
Das Recht oder die Erlaubnis zur Abreise in die Stadt Abakan erbitte ich deswegen, weil dort mein kranker Bruder lebt , er ist Arbeitsinvalide, ein ehemaliger Lehrer, der in vollem Umfang meine Unterstützung benötigt, denn er kann aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr arbeiten und lebt allein, und von hier aus kann ich ihm die notwendige Hilfe nicht erweisen.
Iw. Bellendir“12
„Gesuch des Iwan Nikolajewitsch Bellendir an das Ministerium für das höhere Schulwesen in der UdSSR, Genossen Kaftanow, über die Wiederaufnahme der pädagogischen Arbeit.
nicht später als d. 23.Juli 1946
Osinniki
1933 beendete ich die Aspirantur in dialektischem und historischem Materialismus am Staatlichen Pädagogischen Institut in Moskau mit meiner Doktorarbeit über das Thema: „Die Lehre des Marxismus-Leninismus über das konkrete Verständnis“.
Von 1929 bis 1937 arbeitete ich als Lehrer für dialektischen Materialismus an höheren Lehranstalten in Moskau und anschließend in der Stadt Engels in der ASSR dr Wolgadeutschen, wohin ich vom ZK der WKP (B) beordert wurde, weil ich die deutsche Literatursprache fließend beherrschte.
1937 wurde ich von der Arbeit am Deutschen Pädagogischen Institut freigestellt und aus den Reihen der WKP (B) wegen angeblicher „Beschmutzung des Instituts durch fremde Elemente“ ausgeschlossen. Damals arbeitete ich als Leiter des Lehrstuhls für Marxismus-Leninismus und als Sekretär des Parteikomitees am Deutschen Pädagogischen Institut. Eine schwere Krankheit hinderte mich daran, nachdem das ZK der WKP (B) meine Parteirechte wiederhergestellt hatte, zur wissenschaftlichen Lehrtätigkeit zurückzukehren, und ich war dann bis zum Moment der Umsiedlung nach Sibirien im Jahre 1941 als Direktor an der Mittelschule N° 7 tätig und hielt nur sporadisch auf Zusammenkünften von Fernstudenten, auf Seminaren des Parteiaktivs, usw. Vorlesungen in meinem Spezialgebiet.
Im Rahmen der Mobilisierung in die Trudarmee wurde ich zum Arbeiten in die Kohleindustrie zur Verfügung des „Molotow-Kohle-Trusts“ in die Stadt Osinniki, im Gebiet Kemerowo, geschickt. In den schwierigen Jahren des Krieges meldete ich mich als Freiwilliger für die Schachtarbeit.
Jetzt übe ich eine rein technische Tätigkeit aus, für die man jeden x-beliebigen Menschen mit siebenjähriger Schulbildung nehmen kann.
Unter Berücksichtigung meiner langjährigen Erfahrung durch meine Arbeit an der Hochschule, möchte ich sie darum bitten, mir die Möglichkeit zu geben, zu einer Tätigkeit auf zurückzukehren, die meinem Spezialgebiet entspricht. Besonders spezialisiert bin ich auf dem Gebiet der Logik; außerdem könnte ich eine Fremdsprache an der Oberschule unterrichten.
Ich bin Bürger der UdSSR, bin im Gebiet Saratow (ASSR der Wolgadeutschen) geboren, von deutscher Nationalität, Mitglied der WKP (B) seit 1929.
Bitte benachrichtigen Sie mich über Ihre Entscheidung unter folgender
Anschrift:
Stadt Osinniki, .......
I.N. Bellendir“13
Schlußbemerkung
Auf diese Weise spiegelten die Repressionen gegenüber den Deutschen in Rußland die nationale Politik des Staates wider.
Die Geschichte der Deutschen stand in engemZusammenhang mit den Schicksalen anderer repressierter Völker unseres Landes: den Tschetschenen, Inguschen, Krim-Tataren u.a., die gewaltsam von ihren Territorien verschleppt wurden und Einschränkungen bei der Verwirklichung aller Rechte und Freiheiten ausgesetzt waren.
Eine Besonderheit im Rahmen der Repressionsmaßnahmen gegen die Deutschen war, dass sie einen ausschließlich allumfassenden Charakter ebsaßen.
Jede deutsche Familie war der Zwangsaussiedlung und später der Erfassung als Sonderansiedler ausgesetzt.
60% aller mobilisierten Männer und Frauen starben durch Hunger und Kälte oder an den Folgen der grausamen Existenzbedingungen.
Nach 1948 war das Regime der Sonderansiedlung für die Deutschen durch Strafmaßnahmen gekennzeichnet – für eigenmächtiges Entfernen (Flucht) vom Zwangsansiedlungsort wurden sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen – 20 Jahre Zwangsarbeit.
Die Aufhebung der Meldepflicht und die Freilassung der Deutschen und ihrer Familienmitglieder aus der administrativen Aufsicht der MWD-Organe vollzog sich erst nach der Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955. Aber die Rückkehr an den Ort, von dem sie ausgesiedelt worden waren, wurde den Deutschen erst ab 1972 gestattet.
Trotz aller Bemühungen seitens der Deutschen, die Deutsche Autonomie an der Wolga, die ASSR der Wolgadeutschen, wiederherzustellen, wurde daraus nichts. Den Deutschen gingen auch ihre deutsche Sprache, ihre Sitten und Gebräuche und ihre Tradition verloren.
Infolgedessen streben viele Deutsche seit Anfang der 1990er Jahre und bis in die heutige Zeit danach, in ihre historische Heimat Deutschland zurückzukehren.
1. Buch zur Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Republik
Chakassien. Stadt Abakan. 2000 – Bd. 2.
2. Zeitschrift „Die Deutschen in Rußland und der GUS 1963-1997“,
Moskau-Stuttgart, 1998, S. 4
3. Ebenda, S. 5.
4. Nachrichten des Obersten Sowjets der UdSSR, 1941, N° 38.
5. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 2, Verz. 1, Akte 808, Blatt 317.
6.“... die Deutschen in Arbeitskolonnen zu mobilisieren... J. Stalin, gesammelte
Dokumente, Moskau, 2000, Seiten 114-115.
7. Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten, Moskau, 1993, Seiten
172-173.
8. Ebenda, S. 138.
9. S.N. Sjablizewa. Die Geschichte der Deutschen in Chakassien in Dokumenten //
Materialien der wissenschaftlich-praktischen Konferenz „Archive und
Zeitgeschehen“, Stadt Abakan, 1998, S. 49.
10. Archivabteilung der Verwaltung des Schirinsker Bezirks, Fd. 67, Verz.1, Akte
75, Blatt 1-11. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 1, Akte 49,
Blatt 1-5.
12. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 4.
13. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 5.
1. Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten. – Moskau, 1993.
2. Aus der Geschichte der Deutschen in Kasachstan. – Moskau, 1997.
3. „... die Deutschen in Arbeitskolonnen zu mobilisieren... J. Stalin“. –
Moskau, 2000.
1. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 4.
2. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 34, Blatt 5.
3. Fond des Zentralen Staatsarchivs. Fd. 882, Verz. 1, Akte 42.
4. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 49, Blatt 1-5.
5. Fond des Zentralen Staatsarchivs, Fd. 882, Verz. 2, Akte 66.
1. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Republik
Chakassien. – Abakan, 1999. – Bd. 1.
2. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Republik
Chakassien. – Abakan, 2000. – Bd. 2.
3. Materialien der wissenschaftlich-praktischen Konferenz „Archive und
Zeitgeschehen“. – Abakan, 1998.
4. Deutsche in Rußland und der GUS 1763-1997. – Moskau, 1998.
5. W.N. Tuguschekowa, S.W. Karlow. Repressionen in Chakassien. – Abakan, 1998.