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Ein Dasein ohne Vater

Mit der Stalinistischen Pädagogik bin ich nicht nur vom Hörensagen bekannt. ich habe sie am eigenen Leib erfahren, als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war. In einer tiefen Herbstnacht des Jahres 1937 kamen sie, um meinen Vater zu verhaften, und wenig später auch zwei Onkel und der Großvater. Alle vier wurden ohne vorausgehendes Ermittlungsverfahren nach dem §58 als Volksfeinde verurteilt. Was für eine soziale Gefahr stellten diese Menschen für die Gesellschaft dar? Der Großvater hatte die Leute sein Leben lang mit Schuhen versorgt, er war ein erstklassiger Schuhmacher. Seine Söhne – Weichensteller bei der Eisenbahn, Pferdepfleger und Traktorfahrer. Nicht einmal einem Wahnsinnigen wäre der Gedanke gekommen, solche Menschen als Volksfeinde zu bezeichnen, aber Josef Wissarionowitsch tat es, und er brachte sie so hinter Schloss und Riegel, dass kein einziger von ihnen lebend nach Hause zurückkehrte.

Na ja, und wie es den Familien der „Volksfeinde“ erging, wäre für die Genossen W. Wylkow und S. Gladysch, die Stalin beweinten, sehr nützlich gewesen zu erfahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach sahen sie nicht all die Tränen der Millionen Witwen, die ohne Ehemänner zurückgeblieben waren und der verwaisten Kinder, die nun ohne Väter aufwuchsen – oder sie wollten sie nicht sehen.

In der Schule verheimlichte ich, dass der Vater verurteilt worden war, ich sagte einfach, dass er gestorben sei.

Und im Krieg. Da herrschte Mangel an allem. Ich kann mich noch gut an mein Schwesterchen erinnern, das weinend aus der Schule heim gelaufen kam. Für die Tochter eines „Volksfeindes“ ziemte es sich nicht, einen Sitzplatz zu beanspruchen. Im Frühjahr, sobald der Schnee geschmolzen war, sammelten wir mit der Mutter die vom Herbst auf den Feldern verblieben Ähren auf. Und es kam nicht selten vor, dass die Feldaufseher uns unsere Ausbeute einfach wegnahmen. Es lohnte sich nicht bei der Familie eines „Volksfeindes“ das abgemähte Heu zu konfiszieren – und es gab auch niemanden, der uns beschützte.

Ehrlich gesagt – wir beneideten die Kinder, deren Väter an der Front gefallen waren. Sie erhielten wenigstens eine Rente, und außerdem benahmen sich die Leute ihnen gegenüber ganz anders. Uns dagegen erstickten sie mit ungerechtfertigt hohen Steuerlasten.

In seinen Veröffentlichungen spricht Genosse Bylkow davon, dass, wenn eine in den Ural evakuierte Fabrik nach 3-4 Monaten ihre Erzeugnisse für die Front lieferte, dann wäre das ein Produkt der Stalinistischen Pädagogik. Ich würde so sagten: wenn Stalin anstelle unüberlegter Repressionen alles für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes getan, menschliche Ressourcen geschont, das talentierte Kommandopersonal der Roten Armee aufrechterhalten und vergrößert hätte, dann wären Hitlers Faschisten wohl kaum in unser Territorium eingefallen. Zumindest wäre die ganze Angelegenheit nicht weiter als bis in die Grenzgebiete gegangen. Die Tragödie des Krieges – das ist die wahre Stalinistische Pädagogik.

Die Stalinisten rufen uns dazu auf „nicht das Alte wieder aufzuwühlen“, nicht von den Verbrechen des Stalinismus zu reden. Ich persönlich erkläre: ich habe meinen Söhnen erzählt, wo ihr Großvater ist, ihr Urgroßvater, dessen Söhne und wer für ihren Tod verantwortlich ist. Ich habe sie damit beauftragt, auch ihren Kindern von der Tragödie des Volkes zu erzählen. Unsere Nachfahren sollen an die Vergangenheit zurückdenken, damit ihre verhängnisvollen Fehler nicht noch einmal begangen werden.

N. Wolosnikow, Direktor der Kunstschule
Stadt Ujar, Region Krasnojarsk

„Iswestija“. Herbst 1988


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