Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Dorthin gibt es keine Rückkehr

Zum tragischen Symbol einer unwiderruflich vergangenen Epoche wurde diese Bahnlinie, die ins Nirgendwo führt.

Wir würden eine weite Strecke zu fahren haben, und deswegen machten wir uns schon früh auf den Weg – um sechs Uhr morgens. Es war hell, still und ziemlich einsam. Zwanzig Minuten zuvor hatte es heftig zu schneien begonnen. Und zwar so stark, dass man die Trasse nach zehn Metern bereits aus den Augen verlor, und im Seitenspiegel spiegelten sich die leuchtenden Scheinwerfer eines weiteren „BelAs“ (Fahrzeug des Weißrussischen Automobil-Werks“; Anm. d. Übers.). Ich wusste schon: über die Winterstraße schicken sie in der Regel nicht weniger als zwei Fahrzeuge. Von der Trasse abbiegen und mutterseelenallein die Orientierung in der Tundra verlieren oder auf halbem Weg steckenbleiben – ist eine wenig reizvolle Angelegenheit, auch wenn wir bereits Ende April haben. Viktor, der Fahrer, fing an zu schimpfen, kaum dass der Schnee gefallen war. Mit jedem weiteren Kilometer, so schien es, wurde er noch wütender.

Sobald das Auto in die kahle, nicht von Wald geschützte Weite hinausgekrochen war, fiel der Wind mit der Besessenheit eines Verrückten über die Fahrerkabine des „BelAs“ her und brachte ihn dadurch ins Schlingern und Rutschen. Die Straße schlängelte sich endlos hin, in ständigem Wechsel führte sie bergauf, dann wider bergab. Ich blickte schon gar nicht ehr auf die Uhr und zählte auch die Kilometer nicht mehr. Die Hoffnung darauf, dass ich heute nach Igarka gelangen würde, war so gut wie erloschen. Und, wie gewöhnlich in solchen Fällen, malte ich mir das Schlimmste aus.

Der Schneesturm endete genau so plötzlich, wie er begonnen hatte. In sechs Stunden hatten wir 80 Kilometer geschafft. Etwas weniger als die Hälfte hatten wir noch zurückzulegen.

Jäh öffnete sich vor uns die Bahnstrecke. Gerade wie ein Pfeil verlief sie durch die Tundra, eingefasst von kleinen Tannen und untersetzten Zirbelkiefern, und verlor sich irgendwo am äußersten Zipfel des Horizonts.

- Da ist sie, die „Stalinka“, - stieß Viktor hervor. – Jetzt wenigstens seitlich hinunterkullern! Bis ganz nach Sucharicha keine Gleise, keine Schwellen…

Er spuckte nicht aus, und ich klopfte nicht auf Holz. Fast augenblicklich sausten wir in das angetaute Gelände hinein. Nachdem der „BelAs“ ins Eis eingebrochen war, kratzte er kraftlos mit dem Fahrgestell über den Boden; der Motor heulte mit einem krächzenden Geräusch auf. Danach schütteten wir Schotter auf (den wir vorsorglich bereits im Dorf aufgeladen hatten) und Ketten eine Trosse an den zweiten „BelAs“. All das taten wir mit großer Sorgfalt. Nach einer Stunde Quälerei kroch das Fahrzeug endlich wie durch ein Wunder auf festen Untergrund. Um die verlorene Zeit nachzuholen, schossen wir vorwärts. Aber, wenn es nicht klappt… Das Relief der Straße verschmolz mit der Tundra, die Begrenzungslinien lösten sich auf und wurden verschwommen und trügerisch. Mit der Geschwindigkeit wich das Auto langsam nach links ab, stürzte mit der Front in den Sumpf, und der gesamte Rumpf drehte sich quer zur Trassenführung. Wir schimpften und fluchten alle gleichzeitig und sprangen von den Trittbrettern. Nun hieß es wieder ganz von vorn beginnen: Schotter auswerfen, Schnee abkanten, die Trosse anketten.

- Zum Teufel damit, - rastete Kolek, der Fahrer des zweiten „BelAs“ aus. – Lasst uns Tee kochen, ich kann nicht mehr.

Der Frost zog an. Es herrschten wohl nicht weniger als zwanzig Grad minus. Und das am Vorabend des 1. Mai.

- Warum bist du denn so wenig gastfreundlich, du große Transpolar-Eisenbahn-Magistrale, im alltäglichen Sprachgebrauch einfach “Stalinka” genannt? Ich wollte dich, das geheime Bauprojekt N° 503 des Jahres 1948 so gern anschauen. Einmal über diese traurig-tragischen Stätten der großen Vergangenheit gehen und fahren…“

***

Im Jahre 1949 waren diese nördlichen Gegenden dicht an dicht mit Lagern gefüllt. An ihnen hatte auch schon früher kein Mangel geherrscht: tausende Häftlinge errichteten damals das Norilsker Bergbau- und Metallhütten-Kombinat. Tausende Sonderumsiedler (hauptsächlich Bauern, die man gewaltsam aus ihren heimatlichen Dörfern herausgerissen hatte), erbauten den Hafen von Igarka und das Holzkombinat. Doch in jenem Jahr 1949 stand ein ganz besonderer, bislang nie gesehener „Aufbau des Kommunismus“ bevor, die dazu berufen war, eine Idee des Vaters aller Völker zu verwirklichen. Die Idee von einer transkontinentalen Eisenbahn-Magistrale, in ihrer Art ein Double der Nordost-Passage durch ganz Sibirien mit Fährübersetzung über die Bering-See, entstand bereits zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Später wurden die Pläne geändert. Die Strecke Salechard – Igarka (Länge 1263 Kilometer) sollte die erste große Etappe aus dem erdachten Projekt darstellen. Den Bahnbetrieb hätte ein ganzjähriger Abtransport von Erzeugnissen der Industrie-Stadt Norilsk garantieren sollen. Anschließend sollte die Bahnlinie durch Kolyma und Tschkotka führen , bis zum Tal der Flüsse Nischnaja Tunguska, Wilna, Aldan, Indigirka.

Mit Stalins Erlaubnis wurde das Bauprojekt N° 503 großzügig finanziert. Unfreie Menschen –politische Gefangene nach § 58 und Kriminelle – alle mit Haftstrafen von nicht weniger als 10-15 Jahren – wurden hier in völlig unorganisierter Weise und Anzahl abgeliefert.

Die neue Bahnlinie war als einspurige Strecke offenkundiger Pionierart gedacht. mit 28 Stationen – alle 40-60 Kilometer. Zur Überfahrt über die Flüsse Ob und Jenissei wurden im Ausland zwei Fähren bestellt. Die Trasse verlegte man durch die vereiste Einöde, die im ewigen Eis gefangen war. Im Winter 60 Grad minus, schreckliche Schneestürme. Im Sommer – Schmeißfliegen und Torfhügel. Alles wurde mit der Hand gebaut. Noch eine interessante Einzelheit. Für den Beginn der Bauarbeiten wurde eine allgemeine Trassen-Richtung gewählt. Den technischen Plan ließen sie erst 1952 bestätigen, als ein bedeutsamer Teil der Strecke bereits verlegt worden war. Der Arbeitsbetrieb der Züge von Salechard nach Nadym wurde im August 1952 eröffnet. Zur vollständigen Fertigstellung des Baus der Bahnlinie waren noch ein paar weitere Jahre erforderlich und … vielleicht eine neue Welle von Repressionen zur Sicherstellung frischer Arbeitskräfte.

Das Jahr 1953 veränderte jäh das Leben – nicht nur in Moskau, sondern auch im Polar-Gebiet. Das Bauvorhaben wurde eingestellt, die Lager liquidiert, die Menschen stürzten nach Hause zurück. Ganze Züge, Waggons, Gleise und Lokomotiven blieben auf der „Todes-Strecke“ zurück, wie sie wenig später in diesen Gegenden getauft wurde (heute wird nur ein unbedeutender Abschnitt dieser Schienenstrecke benutzt. Wenngleich die Frage über eine erneute Nutzung von Zeit zu Zeit wieder aufkommt. – N.S.). Genannt wird die Summe der unmittelbar durch den Bau der Transpolar-Bahn entstandenen Verluste: 42 Milliarden und 100 Millionen Rubel (nach der alten Währung). Und wie viele Menschenleben wurden in jener Wucht der Schneestürme vernichtet, wie viele Schicksale verstümmelt?! Wer führt darüber Buch? Es gibt keinen einzigen Buchhalter auf dieser Welt, der all das berechnen könnte.

Aus dem Bericht des Hubschrauber-Piloten W.P. Sokol: „Eine trübselige Angelegenheit – durch die verlassenen Lager zu gehen. In jeder Baracke gab es Verstecke. Hinter jedem Brett konnte man Briefe von Gefangenen finden. In diesen Briefen standen Dinge, die also nicht weitergegeben wurden. Ich erinnere mich, dass man ein Kästchen mit Briefen eines politischen Gefangenen entdeckte. Zwölf Jahre lang schrieb er jede Woche einmal nach Hause. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist und wieso diese Briefe alle beisammen sind. Oder ob der Häftling sie selber in der Hoffnung aufbewahrte, den Menschen eines Tages zu berichten, oder ob es jemand von der Lagerleitung war, ein Liebhaber von Geschichten in Briefform, der schlicht und ergreifend diesen Roman in Briefen gesammelt hatte“.

Der Ehrenbürger der Stadt Igarka Leopold Antonowitsch Baranowskij (der 1940 als 14-jähriger Halbwüchsiger in Sonderansiedlung am Ufer des Jenissei geriet) arbeitete beim Industriekombinat. Er behielt zahlreiche namhafte Ärzte und Wissenschaftler, Leiter großer Industrieunternehmen im Gedächtnis, die nach 12-14 Jahren Lagerhaft immer noch eine Verbannungsstrafe an diesen Orten verbüßten. Jahr für Jahr verging, ohne dass dir etwas über ihre Familien erfuhren. Ein wenig Hilfe und Unterstützung fanden sie bei Baranowskij. Es ist kein Zufall, dass auch heute noch freundschaftliche Briefe wie rote Fäden aus allen Landesteilen an diesen Mann gerichtet werden. Vieles weiß er zu berichten: von der Stadt Igarka der Nachkriegszeit, und immer wieder aufgewühlt durch die Lagernachrichten. Einmal fingen wegen irgendwelcher Vergehen verurteilte Matrosen eines Schiffes im Lager eine grausame Prügelei an. Zusammen mit den Politischen stellten sie sich gegen die Kriminellen. Und siegten. Doch bald darauf wurden sie auf verschiedene Lager verteilt. Ihr weiteres Schicksal verläuft tragisch. Es gab noch Frauenlager mit ihrer ganz besonderen Lebensart. In der Siedlung Jermakowo befand sich die Lagerverwaltung des Bauprojekts N° 503. Baranowskij hat weder zuvor noch jemals danach wieder eine so prunkvolle Bibliothek gesehen, wie die, die die Mitarbeiter des NKWD besaßen. Ausgaben, die zu Lebzeiten Tschechows und Tolstois entstanden, mit Autogrammen, Sammelbände mit Gedichten von Sergej Jessenin, Bücher über Kunst und Geschichte – all das war von den Verhafteten beschlagnahmt worden. Jahrelang sucht Baranowskij Spuren der Bibliothek, kann aber keine entdecken. Übrigens gab es in jenem Leben auch helle Stunden. Als man nämlich an den Abenden die talentiertesten Schauspieler unter Wachbegleitung ins Dramaturgie-Theater von Igarka brachte. Und während der Mensch auf der Bühne sang und spielte, lebte er ein ganz anderes Leben.

„Für die politischen Gefangenen war es besonders schlimm. Die meisten von ihnen starben bereits während der ersten Fröste. Und auch die Einstellung gegenüber war widerwärtig. Die Menschen besaßen keine Nachnamen. Die Lagerleitung sprach sie entweder mit ihrer Nummer oder mit ihrem Spitznamen an. Jedes Lager begann mit dem Bau der eigentlichen Lagerzone: Wachtürme, Stacheldrahtzäune und so weiter. Danach bauten sie dann schon für sich die Behausungen. Und wie schliefen sie bei Frost? Neben der Feuerstelle. Wer bis zum Morgenappell durchhielt – war am Leben geblieben. Gruselige Gesetzte herrschten in jenen Lagern. Fast jedes verfügte über seinen „ehrbaren Dieb“. Er arbeitete nicht, richtete aber mit Genehmigung der Lagerleitung über die, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen oder die mit irgendetwas unzufrieden waren. In jedem Lager hatten Wachpersonal und Lagerleitung ihre besonderen Gewohnheiten. Im Lager am Flüsschen Tas stellten sie den Schuldigen im Sommer unter einen Wachturm. Blutsaugende Schmeißfliegen zerreißen ihm das Gesicht, aber er soll ja nicht wagen sich zu rühren, denn der Wachsoldat auf dem Turm wird ohne Vorwarnung schicken. Ich geriet auch einmal unter den Turm und dachte, dass sie mir die Augen und die Nase abfressen würden, so eine entsetzliche Qual war das. Im Winter schütteten einige Häftlinge sich Salz in die Filzstiefel, um die Füße abfrieren zu lassen und ins Lazarett zu kommen. Eine so armer Teufel erfror sich die Füße auf diese Art und Weise, und die Lagerleitung erfuhr davon. In fünfeinhalb Jahren durchlief ich am Bauprojekt N° 503 insgesamt 14 Lager. Als 1953 die Amnestie erging, blieb ich in Kurejka, wo Stalin vor er Revolution seine Verbannungsstrafe verbüßt hatte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass sie in der Siedlung, in der das Denkmal stand, weißes Brot buken. Aber wir hatten lediglich schwarzes. Und wenn du dich heimlich hingeschlichen hast, um weißes Brot zu kaufen (ich habe sogar im Schlaf davon geträumt), dann war das wie ein Festtag. Noch sieben Jahre nach Stalins Tod gingen die Menschen aus allen Dörfern zum Museum und brachten an den Feiertagen Blumen. So war es gang und gäbe“.

(Aus einem Gespräch mit W.W. Polewoj, Einwohner der Ortschaft Kurejka).

Heute geht kaum jemand hierher, ans Ufer des Jenissei. Ein für diese nördliche Abgeschiedenheit riesiges Gebäude: 40 mal 50 Meter und einer Höhe von nicht weniger als vierzehn Meter. Irgendwann einmal stand innerhalb dieses Pantheons die kleine Hütte, in der Stalin einst wohnte. Direkt unter der Decke des gigantischen Gebäudes brannten Lampen mit natürlichem Licht, und die besondere Farbe der Kuppel imitierte das Nordlicht. Fünfzig Feuerwehrmänner bewachten und beheizten das Museum das ganze Jahr hindurch, Tag und Nacht. Daneben schaute eine weiße Marmorstatue mit einer Zeitung in der Hand auf alle Ankömmlinge. Niemand hatte das Recht einfach mit dem Schiff vorüber zu schwimmen, denn es gab eine spezielle Anordnung: alle Schiffe mussten hier einen zweistündigen Aufenthalt einlegen. Alle Besatzungsmitglieder und sämtliche Passagiere mussten IHN besuchen. Und das taten sie auch – und brachten Blumen mit.

Gebaut wurde das Pantheon in den Jahren 1949-1950 von Häftlingen. Alles per Hand, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Unter ihnen befanden sich handwerkliche Meister. Durch eine besondere Konstruktion wurden die Belüftungsschächte vor den Kapriolen des ewigen Frosts geschützt. Hier konnte er jedenfalls keinen Schaden anrichten. 1961 schließlich riefen sie irgendwoher von oben in Igarka an und sagten, dass „er nicht zurückkehren“ würde. In aller Heimlichkeit, mitten in der Nacht, wurde eine Trosse um den steinernen Hünen gebunden und die Statue zum Jenissei gerollt. Als die weiße Marmorstatue dumpf auf dem Grund aufschlug, erwachten die Einwohner. Aber niemand ging hinaus, sie überprüften lediglich die Riegel an ihren Türen. „Wir schliefen, haben nichts gesehen“ – sagen sie. Nach Berichten von Augenzeugen änderten routinierte Schiffskapitäne noch lange Zeit danach den Kurs auf dem Fluss, um nur nicht an dem Ort vorbei zu schwimmen, wo er versank. Er – mit dem Gesicht nach oben. Selbst aus den Tiefen des Flusses steigt ein eigentümliches schaudern auf. Später taten Schlamm und Sand ihr Werk.

Ich suchte in den Bibliotheken von Igarka, Schulmuseen für Heimatkunde nach Beweisen für J.W. Stalins Aufenthalt. Aber ich fand nichts. Übrigens genau so wenig, wie irgendeine Art von Dokumenten über die Opfer der Gesetzlosigkeit im Polargebiet. Erst gegen Ende der Reise fielen mir die Erinnerungen des Bauern I.S. Soltykow in die Hände. Ich lasse die Stellen aus, an denen davon gesprochen wird, wie Stalin sich wochenlang auf entlegenen Inseln aufhielt und dort nach Stören fischte und wie er sich abends mit Gesang und Tanz vergnügte. Ich zitiere folgendes:

„Also, ich erinnere mich, und dabei läuft es mir eiskalt über den Rücken. Ich sage: so ein großer Mann hat gelebt, hat uns alles gegeben. Wir haben immer Brot zu essen, tragen Mäntel aus Tuch, erziehen unsere Kinder. Wäre Stalin nicht gewesen, wären wir verhungert; möge er sich einer guten Gesundheit erfreuen. Er fängt Fische – und teilt sie mit den Menschen. Sie schämten sich wohl, aber er ließ sie gar nicht erst zu Worte kommen: „Nimm und iss!“

Wie die Ortsansässigen, die sich seit jeher von den Fischen im Fluss ernährt hatten,
sterben konnten, ist unverständlich. Aber so haben sie es geschrieben. Und tun es auch heute noch,

Bis zur Gürtellinie im Schnee, man kommt weder zu Fuß, noch mit dem „Buran“ an das Pantheon heran. Es ist keine einzige Spur zu sehen. Im gesamten Winter sind wir wohl mit dem örtlichen Waldarbeiter die ersten und auch letzten Besucher. Das leerstehende massive Gebäude mit den zerbrochenen Fensterscheiben wirkt komisch und leblos in diesem entlegenen Eckchen Russlands.

Die Menschen, die hier im Sommer aus eigener oder dienstlicher Notwendigkeit vorbeischwimmen, halten sich hier übrigens auch eine Zeit lang auf. Da sind sie, die Aufschriften: „In ehrendem Gedenken“, „Mit seinem Namen sind wir gestorben“, „Russland ist ohne seinen Herrn!“.

Was soll’s, es ist alles nicht so einfach. Auch heute noch sehnt sich manch einer nach einer machtvollen, festen Hand. Es sind nicht nur einzelne. Allerdings hat direkt am Eingang jemand über die ganze monolithische, verwahrloste Wand mit schneller Hand geschrieben: „Eine Lehrstunde für den Tyrann“. Und es ist auch keine Sünde, unter diese Aufschrift seinen Namen zu setzen. Niemand vermag bislang zu sagen, was für ein Schicksal dem Denkmal in der weiteren Zukunft beschieden sein wird. Es gibt ein Angebot vom Norilsker Industrie-Institut der Landwirtschaft des Hohen Nordens, das Gebäude als Treibhaus zu nutzen. In Kurejka und Igarka spricht man darüber, das man daraus ein Museum der Revolutionärer der Vergangenheit oder der Opfer des Personenkultes, die nach § 58 verurteilt wurden, machen könnte. Aber wo soll man die Namen finden und genau in Erfahrung bringen, wie viele es von ihnen im Hohen Norden gab? Wie viele? Es gibt für uns keine Antwort…

***

Ein „Ural“ – das Fahrzeug der geologischen Forschungsexpedition – zog uns bereits gegen Abend aus dem Sumpf. Ich stieg auf das Geländefahrzeug um und war eine Stunde später am Ufer. Irgendwann einmal verlief hier über das Flüsschen Sucharicha eine Brücke eben jener Transpolarbahn, über die die Lokomotiven ratterten. Beton-„Ochsen“ (Pfeiler; Anm. d. Übers.) im Fluss, die dort drei Jahrzehnte wie tot gestanden haben. Und da, links des Flüsschens ist auch die Lagerzone des Jahres 1948. Die schief gewordenen Wachtürme, der Stacheldrahtzaun und die verwitterten Baracken erinnern an das damalige Leben, an jene Zeit. Es ist schon Ende April, aber wie es aussieht, wird der Frühling in diesen Gegenden noch lange keinen Einzug halten. Es war winterlich kalt und ungemütlich. Eine Minute oder etwas länger stand ich schweigend da. Dann ging ich, ohne mich umzuwenden, zum Auto. Gleich hinter Sucharicha kamen wir von der Straße ab. Noch eine ganze Weile sah man Bruchstücke von Bahnschwellen und Gleisen, doch dann trennten sich unsere Wege endgültig. Auf Wiedersehen, Stalinka“.

N. Saweljew
(unsere Korrespondent)
Igarka – Kurejka – Krasnojarsk

Anstelle eines Nachwortes

Nein, nicht auf Wiedersehen. Nachdem ich von meiner Dienstreise zurückgekehrt war, schaute ich mir den markerschütternden Film des Regisseurs Sergej Miroschnitschenko „Und die Vergangenheit erscheint wie ein Traum“ an. In ihm gibt es nicht wenige Bilder, bei denen man den Rücken in den Sessel pressen und sagen möchte: „Genug jetzt!“ Wie haben wir alle damals gelebt, und warum war das alles so? Nördliche Bewohner erzählen von der Leinwand herunter von jenen Jahren und Qualen, die auf ihr Los entfielen.

Ein weiteres Schicksal erscheint in dem Film. Das Schicksal des jungen Poeten Stepan Perewalow aus den Reihen derer, die das Vorkriegskinderbuch „Wir aus Igarka“ verfassten, das übrigens von Gorkij für gut befunden wurde. 1942 wurden er und weitere dreihundert Studenten der Geisteswissenschaften verhaftet; man warf ihnen die Organisierung eines Attentats auf den Führer vor und verschickte sie an jene Orte, an denen es noch nicht einmal Bücher gab, aber auch Bleistift und Papier bekam nie einer der Häftlinge zu sehen.

Zum 50. Jahrestag der Erstausgabe des Buches versammelten sich an der Jenisseijsker Anlegestelle die längst erwachsen gewordenen Autoren und begaben sich in die Stadt ihrer Kindheit. Und da plante man auch diesen Film ganz lyrisch und sanft zu drehen, weil alles mit der Kindheit im Zusammenhang stand. Es kam etwas anderes dabei heraus. In jenem ersten Buch standen Geschichten von Kindern über die Natur, den Fluss und schöne Rentiere. Aber kein einziges Wort über die Sonderumsiedler, das Barackenleben, das unerwartete nächtliche Verschwinden und die aus der Ferne dumpf dröhnenden Erschießungen im Bären-Hohlweg. Kein einziges Wort. Fünfzig Jahre später erinnern sie sich daran, wie man sie unter Wachbegleitung forttrieb, wie eisig es in den Baracken war, wo in jeder Ecke drei bis vier Familien eng zusammengepfercht hausten. Wie sie lebten und wie sie hofften, dass das Schlimmste bereits hinter ihnen, weit in der Vergangenheit, liegen möge. Und wie sie sich in ihrem Glauben irrten. Die größte Tragik in diesem aufrichtigen Dokumentarfilm Krasnojarsker Kameraleute ist, dass du plötzlich erkennst: selbst fünfzig Jahre danach sind diese Menschen immer noch nicht von der Last der Vergangenheit befreit, haben sich immer noch nicht gerade gebogen, und jedes Mal, wenn sie in die auf sie gerichtete Kamera über die Gefangenen, Verhaftungen und Erschießungen sprechen müssen, senken alle ganz unfreiwillig den Tonfall ihrer Stimme und blicken umher. Nein, die Vergangenheit ist kein Traum. Selbst wenn sie qualvoll ist. Die Vergangenheit ist immer noch um uns, und es wird für uns alle nicht so einfach sein, davon loszukommen.

„Komsomolzen-Wahrheit“, 17.05.1988


Zum Seitenanfang