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Der Wald der Kreuze

„Sind Sie denn nicht der Meinung, dass die alten bourgeoisen Nationen unter dem sowjetischen Aufbau, unter der Diktatur des Proletariats existieren und sich entwickeln können? Na, das fehlte gerade noch…“

Dieser Stalin-Satz erinnert mich daran, wie ich in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „Banner“ unter den Echos auf Schatrows Lied „Weiter, weiter… weiter!“ auch die Meinung eines Lesers aus Litauen las, der geschrieben hatte: „Kult-Anhänger und Inszenierer vom Typ Schatrows, Rybakows usw. werden gehen, und zum Glück werden sie von allen vergessen werden; aber das, was der Genosse Stalin getan hat, was wir unter seiner Leitung gemacht haben, wird für immer in der Geschichte bleiben, und darüber werden unsere Nachfahren, genauso wie wir, stolz sein. Kriegsteilnehmer Magis Konstantinowitsch Schtschensnowitschus, Vilnius“.

Heute kann man innerhalb weniger Tage von Vilnius nach Igarka gelangen. Doch es gab eine Zeit, als diese Reise sich für hunderte und tausende Litauer über lange Monate hinzog – zuerst in vergitterten Viehwaggons, anschließend in ebenso riesigen Arrestanten-Lastkähnen, die zu einem unverlierbaren Teil der Landschaft der sibirischen Flüsse wurden und die der alte Bolschewik A.F. Kowaljow eingehend in seinen Memoiren beschrieb:

„Im Frachtraum war es dunkel, stickig und eng. Sitzen konnte man nur mit untergeschlagenen Beinen. Da standen Kübel für die Notdurft und Fässer mit Flusswasser. Am Ausgang zum Deck hing eine Laterne, die den kleinen Raum im Inneren der Barke, deren größter Teil sich in Finsternis hüllte, matt erleuchtete. Die Leute gingen, schritten an den Köpfen von Menschen vorüber, traten ihnen versehentlich auf Arme und Beine. Geschimpfe, Flüche, Stöhnen… Diese stockdunkle Hölle verfügte auch über ihre eigenen Teufel – Kriminelle. Wiederholungstäter, Diebe, Mörder. Sie fühlten sich frei und waren fröhlich. sie hatten es sich im Bug des Kahns gemütlich gemacht. Sie waren so eine Art Stütze und Handlanger der Begleitsoldaten“.

Lediglich die erste Partie litauischer Verbannter entging der von S.F. Kowaljow beschriebenen Hölle, weil sie mit entsprechendem „Komfort“ nach Igarka gelangt war – in den Frachträumen des Raddampfers „Maria Uljanowa“. Maria Ilinitschna selber weilt schon seit elf Jahren nicht mehr unter den Lebenden, und sie konnte zum Glück nicht erfahren, was für eine zutiefst demütigende Verwendung das Schiff findet, dem man ihren Namen gegeben hat… Das Auftauchen der ersten hundert verbannten Litauer im Juni 1948 kam für die Bewohner von Igarka – genauso wie für alle vorangegangenen „Wellen“ – vollkommen unerwartet. Es gab zwar herrenlosen, heruntergewirtschafteten Wohnraum, in der Stadt herrschte Tuberkulose unter den Kalmücken, Skorbut unter den Griechen, und ein schrecklicher Ausbruch von Fleckfieber im Herbst 1944 verheerte nicht nur eine Baracke. Es war natürlich unmöglich, dort eine derart riesige Anzahl Neuankömmlinge unterzubringen, und fast die Hälfte aller Bürger musste „zusammenrücken“; dort, wo eine Familie lebte, wurden nun zwei oder sogar drei einquartiert. Erneut, zum wiederholten Male, wurden die Hoffnungen der Einwohner von Igarka zunichte gemacht, dass alle Schwierigkeiten nun hinter ihnen lägen, dass damit begonnen würde, neue geräumige Häuser zu bauen und die Leute endlich im Warmen und in gemütlichen Stadt-Wohnungen leben konnten… Im Großen und Ganzen wurde auch neu gebaut – und zwar errichtete man oberhalb der Achse Stalin-Straße in aller Eile mit der Arbeitskraft der Verbannten eine ausgedehnte, eingeschossige Siedlung; aber, sagen wir es gerade heraus: das entsprach keineswegs den Neubauten, von denen man in Igarka geträumt hatte.

Wer sollte die künftige litauische Siedlung bevölkern? Wer in den alten Baracken zusammengepfercht werden, die nach vor kurzem wie ausgestorben schienen? Es gab unter ihnen weder die berüchtigten Wald-Brüder“, noch ehemalige Polizei-Angehörige – tausende Litauer, gelandet am Igarsker Ufer, waren Opfer der sogenannten „sozialen Prophylaxe“ geworden. Dieser klangvolle Ausdruck war dazu berufen, eines der abscheulichsten Verbrechen des Stalin-Regimes geheim zu halten. Nachdem Lehrer und Handwerker, Seeleute und Ärzte, Agronomen und Techniker, Geistliche und künstlerische Intelligenz ins Polargebiet verbannt worden waren, strebte Stalin ein für alle Mal danach, der litauischen Nation die fähigsten Söhne und Töchter zu entziehen, ohne die sie sich seinen Berechnungen zufolge in eine charakterlose Masse verwandeln würde, die jeder ihrer zukünftigen „großartigen Erscheinungen“ in sklavenhafter Weise ergeben wäre. Das blutige Experiment, das in den dreißiger Jahren an der Bevölkerung der Sowjetunion verwirklicht wurde, wiederholte sich nun an den Vertretern der Völker, die sich in den vierziger Jahren zu ihr gesellt hatten – den Bewohnern Bessarabiens, der Bukowina, Litauens, Lettlands, Estlands, an den Polen, Finnen, Griechen, die auf dem Territorium der neuen sowjetischen Ländereien lebten. Eigentlich begann die „soziale Prophylaxe“ bereits im Jahr 1940, gleich nach dem Ausrufen der Sowjetmacht in diesen Gebieten, doch der Krieg hinderte Stalin daran, diese „Maßnahme“ in dem von ihm erdachten Maßstab ins Rollen zu bringen. Nun wollte er das Versäumte nachholen.

Wie waren die Bedingungen der Jenisseisker Verbannung unter Stalin? Da man die Wahrheit an Vergleichen erkennt, erinnern wir uns zunächst an die von der Krupskaja beschriebenen Verbannungsbedingungen W. I. Lenins in Sibirien (ohne dabei die Anmerkung zu vergessen, dass Lenin aktivster Gegner des damals herrschenden Regimes und Bruder des Staatsverbrechers war, der den Anschlag auf den Zaren verübt hatte!):

„Der Beisitzer war viel mehr in Sorge darüber, wie er das Kalbfleisch loswerden würde, als über die Möglichkeit,. dass die Verbannten ihm davonlaufen könnten. Die Billigkeit in diesem Schuschenskoje war verblüffend. Wladimir Iljitsch besaß für seine „Bezüge“ – eine Unterstützung in Höhe von 8 Rubeln –ein sauberes Zimmer, bekam Essen, erhielt seine Wäsche gewaschen und gestopft – und meinte dann noch, dass er teuer bezahlen würde. Allerdings waren Mittag- und Abendessen sehr einfach – eine Woche schlachtete man für Wladimir Iljitsch einen Hammel, dessen Fleisch er dann tagtäglich zu jeder Mahlzeit vorgesetzt bekam, bis schließlich alles restlos aufgegessen war: als es schließlich gegessen war, kauften sie Fleisch für eine ganze Woche … Koteletts, extra für Wladimir Iljitsch… Aber es waren auch genügend Milch und Quarkküchlein da, und das reichte sowohl für Wladimir Iljitsch, als auch für seine Hündin, ein wunderhübsches Gordon-Weibchen, dem er sowohl Apportieren als auch Männchen machen und andere Hundewissenschaften beigebracht hatte. Bald darauf zogen wir in eine andere Wohnung um – wir mieteten ein halbes Haus mit Gemüsegarten für 4 Rubel“.

Da sie von der Regierung unterstützt wurden, waren die Verbannten auf diese Weise von der Arbeit befreit; sie hatten ja ihr Auskommen, und deswegen erinnert sich Nadjeschda Konstantinowna daran, dass die Hauptbeschäftigung ihres Mannes in der Verbannung Übersetzungen politischer Literatur, umfangreiche Korrespondenz mit in der Freiheit verbliebenen Revolutionären, juristische Hilfe für die Bauern, Jagen, Schlittschuhlaufen und Skifahren, Schachspielen sowie Besuche in Jermakowo, Minussa, und Tess zu dorthin verbannten Sozialdemokraten. „Im Großen und Ganzen verlief die Verbannung nicht schlecht. Es waren Jahre ernsthaften Lernens“ – beendet Nadjeschda Konstantinowna ihren Bericht.

1948 konnten die litauischen Verbannten selbst in ihren rosigsten Vorstellungen von solchen Bedingungen träumen!

Lassen wir für einen Augenblick unserer Phantasie freien Lauf. Stellen wir uns vor, wir befänden uns inmitten einer Menge litauischer Verbannter in jenem fernen Jahr 1948. Schon seit langem besitzen Sie kein Geld, keine Wertsachen mehr. Alles, bis hin zu den Kreuzen auf der Brust und den Eheringen wurde den Wachen in den Gefangenenzügen ausgehändigt – für einen einzigen Schluck Wodka oder ein Dutzend gekochter Kartoffeln (denn nachdem Sie ihr Haus in aller Eile verlassen mussten, hatten sie keineswegs damit gerechnet, dass Sie nun in verriegelten „Stolypin“-Waggons und auf Lastkähnen ganze Wochen, manchmal auch Monate, verbringen sollten). Die Ihnen anstelle eines Ausweises ausgehändigte Bescheinigung des MGB bezeugt, dass sie schon kein Staatsbürger der Sowjetunion mehr sind, sondern Sonderumsiedler, der keinerlei Rechte besitzt und keinen Anspruch auf Vergünstigungen und Unterstützung hat. Mit dieser Bescheinigung sind sie verpflichtet, sich zweimal im Monat – auch bei klirrendem Frost und bei strömendem Regen – in einer der drei Igarkarsker Kommandanturen der Staatssicherheit zu melden. Und wehe Sie erscheinen dort, ohne einen Arbeitsplatz gefunden zu haben! Dann droht Ihnen die Versetzung aus der Kategorie der Verbannten zur Kategorie der „sozial gefährlichen Elemente“, - hinter der nun schon nicht mehr der Geist der Verbannung, sondern der des Lagers schimmert. Allerdings müssen wir uns auch ohne diese Drohung schnellstens irgendeine Arbeit suchen – allein schon deswegen, damit wir nicht vor Hunger sterben. Aber mit der Arbeit in dem kleinen Polar-Städtchen war es auch schon vor der Ankunft der tausend Verbannten nicht leicht – und jetzt erst recht! Welchen Ausweg gibt Ihnen Ihre Phantasie ein? Es ist nicht ausgeschlossen, dass es der einfachste und schnellste ist: einen Nagel in die Wand schlagen und … Aber Sie können gar keinen Nagel in die Wand schlagen, denn mit Ihnen zusammen ist Ihre gesamte Familie verbannt worden, vom gerade erst geborenen Jungchen bis zur alten Mutter! Ihr Tod – ist auch ihr Tod. Und Sie irren tagelang umher in der ausweglosen Sehnsucht nach einer fremden Stadt, Kinder und Alte bei den Nachbarn zurücklassend, die unnahbaren Personal-Sachbearbeiter anflehend, er möge Ihnen doch wenigstens irgendeine hoffnungslose Hilfsarbeit verschaffen. Schweigen wir darüber, wie weit die Menschen damals gegangen sind, um irgendeine Arbeit zu bekommen; denn sonst wird es einfach unmöglich, unseren Bericht, der auch so schon leidvoll genug ist, zu lesen… Und wenn die gestrige Französisch-Lehrerin aus Panevezys als Schweinewärterin in ihre geschwärzte Baracke zurückkehrte – dann hieß es, dass sie märchenhaftes Glück hatte: sie wird etwas haben, wovon sie ihren beiden Kindern und dem Vater ihres unterwegs an Ruhr verstorbenen Ehemannes Brot, Kartoffeln und bisweilen vielleicht sogar ein wenig Milch kaufen kann..

Es gibt nicht den geringsten Zweifel: wären die Litauer, so wie Stalin es erhofft hatte, in völliger Einsamkeit geblieben, nur sich selbst und der Willkür der Staatssicherheit überlassen, - dann wäre nicht ein einziger von ihnen unversehrt davon gekommen. Aber auch heute noch finden wir im städtischen Telefonbuch, dieser unauffälligen, unbedeutenden Chronik des Igarsker Alltags, die Nachnamen von Litauer-Geschlechtern, welche diese schreckliche Zeit überlebt haben. Sie sind – das gutmütige Echo gegenseitiger menschlicher Hilfe, das davon zeugt, dass die Einwohner von Igarka keine gleichgültigen Zuschauer der sich vor ihren Augen abspielenden Tragödie waren. Das Schlimme war, dass das bettelarme und selber dem Hungertod nahe Nachkriegs-Igarka nur sehr, sehr wenig abgeben konnte von den vorhandenen Holzhaufen, Bezugsscheinen für Kerosin, den gefangenen Fischen und den Angelgerätschaften. Diese bescheidenen Gaben bedeuteten eine Menge, doch auch sie konnten keine Wunder vollbringen – bis ganz zum Eismeer zieht sich damals an den Ufern des Jenissei las Holz der katholischen, litauischen Kreuze hin, und ihr undurchdringlichstes „Dickicht“ befand sich wohl in Igarka.

Einer der litauischen Friedhöfe, der sich neben der heutigen Präventionsklinik befand, ist längst dem Erdboden gleichgemacht und hat sich in eine Gerümpel-Wüste verwandelt, der zweite ist vollständig in einem Hain unweit des Umspannwerks 220 verborgen, ähnlich dem verstummten Geist einer längst vergangenen Epoche. Die riesigen schwarzen Kreuze mit den verrosteten Überresten blecherner Kruzifixe sehen inmitten des sibirischen Polargebiets wie rätselhafte Ankömmlinge von einem anderen Planeten aus. Manche von ihnen kämpfen bereits verzweifelt gegen die Zeit und halten sich krampfhaft aufrecht, andere lehnen sich kraftlos gegen Birkenstämme und Tannen. Und dann gibt es welche, die sich bereits vor Jahrzehnten in den ewigen Frostboden eingegangen sind. Auf den halbverfaulten Tafeln fallen einem häufig die Namen von alten Menschen und Kindern ins Auge: sie waren die ersten Opfer der „sozialen Prophylaxe“.

Mit beengtem Herzen schaue ich mir die vergilbten alten Dokumente an, die Namen verschwundener Menschen, die wahrscheinlich einmal das Wertvollste waren, was man auf der Welt besaß:

„Pranas Skuschinskas. 1 Jahr und 4 Monate. In der Obhut seiner Mutter, Arbeiterin im Holz-Kombinat. Wohnhaft Stalin-Straße 18. Verstorben an Unterernährung“.

„Kasis Banionis. 88 Jahre, unterstützt von seinem Sohn, Arbeiter im Holz-Kombinat. Lebte in der Birschewaja 8. Starb aufgrund eines Herzfehlers“.

„Nijole Lukoschewitschute, 2 Jahre. In Obhut des Vaters, Arbeiter im Holz-Kombinat. Wohnhaft Stalin-Straße 46. Starb an Diphterie“.

„Aldute Tomaschewskaja, 6 Jahre. In Obhut der Großmutter, (Arbeitsstelle der Großmutter – mit einem Strich markiert). Wohnhaft Stalin-Straße 10. Starb an Unterernährung“.

„Ona Stamiene, 74 Jahre. Unterstützt von der Tochte, Arbeiterin im Holz-Kombinat. (Wohnort – durch einen Strich markiert). Todesursache: Abmagerung“.

„Ionas Simonawitschus, 1 Jahr. Lebte in der Obhut der Mutter, Arbeiterin am Holz-Kombinat. Todesursache: Erschöpfung“. Und weiter unten – die mütterliche Unterschrift.

Und ich muss erneut an die Worte von Maris Konstantinowitsch Schtschensnowitschus aus Wilnius denken: „Das, was Genosse Stalin getan hat und wir unter seiner Lenkung, wird für Jahrhunderte in der Geschichte bleiben, und darüber werden unsere Nachfahren genauso stolz sein, wie wir selber“. Werden sie wirklich stolz sein?!
Allein im Juli 1948 wurden in Igarka 49 Menschenleben litauischer Verbannter dahingerafft! Und bis Jahresende waren es annähernd 150. Und niemand argwöhnte, dass über Igarka bereits eine neue schreckliche Welle des Terrors hing, im Vergleich zu der sowohl die litauische, als auch die Kalmücken-Welle wohl nichts weiter als eine kleine Woge war. Ausgelöst wurde sie auf den ersten Blick durch einen ganz unschuldigen Satz Stalins, den er Ende 1947 auf einer Sitzung des Ministerrats geäußert hatte: „Das russische Volk hat schon lange davon geträumt, eine zuverlässige Ausfahrt ins Eismeer zu haben“.

R. Gortschakow
“Kommunist des Polargebiets” (Stadt Igarka), 21.-23.07.1988

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