Auf dieses Ereignis haben wir lange gewartet. Erst sprach man nur untereinander darüber, im engsten Kreis geprüfter Freunde, später wurde man immer mutiger und schließlich, nachdem man eine mächtige Glasnost-Injektion verpasst bekommen hatte, fingen die Menschen mit lauter Stimme an, auch auf den Seiten der zentralen Zeitungen und Zeitschriften, in den Kolumnen der Lokalpresse, den Fernseh- und Radio-Sendungen davon zu sprechen.
Was für ein Ereignis ist gemeint?
Die Eröffnung eines Kontos für den Bau eines Memorials zu Ehren der Opfer der Repressionen und des politischen Terrors der Stalin-Zeit. In dem Beschluss des Exekutiv-Komitees des Norilsker Stadtrats der Volksdeputierten N° 455 vom 4. August 1988 heißt es: „Es ist ein Konto bei der Norilsker Filiale der Industrieaufbaubank der UdSSR zu eröffnen, welches für den Eingang freiwilliger Geldbeträge der Bevölkerung zum Bau eines Denkmals zu Ehren der Opfer de Repressionen, die sich in den Norilsker Lagern befanden, genutzt werden soll“.
Die Eröffnung des Kontos ist eine Antwort auf die Briefe zahlreicher Leser, die sich gefragt haben, wann endlich ein derartiger Fond geschaffen wird und die vorschlugen, die Entscheidung über diese Frage zu beschleunigen. Dies ist auch eine Antwort an die Gegner des Baus einer Gedenkstätte in Norilsk. Offenbar ist es demokratisch, sie auch zu verstehen: zu lange haben wir die Geschichte des Landes auf dem Wege der „Geschichte der KPdSU“ gelernt, die von Stalin bearbeitet wurde; wie zu lange brauchten die Bücher Platonows und Nabokows, Achmatowas und Dudinzews, Grossmans und Solchenitzyns … zu uns. Viel zu lange hielten wir die Raschidows und Breschnjews für die besten Schriftsteller des Vaterlandes… Langsam, sehr langsam reanimieren wir unsere Erinnerung, unser Bürgergefühl, unsere Stimme des Gewissens.
Es ist notwendig, dass in all unseren Dingen, in all unseren Vorgehensweisen die historische Gerechtigkeit triumphiert. Mit dem Bau eines Memorials in Norilsk waschen wir den Schmutz der Lügen aus unserer Erinnerung.
… Ich blättere eine frische Ausgabe der Wochenzeitung „Buch-Übersicht“ durch. Darin sind unter der Überschrift „Historische Unwahrheit rächt sich“ Briefe von K.M. Simonow veröffentlicht, unter anderem ein Brief an den ehemaligen ersten Sekretär des Norilsker Stadtkomitees der Partei I.A. Sawtschuk: „Um das Ausmaß der Heldentaten der Sowjet-Menschen zu beweisen, die in Norilsk gelitten haben, - sowohl jener Menschen, die in Freiheit waren, als auch derjenigen, die sich durch den Willen Stalins in Haft befanden, muss man zumindest in den wichtigsten, grundlegendsten Zügen alles so aufschreiben, wie es tatsächlich geschehen ist… ohne dies zu tun ist es meiner Ansicht nach völlig unmöglich, die wichtigsten geschichtlichen Merkmale dieser tragischen und widersprüchlichen Periode der Stadtgeschichte niederzuschreiben.
Das Wort „Norilsk“ ist in den Publikationen der Zeitungen und Zeitschriften der letzten Zeit vorübergehuscht. Über den wahrlich schrecklichen Strafpunkt des Norillag – Kolargon – schreibt in seinen Erinnerungen in der Zeitschrift „Wechsel“ (N° 12, 1988) der bereits verstorbene Aleksander Iwanowitsch Miltschakow, in den 1930er Jahren General-Sekretär des Zentral-Komitees des Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverbandes und später Leiter der „Hauptverwaltung Gold“:
„Im Oktober (1939 – L.W.) verlegte man uns nach Norilsk, wo ich als Förderarbeiter in eine Brigade von Unter-Tage-Arbeitern im Kohleschacht „Schmidticha“ kam. Am 5. November führte man uns, insgesamt zwanzig Mann, an einem frostigen Tag zu Fuß zum Straflagerpunkt „Kolargon“, der sich inmitten der Tundra, 18 km von Norilsk entfernt befand, um uns dort zu erschießen. Unter den zum Tode Verurteilten waren: der zusammen mit Dimitrow im Leipziger Prozesses verurteilte ehemalige Sekretär des Zentral-Komitees des Bulgarischen Komsomol Verurteilte und Mitglied des Politbüros der Bulgarischen Kommunistischen Partei - Blagoj Popow, der stellvertretende Volkskommissar der Lebensmittelindustrie der UdSSR - Tschigrinzew, das Mitglied des Kollegiums des Volkskommissars der Finanzen der UdSSR - Pjotr Tschetwerikow, der Leiter der Hauptverwaltung der Salzindustrie der UdSSR Nikita Kulikow, der Botschafter der UdSSR in Rumänien Ostrowskij, der Konsul der Skandinavischen Länder, der zuvor Sekretär des Gouvernements-Komitees an der Wolga – Wladimir Fischer, der erste Seketär des Erewaner Stadtkomitees der Partei – Abel Orduchanjan, der ehemalige Sekretär des Kasaner Stadtkomitees der Partei - Abdulla Junussow, der Geschichtsprofessor Sergej Dubrowskij, der Professor der Rechtswissenschaften Leonid Ginsburg, der Professor der Rechtswissenschaften Pjotr Klimow und andere. Zwei Wochen warteten wir auf das Massaker… Dann rettete uns der Leiter der Norilsker Bau- und Lager-Verwaltung A.P. Sawenjagin. Er wartete zwei Wochen ab und befahl dann auf seine Verantwortung, entgegen der „Direktive des Zentrums“, uns nach Norilsk zurück zu bringen… Viele Kameraden kamen in Norilsk aufgrund von Unfällen, Skorbut, Lungen-Abszessen oder der alle menschlichen Kräfte übersteigenden physischen Arbeit ums Leben…“.
Wie soll man der Leserin L. Komejko zustimmen, dass ein Denkmal für die Opfer der Stalinistischen Repressionen in Norilsk nicht notwendig sei, damit Frischvermählte auf dem Weg zu Lenins Denkmal, Gott bewahre, nur nicht auf die Erwähnung der unschuldigen Opfer aus den 1930er Jahren stoßen? Wie wird die Reaktion sein? – schreibt sie. – Mir scheint, dass außer Kränkung und Wut auf jene, die früher auf den Knien rutschten und schwiegen, im Herzen nichts sein wird“.
Und ich meine, dass die Neuvermählten ihre Blumen zwischen dem Denkmal Lenins und dem für die Bolschewiken der Leninistischen Schule, die von Stalin und seinen Handlangern vernichtet wurden, aufteilen werden. So denken auch die Leserinnen A.G.Schamoida, L.A. Kiritschenko und zahlreiche andere, die die Eröffnung des Kontos für den Bau eines Memorials erwirkt haben.
Uns allen steht noch eine Menge Arbeit bevor – Stück für Stück, aus kleinsten Teilchen, die Namen ALLER politischen Gefangenen der Norilsker Lager zu rekonstruieren. Das ist keine Arbeit für ein Jahr – und auch nicht für zwei… Deswegen brauchen wir auch ein Memorial für die Opfer der Stalinistischen Repressionen.
Ich glaube, dass die Mehrheit der Norilsker nach Kräften ihren Beitrag zu der Errichtung leisten wird. Ich bin überzeugt: wir sind – die Mehrheit!
Wie wird es wohl aussehen? Das hängt von euch allen ab. Am Wahrscheinlichsten ist, dass entsprechend des auf dem Konto eingegangenen Geldes ein Wettbewerb veranstaltet wird, bei dem das beste Projekt den Zuschlag erhält. Ebenfalls ist wahrscheinlich, dass die Ausarbeitung eines Konzepts für das Memorial in Norilsk in drei Richtungen erfolgen wird: eine Serie von Gedenktafeln, eine architektonisches Modell auf einem der Stadtplätze und das eigentliche Monument, das sich – so schwebt es mit vor – in einer Lagerbaracke jener Zeit, mit allen damaligen Attributen, darstellen soll, und außerdem – eine umfangreiche Ausstellung, welcher von einer der tragischsten Seiten, wenn nicht der schlimmsten, in der Geschichte unseres Landes erzählen soll. Eine solche Gedenkstätte könnte mit der Zeit zu einer Filiale des Norilsker Museums werden… Doch das habt ihr, wir alle zu entscheiden.
Und nun - die Kontonummer:
70202 bei der Norilsker Filiale der Industrie-Aufbau-Bank der UdSSR.
Eure Ideen, Vorschläge, Erinnerungen werden erwartet unter der Anschrift: Norilsk, „Polar-Wahrheit“. Kennzeichnet den Umschlag mit der Aufschrift „Memorial“.
Leonid Winogradskij, Vorsitzender des Norilsker Öffentlichkeitskomitees zur Verewigung der Erinnerung an die unschuldigen Opfer der 1930er bis 1950er Jahre.
„Polar-Wahrheit“. 01.08.1988