Auf Initiative der Zeitschrift „Ogonjok“ („Feuerchen, Flämmchen“; Anm. d. Übers.) wird im Kulturpalast der Industrie-Vereinigung Moskauer Elektrolampen-Fabrik ab dem 19. November die WOCHE DES GEWISSENS durchgeführt, die der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen gewidmet ist.
Es waren Millionen, die besten Söhne des Vaterlandes – Parteiangehörige, Wissenschaftler, Ackerbauern, Soldaten, Arbeiter, Studenten, Ärzte, ihre Frauen und Angehörigen, herausgerissen aus der Gesellschaft, aus dem Leben, - umgekommenen in Kerkern, auf Häftlingsetappen, im mittelalterlichen Alptraum der Lager. Ihre Kinder versetzt ins bittere, grausame Waisendasein. Millionen ehrbarer, talentierter, fleißiger Menschen, verurteilt zur Sklaverei…
So etwas darf man nicht aus der Geschichte hinauswerfen, es vergessen. Die Woche des Gewissens soll uns daran noch einmal erinnern und mahnen. Sowohl diejenigen, die durch das Elend des Schicksals versengt wurden, als auch diejenigen, die es verschonte, sie aber nicht gleichgültig gegenüber der Gerechtigkeit ließ, können nicht umhin, daran zu denken, damit die schreckliche Zeit sich noch einmal wiederholt.
Wohl deshalb hüten die Menschen sorgsam alle spärlichen Zeugnisse der Tragödie:
vergilbte Blätter von Lagerbriefen, die während der Durchsuchungen unentdeckt
blieben, zufällig unversehrt gebliebene Fotos, Rehabilitationsbescheinigungen, -
alles, was unversehrt blieb und die Zeit durch die Jahrzehnte überstand. Sie
bringen diese Dinge in die Redaktion, schicken sie an den Kulturpalast der
Moskauer Elektrolampen-Fabrik – für die Gedenkwand. Hunderte, tausende Briefe;
die Geschichten sind unterschiedlich, ähnlich einander aber so, als wäre es nur
eine einzige. Am meisten verblüfft, wie sich die Menschen in unmenschlichen
Bedingungen, vor dem Angesicht des Todes, ihre menschliche Würde, ihren Edelmut
wahren konnten. Man kann nur vermuten, was in ihren Seelen vor sich ging, aber
in Freiheit schickten sie ihren Lieben gutherzige, feinfühlige Briefe.
„Meine prächtige, meine liebe Lisok, ich habe darum gebeten, Dir diesen Brief
erst nach meinem Tod zu übersenden. Mein Liebchen, verzweifle nicht; wer weiß,
was man im menschlichen Leben alles durchmachen muss. Wir haben gute Kinder, die
noch viele gute Ratschläge brauchen, und die bekommen sie alle von Dir, und Dein
Leben ist für sie ganz erfüllt. Ich weiß, mein Herzchen, dass mein Tod für Dich
ein großes, schweres Leid bedeuten wird, aber sei tapfer, Liebchen – versuche in
der Arbeit und der Sorge Deiner Kinder aufzugehen“.
Das ist der Abschiedsgruß von T.W. Morosowskij, dem ehemaligen Leiter einer der Abteilung des Zentralen Telegraphen, geschrieben im Mai 1935 an aus Syktywkar an seine Ehefrau. Tichon Wladimirowitschs Sohn machte das Grab des Vaters ausfindig, brachte es in Ordnung und schickte eine Zeichnung zusammen mit diesem Brief an die Adresse der Woche des Gewissens.
Die klarsten, das Herz bedrückenden Nachrichten von einer Mutter, der Ehefrau eines „Volksfeindes“ – an ihre Kinder. Vera Fjodorowna Berssenewa schrieb am 23. Oktober 1943 aus der Nähe von Taischet:
„Meine herzallerliebsten Häschen, meine Lieben! Meine größte Qual besteht darin, dass ich von und über euch schon lange nichts gehört habe. Im Vergleich mit diesem Leiden sind alle anderen Nichtigkeiten. Macht euch um mich keine Sorgen, ich bin gesund und ruhig. Seht zu, dass ihr eure Gesundheit und euren Mut bewahrt, habt einander lieb, kümmert euch umeinander, helft euch gegenseitig – dann kann man alle Schwierigkeiten überwinden. Ich denke Tag und Nacht an euch und bete immer nur dafür, dass ihr alle, meine Lieben, am Leben und gesund seid und nicht Hunger und Kälte erleben müsst.
Ich ertrage mein Leben ganz gut. Ich brauche so gut wie nichts. Wenn ihr könnt, schickt mir ein kleines Päckchen. Schickt vor allem Papier, damit ich euch schreiben kann, und ein paar Bleistifte, Nadel und Faden, um meine Sachen in Ordnung zu bringen. Ein paar Stofffetzen als Flickzeug und für Taschentücher. Wenn möglich auch ein wenig Seife, Salz und Tabak. Aber nur, wenn es nicht schwerfällt. Kommt nicht auf die Idee, irgendwelche Lebensmittel zuschicken, zweigt nichts von euren Esswaren ab, mir genügt meine Ration. Aber Papier habe ich nicht, und deswegen kann ich nicht mehr schreiben…“
Mutterliebe erhob die Frauen über Finsternis und Grauen, zwang sie, Hunger, Krankheiten, Erniedrigungen zu vergessen und für das Söhnchen ein Märchen zu verfassen. So ein wunderbares „Märchen vom Bärchen“ in Versform schrieb und verschickte Mama Renata Jossifowna Potoker im September 1939 an Dimotschka. In der Familie wird auch noch die Quittung einer Geldüberweisung vom 12. Dezember mit Beilage aufbewahrt: „Ich schicke meinem geliebten Dimotschka Geld zum Feiertag; verwöhnt ihn ein bisschen. Ich bin jetzt Stachanow-Arbeiterin…“
Verschiedene Dokumente bringt die Post für die Wand des Gedenkens. Die Rentnerin Nelli Iwanowna Makarowa aus Klein überwies an den Memorial-Fond hundert Rubel – die Abfindung für die Rehabilitation ihres Verwandten, dem ehemaligen lettischen Schützen Pawel Martynowitsch Melbard. Dieses Geld gilt in der Familie als heiliges Relikt, wird aufbewahrt und nicht ausgegeben. Die Frau ereilte das Schicksal der Ehefrau eines „Volksfeindes“, Sohn Alik ging an die Front, kam mit 19 Jahren ums Leben – das war 1942. Erst elf Jahre Später, im Jahre 1953, erhielt die Mutter im Lager die Nachricht von seinem Tod. Erhalten geblieben ist auch ein fast vollständig vermoderter Brief Aliks an die Mutter ins Lager: er überredet sie dazu an Beria zu schreiben und um Prüfung ihrer Akte zu bitten.
Wie viele solcher Brief gab es damals, die nie beantwortet wurden…
Und hier noch ein Zeugnis – die Kopie eines Gesuchs von Wassilij Afanassjewitsch Gussinin, Professor am Kasaner Institut für die weiterführende Ausbildung von Ärzten vom 1. November 1939:
„An den Generalsekretär des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (B)
Genosse Josef Wissarionowitsch Stalin
Der tiefste Glauben an die Wahrheit veranlasst mich dazu, bei Ihnen, dem größten Humanisten unserer Zeit, Gerechtigkeit zu suchen. Ich bitte Sie nicht um Gnade, aber um ein gerechtes Gerichtsverfahren. Ich bitte Sie um Schutz und Hilfe für einen Menschen, der in Kasan von einer Troika des NKWD Tatariens unschuldig verurteilt und im November 1938 mit einer Haftstrafe von 10 Jahren in eines der entlegenen Lager verschickt wurde. Dieser Mensch ist – meine Frau… Grundlage für die Beschuldigung ist das angeblich „eigene Geständnis der Angeklagten“. Worin dieses Geständnis bestand und mit welchen Methoden der Einflussnahme seitens der Untersuchungsbehörde es zu Stande kam, vermag ich nicht zu sagen, aber die Wahrheitstreue des Ermittlungsgutachtens kann schon deswegen angezweifelt werden, weil meine Frau im Gefängnis Beschwerde beim Unionsstaatsanwalt Wyschinskij einlegte. Leider hat ihre Beschwerde, wie es aussieht, ihren Bestimmungsort nie erreicht…“
Heute wissen wir: sie ist angekommen, hat jedoch keinerlei Beachtung gefunden. Ebenso wie die – die an Stalin gerichtet war. Und wie solche Geständnisse herausgeprügelt wurden, wissen wir heute auch. Margarita Pawlowna Petrowa aus Riga bezeugt: „Viele Jahrzehnte später gelang es, Überlegungen darüber zu lesen und zu hören, ob der Angeklagte das Protokoll „unterschrieben hat oder nicht“. Ich verkünde hiermit: nach erfolgter Folter ist das ohne Bedeutung.
Auf einem der Fotos, von einer handschriftlichen Notiz begleitet, sieht man ein reizendes junges Wesen, mit einem Profil wie aus Stein gemeißelt, und üppigen Haaren. Das Köpfchen ist abgewendet, die Wimpern nicht zu erkennen, an der Schulter steckt eine prachtvolle Rose. Eine wohlgeratene Schönheit, die liebt und geliebt wird… Das war M.P. Petrowa im Jahre 1937, als man sie aus dem fünften Kurs des Moskauer Medizinischen Instituts holte und sie ins Butyrka-Gefängnis steckte.
„Als sie die Tür zur Latrine verschlossen, stand ich dort drei Tage und Nächte, bis ich umfiel. Sie fingen an, die alten Bolschewistinnen zu schubsen, die nach den Zaren-Gefängnissen und Verbannungen unversehrt geblieben waren, und das Erste, was wir von ihnen zu hören bekamen, war: „Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wir – auch…“
Das stammt aus ihren Erinnerungen. Und noch dies:
„Die Menschen kamen auf den Etappen um. Mehr Männer… Gespräch zweier operativer Angestellter: „Na, und was hast du mit ihr gemacht?“ – „Ich habe sie zur Etappe abgeschoben…“
Tschita. Gefängnis. Zellen, in den Türen Gucklöcher, und ich – im Durchgang. Plötzlich eine männliche Stimme: „Ich bin – Grigorij Krylewjezkij (Brigade-Kommandeur der Luftfahrt, Mitarbeiter des Ehemannes von M.P. Petrowa. – Red.). Marotschka, mach dir keine Sorgen. Jetzt geht es Pawlusche besser“. – „Was ist mit ihm? Ich weiß nichts“. – „Er ist im Krankenhaus. Sie haben ihn beim Verhör zusammengeschlagen, ihm das Schlüsselbein gebrochen“. – „Was geht hier vor?“ – Wir verstehen es selber nicht. Sie prügeln uns zu Tode. All unsere Piloten haben keine Zähne mehr. Sie unterschreiben weiß der Teufel was…“
Endlich begriff ich – sie schicken mich Pawel hinterher“.
Pawel Martschenko – Kommunist seit dem Jahr 1917, Kriegskommissar der Luftfahrt-Brigade. Verfolgt und unterdrückt 1937, umgekommen in Kolyma 1947.
Michail Lwowitsch Goberman, professioneller Revolutionär, kehrte 1917 zusammen mit Lenin aus der Schweiz zurück, aus der Emigration. Er kämpfte gegen die Weißgardisten, floh am Vorabend seiner Erschießung aus der Gefangenschaft. Danach leistete er vaterländische Parteiabend in der Komintern. Nach seiner Rehabilitation im Jahre 1956 schrieb er alles auf, was nach der Verhaftung mit ihm geschah.
„Allein in der ersten Zeit nach meiner Verhaftung war ich vollkommen erschrocken über die Grausamkeit, sinnlose Bösartigkeit, die Misshandlungen, die bis zum Sadismus gingen, seitens der staatsanwaltschaftlichen Aufsicht und aller Ränge des MGB und NKWD. Während eines der nächtlichen Verhöre stürzten ins Zimmer des Ermittlungsrichters drei weitere Untersuchungsbeamte aus den benachbarten Räumen. Nach auserlesenen Schimpftiraden, die an meine Adresse gerichtet waren, beschlossen sie, sich ein wenig zu belustigen und eine „psychische Attacke“ vorzunehmen. Sie stellten mich mit dem Gesicht zur Wand und auf Kommando – ein, zwei, drei – inszenierten meine Erschießung. Drei heftige Schläge und mit lautem Gelächter und den Worten „was ist denn, Hurensohn, fällst du gar nicht um?“ – entfernte sich die Troika wieder“.
An die Woche des Gewissens gehen Zeugnisse jener Jahre, die von uns noch gar nicht so weit entfernt sind. Es kommen Menschen, die ihre Hilfe bei der Organisierung der Gedenkwoche anbieten. Als allererste nach der Veröffentlichung im „Ogonjok“ N° 29 über die Ausstellung von Memorial-Projekten meldete sich beim Kulturpalast der Moskauer Elektrolampen-Fabrik Irina Aleksandrowna Orlowa. Ihr Vater war in den Jahren 1938 und 1939 Leiter der Aufklärungsbehörde des Volkskommissariats der Verteidigung; er wurde posthum rehabilitiert. Sie sagte: „Ich werde alles tun, was nötig ist“. Jetzt kommen ihre Briefe zuerst bei ihr an.
Und was zwang Dima Jurassow, Student des Moskauer Instituts für Geschichte und Archivierung, dazu, bereits seit mehreren Jahren eine Kartothek mit den Namen und Zeugnissen über Opfer der Repressionen zusammenzustellen? Er sitzt in den Bibliotheken bis sie schließen, in den Nächten, damit er es rechtzeitig schafft – denn tagsüber arbeitet und abends studiert er, - vervollständigt er seine Kartei. Er kann bereits 131000 Gefangene des Stalinismus benennen, aber die Post aus der Woche des Gewissens bringt immer mehr neue Namen.
Was veranlasste das Jugend-Kulturzentrum des Stadtkomitees der Kommunistischen Jugendorganisation der nahe Moskau gelegenen Stadt Chimka die finanzielle Sicherstellung der Woche auf sich zu nehmen?
Welche Notwendigkeit bestand für Aleksander Wadimowitsch Wologodskij, einem vierzig Jahre alten Doktor der Physik- und Mathematik-Wissenschaften, Mitarbeiter des Instituts für Molekulargenetik, und zwei seiner dreißig Jahre zählenden Freunde – Viktor Wachinin und Jurij Potozkij – im Sommer, während des Urlaubs, auf ihre Kosten von Moskau ans Ufer des Jenissej zu fahren, um sich entlang der Gleise der unvollendeten und vergessenen Bahnlinie Salechard – Igarka, die mit den Händen von „Volksfeinden“ verlegt wurde, einen Weg zu bahnen?
Nur um einer Sache willen – die Erinnerung nicht schwinden zu lassen.
Nach den Rehabilitationen des Jahres 1956 leerte sich das Lager in der Siedlung Jermakowo, zweihundert Kilometer südlich von Igarka, und der Bau der Bahnlinie wurde eingestellt. Hier lebten früher 15.000 Unfreie. In einer der Baracken, in der sich offenbar die Verwaltung befand, stieß einer der Expeditionsteilnehmer zufällig auf einen Ofen. Ein Ziegelstein fiel heraus, und aus der Öffnung ergoss sich eine Kartothek mit den Akten von Gefangenen.
Auf den Fotos, die A.W. Wologodskij und seine Freunde aufnahmen und an die Woche des Gewissens einsandten, sieht man dicht mit Stacheldraht vergitterte Fenster, verfallene Baracken mit Reihen grob zusammen gehauener Pritschen und ein wie durch ein Wunder erhalten gebliebenes Brettchen mit dem Namen: Wladimir Petrowitsch Kobeschow…
Auf einer der Aufnahmen, man kann wohl sagen symbolisch, befindet sich ein baufälliger Wachturm, den ein Dickicht von wildem Waldwuchs vor den Augen zu verdecken sucht. Aber ihn endgültig zu beerdigen ist bislang nicht gelungen. Die Spitze ragt noch hervor, streckt sich nach oben, behauptet sich frech.
… Die Gesellschaft wird sich niemals vollständig vom abscheulichen Stalinismus säubern können. Deshalb treiben wir auch Memorial und die Woche des Gewissens mit aller Kraft voran.
Olga Nemirowskaja
„Ogonjok“, 1988, N° 46