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Was bedeutet Erinnerung?

Ich fürchte, dass ich den Zorn vieler erregen werde, aber ich möchte trotzdem meine Gedanken mitteilen. Heute wird viel darüber geredet, dass wir den Opfern der Repressionen unseren Tribut zollen müssen. Und sie sagen es nicht nur – im ganzen Land wird auch gesammelt (Spenden für Denkmäler zu Ehren der unschuldig umgekommenen Menschen). In meinen Gedanken überschlage ich: ungefähr ein Dutzend Monumente sollen bei uns in Sibirien errichtet werden und nicht ein einziges in der Region Krasnojarsk. Es scheint, als ob ich mit dem Triumph der Gerechtigkeit glücklich sein sollte, aber mein Herz protestiert gegen die Tatsache, dass große Spendengelder von Menschen in seelenlosen Stahlbeton verwandelt werden.

Ja leben denn die überlebenden Opfer der Unterdrückung bei uns wirklich so gut, und benötigt niemand von ihnen Barmherzigkeit? Sind denn die Ermittlungen zur Feststellung der Zahl der Repressionsopfer, ihrer Begräbnisorte, der Namen der Henker bereits abgeschlossen? Sind denn die Gräber der Verbannten, die weit entfernt von der Heimat verstarben, in unserer Region ordentlich gepflegt worden?

Viele Fragen drängen sich in meinem Kopf, und niemand kann mich davon überzeugen, dass der beste Tribut, den wir der Erinnerung an die Umgekommenen zollen können — Monumente aus Eisenbeton sind. Vielleicht ist ein Denkmal notwendig, aber es müsste ein echtes Kunstwerk sein, welches Jahrhunderte überdauert, wie ein drohendes Mahnmal. Doch dafür muss man sich nicht beeilen. Fragen Sie die Repressionsopfer selber, was sie denken, befragen Sie das Volk, und ich denke, dass sich nicht alle für eine solche Form der Verewigung des Andenkens aussprechen werden. Wie viele Monumente und flügellose Bauwerke bei uns, die mit der Zeit in Verfall geraten, verharren in Vergessenheit! Und die Arbeit hinsichtlich der Massen-Rehabilitationen, der Erforschung dieser tragischen Periode im Leben des Landes hat gerade erst begonnen, und das wird, ich wiederhole, beträchtliche Mittel erforderlich machen.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen Tatbestand vorbringen, wie nämlich in Polen die Verewigung der Erinnerung an Kinder gehandhabt wird, die in den Kriegsjahren hinter Stacheldraht ums Leben kamen. Hier hat man, ebenfalls mit Hilfe von Spenden, ein riesiges medizinisches Kinderzentrum errichtet. Es scheint, dass man sich gerade so erinnern muss. Und wir – wir treten für zahlreiche Denkmäler ein und würdigen den bloßen Formalismus.

Auch an meiner Familie ging diese landesweite Tragödie nicht vorüber. Viele Jahre habe ich vergeblich die Gräber meines Mannes und meiner Mutter; auch andere Angehörige habe ich verloren. Meine Erinnerung an die Unterdrückten ist – leidvoll. Und der Schmerz kommt nicht zur Ruhe, obwohl inzwischen seit ihrem Verschwinden Jahrzehnte vergangen sind.

W. MICHAILOWSKAJA, Rentnerin

„Krasnojarsker Arbeiter“ - 22.01.1989


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