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Man darf nicht vergessen

Bevor ich mich entschloss diesen Brief zu schreiben, habe ich lange nachgedacht. Nicht nur einen Tag oder zwei, sondern eine ziemlich lange Zeit. Ich sehe mir regelmäßig Fernsehsendungen an und lese die zentralen Zeitungen. Sie schreiben und zeigen viel über die Opfer des Stalinismus. Ich möchte sagen, dass ich all das erlebt habe. Am 31. Januar 1989 werde ich 72 Jahre alt. Zu meiner Zeit begann die Kollektivierung. Ich kann mich noch gut daran erinnern, auch an die NÖP, die neue ökonomische Politik. Geboren wurde ich in der Ortschaft Kutscherowka, hier bin ich zur Schule gegangen, absolvierte die Schule der Kolchosjugend. Einen Vater hatte ich nicht. Er wurde von Angehörigen eines Straftrupps, der Krassilnikow-Abteilung, erschossen. Natürlich war ich bei den Pionieren, anschließend trat ich der Kommunistischen Jugendorganisation bei. Ich höre die Sendungen über diejenigen, die unter dem Stalinismus zu leiden hatten, und ich finde es ist eine Schande für meine Landsleute aus Kutscherowka. Ob sich wohl jemand mit guten Worten an sie erinnert hat? Schließlich gibt es in Kutscherowka nur noch wenige Ureinwohner. Die ersten Opfer bei uns, so seltsam es auch scheinen mag, waren die besten Leute — rote Partisanen. Der erste von ihnen, der urplötzlich verschwand, war der Partisane und Kommunist Andrej Pronin {an seinen Vatersnamen erinnere ich mich nicht mehr). Dann kam mein Onkel Anton Ambrossewitsch Klimowitsch — Partisane und Matrose auf der «Aurora».

Seit meiner Kindheit erinnere ich mich an ihn — in seiner Matrosenuniform, und auf der Tellermütze und am Band — die Aufschrift «Aurora». Spurlos verschwand auch Jewdokij Grigorewitsch Sumakow, Vater von fünf Kindern, einer der ersten, die der Kolchose beitraten und der mit seiner Familie aufrichtig arbeitete. Ebenso verschwanden von Zuhause auch Jemeljan Rabezkij, Mitrofan Matusko und viele andere – und man weiß nicht wohin sie gekommen sind.

Von keinem von ihnen kam jemals irgendeine Nachricht. Es drang lediglich ein Gerücht durch, dass einer von ihnen, nämlich Anton Klimowitsch, im Kansker Untersuchungsgefängnis verstorben sein soll, weil er den Verhören nicht hatte standhalten können. Die Menschen werden posthum rehabilitiert. Aber wie und wann wurden diese Leute verurteilt? Wer kann heute etwas beweisen?

Damals arbeitete ich in Kutscherowka an der Grundschule. Ich hatte zwei Empfehlungen für den Beitritt in die Parteio. Eine von dem Parteimitglied und Lehrer I.S. Bobko, die zweite von N. Pronin, Sekretär der ursprünglichen Organisation. Beide kehrten nicht von der Front zurück. Einmal bestellten sie mich ins Bezirkskomitee der Komsomolzen-Organisation nach Ingasch. Wir dachten, dass sie mir dort meinen Parteimitgliedsausweis aushändigen würden. Stattdessen forderten sie mich auf, meinen Komsomol-Mitgliedsausweis auf den Tisch zu legen.

Sie sagten mir, dass mein Mann Michail Sawtschuk der Sohn von als Großbauern enteigneter Eltern wäre, und mein Onkel A.A. Klimowitsch — ein Volksfeind.

Meinen Mann holten sie an die Front, wo er am 22. April 1942 im Gebiet Woronesch, Liskinsker Bezirk, ums Leben kam. Mir sind zwei Jungen geblieben. Sie ließen mich nicht in Ruhe. Im Mai 1942 holte mich eines Nachts ein Bote ab und brachte mich zum Dorfrat. Ich lebte in der Wohnung meiner Tante. Beim Dorfrat nahm mich ein Mann mit Koppel in Empfang. Ohne seinen Namen zu nennen, befahl er mir, ihm alles zu sagen, was ich an Meinungen gegen die Staatsmacht gehört hätte, auch wenn meine Verwandten es gesagt hätten. Er verlieh mir das Pseudonym «Poscharskaja» und ließ sich meine Unterschrift für die strikte Geheimhaltung dieser Unterredung geben. Einstweilen ging ich nach Hause; meine Tante weinte, weil sie in dem Glauben war, dass sie mich ebenfalls verhaftet hätten. Ich beschloss, meine Kinder bei meiner Schwester im Dorf Nikolajewka unterzubringen; ich selbst begab mich nach Reschoty und fand Arbeit in der Zone für Zivilangestellte bei der Handelsabteilung. Es war eine gute Arbeit, im Kontor gab es auch Gefangene, die nach § 58 verurteilt worden waren. Die Menschen waren sehr höflich und gebildet. Sogar aus den Ministerien waren Leute da, aber alle mit Wachbegleitung. Insgesamt waren wir nur drei in Freiheit lebende Frauen.

Einmal holten sie mich per Telefon in die Sonderabteilung. Sie beschimpften mich, dass ich ohne Aufforderung und Nachfrage aus Kutscherowka fortgegangen wäre; erneu gaben sie mir ein Pseudonym - «Biestfliege», verlangten meine Unterschrift und gaben mir einen Pass für die Zone für einen Zeitraum von 24 Stunden. Sie erteilten mit Anweisung , nähere Bekanntschaft mit den Männern zu suchen, die nach § 58 verurteilt worden wären, alles über sie herauszufinden und sie dann zu denunzieren. Ich musste den Rat kluger Leute einholen, die ahnten, weshalb man mich in die Sonderabteilung bestellt hatte; ich kündigte. Lange Zeit hatte ich große Angst. Ich arbeitete in der Kolchose «Sieg» in der Buchhaltung und beschloss dann, meinen Nachnamen zu ändern. Ich sprach mich heimlich mit jemandem ab und ließ mich registrieren.

Unter neuem Familiennamen fand ich zunächst eine Stelle in der Kraslag-Lagerzone des Ministeriums für innere Angelegenheit – ich hieß nun Romanowa, und später — 1965 — in der Kolophonium-Fabrik, wo ich auch jetzt noch wohne. Es ist nur sehr kränkend, dass mir nach all diesen Erlebnissen, von denen ich sogar niemandem etwas erzählt habe, in meinem Alter und wo ich doch krank bin, niemand irgendeine Nachsicht angedeihen lässt, egal, mit welcher Bitte ich mich auch an ihn wende. Aber um mich geht es schon gar nicht mehr, ich muss sowieso bald sterben.

Es ist eine Schande für meine Landsleute, die unschuldig umgekommen sind, wenn niemand sich mit einem guten Wort an sie erinnert.

ANNA ROMANOWA
Pobeda (Nischnik Ingasch) - 02.02.1989


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