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Ich will euch erzählen...

In der Ausgabe ¹ 147 für den 1. Dezember 1988 war ein Artikel von A. Nesterow mit der Überschrift «Als das Gesetz schwieg» abgedruckt, in dem von unseren Landsleuten berichtet wurde, die, völlig unschuldig, Repressalien ausgesetzt wurden. Auf diese Veröffentlichung reagierte A.F. Judina, die Tochter von F.T. Sanin, der in der Zeitung erwähnt wird. Folgendes hat sie geschrieben:

«Ich lebe in der Stadt Nasarowo in der Region Krasnojarsk. Ich will über meinen Vater schreiben, der während der Verfolgungen 1937 in der Siedlung Kuragino festgenommen wurde. Für unsere Familie bedeutete das ein großes Unglück. Ich kann mich noch genau erinnern, wie es damals war. Ich war 14 Jahre alt und besuchte die 7. Klasse. Unsere Familie bestand aus fünf Leuten: Vater, Mutter und drei Kinder. Valentina war 9 Jahre alt, Leonid 7. Jeder weiß, was es bedeutet, wenn der Vater fehlt, was für ein Leben wir ohne Ernährer führen mussten, und dann waren wir ja obendrein auch noch —«Feinde».

Unser Vater arbeitete im Kraftwerk als Schlosser; er war ein einfacher Arbeiter, aber alle mochten und respektierten ihn — er verrichtete seine Arbeit ohne Widerrede, ohne auf die Uhr zu schauen. Er verstand es, allen Gutes zu tun. In allem war er ein Meister. Ob es darum ging, etwas zu nähen, etwas zu reparieren – er konnte alles. Dabei tat er es für alle unentgeltlich. Er liebte seine Arbeit — saß, manchmal auch nachts, reparierte alles, was die Leute ihm zum Instandsetzen gebracht hatten. Er ging gern zur Jagd, zum Fischen, daher hatte er auch eine Menge Freunde.

Später erfuhren wir, dass, als die Frage aufkam, wer von den Milizionären Sanin abholen sollte, sich alle weigerten. Die Wahl fiel schließlich auf den Bevollmächtigen Fedjanow. Er war mit dem Vater befreundet. Er erzählte uns, dass als der Vater, als er ihn wegführte, ganz schutz- und wehrlos war. Bei Fedjanow flossen die Tränen — er wusste, wohin er ihn brachte. Später kam ein Mann, der sagte, dass er wie durch ein Wunder aus dem Minussinsker Gefängnis entlassen worden wäre, und er berichtete, dass unser Vater dort den Hungerstreik erklärt hätte. Das war alles, was wir vom Vater hörten. Nächtelang schliefen wir damals nicht — alle warteten auf ihn.

Welche Torturen unsere Familie durchmachen musste — kann man etwa über all das schreiben? Wir hatten alle Angst, gingen den Leuten aus dem Weg, denn die überwiegende Mehrheit glaubte doch aufrichtig wir wären — Volksfeinde.

Ich habe 8 Schulklassen absolviert. Mutter sagte: «Du musst nun arbeiten, denn wir haben nichts, wovon wir leben können». Man benötigte eine Bescheinigung über die soziale Herkunft, um eine Arbeit antreten zu können. Der Dorfratssekretär war nachsichtig und machte eine Ausnahme, indem er keinen Vermerk über den Vater eintrug. Aber als ich zum Vorsitzenden ging, um das Dokument beglaubigen zu lassen, fügte er mit seiner knorrigen Hand hinzu: «Vater von den NKWD-Organen verhaftet». Dies Bescheinigung flimmert bis heute vor meinen Augen. Ich schlug mich mit ungelernten Tätigkeiten in einer Hanffabrik durch. So viel schwere Arbeit, so viele Demütigungen habe ich erlebt!

Ein Verwandter brachte mich nach Tura in Ewenkien. Dort begann ich ein ruhiges Leben zu führen. Niemand wusste etwas über mich. Nach dem Krieg nahm ich meinen älteren Bruder auf und half ihm beim Lernen. Er kam mit dem Schiff. Ich holte ihn ab, und die Tränen stürzten mir aus den Augen— er stand da in einer aus einem Sack genähten Hose, nur halb bekleidet und in Galoschen. Mein Mann und ich holten ihn ab, gaben ihm zu essen, denn er war beinahe zwei Monate unterwegs gewesen.

Mein Mann arbeitete im Kriegskommissariat, wir führten ein gutes Leben. Doch einmal ist meine Biografie «aufgetaucht». Irgendeiner im Wehrkommando sagte zu meinem Mann: «Wen hast du denn da geheiratet? Die Tochter eines Volksfeindes! Sieh zu, dass du sie verlässt, so lange es nicht zu spät ist». Zuvor hatte ich meinem Mann schon alles erzählt. Heimlich hatte er eine Anfrage gestellt. Man schickte ihm zur Antwort: «F.T. Sanin, verhaftet vom NKWD im Jahre 1937, freigelassen 1939, seine Tochter ist politisch ungefährlich». Das erzählte mein Mann mir.

Heute leben wir gemeinsam und sind ein Herz und eine Seele, er — ehemaliger Kriegsteilnehmer, ich— Rentnerin. Wir haben zwei Kinder: eine Tochter — sie ist Ärztin, und einen Sohn — Schweißer auf höchstem Niveau. Wir haben auch Enkel. Die Brüder Leonid und Valentin — Piloten, Kommandeure einer Tupolew-154-Besatzung. 32 Jahre haben sie am Himmel verbracht, jetzt befinden sie sich im Ruhestand; der Sohn vom Jüngsten ist auch Pilot. Sie leben in Krasnojarsk. Wir kommen an Feiertagen zusammen, denken an die Vergangenheit zurück, als wir manchmal nach einem Stückchen Zwieback suchten. Ohne Scham weinen wir. Wie viel bitteres, aber auch schönes, wurde uns in diesem Leben zuteil – man kann es gar nicht glauben! Wir halten das Andenken an den Vater in Ehren.

Und nun will ich von denen schreiben, an die ich mich noch erinnern kann. Mit der Familie des Vorsitzenden des Bezirks-Exekutivkomitees Ò. Ê. Wysokos hatte ich Kontakt, seine Tochter Nina und ich waren Freundinnen. Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung. Es war ein klarer, sonniger Sommertag. Die zierliche, sympathische Nina kam zu uns in die Uferstraße. Wir wohnten gegenüber der Miliz. In ihren Augen waren keine Tränen, aber Hass auf diejenigen, die ihren Vater verhaftet hatten. Sie war vollkommen verzweifelt. Laut und wütend schrie sie, dass dieser Dreckskerl eines Tages für ihren Vater noch bezahlen würde. Sie sagte, dass sie sich vor nichts fürchtete, dass es kein schlimmeres Wort als das Wort «Feind» gäbe. Später verließ sie den Ort zusammen mit ihrer Mutter.

Jeden Tag verhafteten sie irgendeinen und brachten ihn fort. Wir wohnten gegenüber dem Milizgebäude, und alles geschah vor meinen Augen. Eine Episode ist für immer in mein Herz gedrungen, und ich werde sie niemals vergessen.

An unserem Haus wurde eine Häftlingsetappe vorübergeführt, Staub wirbelte auf. Unter Bewachung und in Ketten gelegt, befanden sich etwa fünfzig Personen. Oh, wie entsetzlich! Unter ihnen mein Retter – der Chirurg Michelsson mit seiner Frau und den Fotografen – den Eheleuten Martynow. Ich kannte sie alle gut, war oft bei ihnen zu Hause gewesen. Michelsson arbeitete als Chirurg in Kuragino, später in Artemowsk. Er war ein Gemütsmensch, die Leute kamen aus dem gesamten Bezirk zu ihm. Er hat mich einmal operiert, und seine Frau brachte mir Pakete — eine herzensgute Frau!

Und die Martynows wurden aus folgendem Grund fortgeholt. Einmal trafen die Kuraginer den ehemaligen Direktor des Artemowsker Bergwerks Aldadanow (nach seinem Namen wurde ein Schiff benannt). Martynow fotografierte ihn. Aldadanow wurde später verhaftet, Martynow ebenfalls, man beschlagnahmte die Negative. Der Sohn der Martynows blieb allein zurück, wurde krank und litt an Hunger. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Ihr Haus steht bis heute in der Anikienko-Straße.

Die Häftlingsprozession, wie sie da gingen – oder vielmehr rannten – werde ich niemals vergessen.

„Iljitschs Vermächtnis“ (Kuragino) - 02.02.1989


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