Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Kreuze und Sterne des Nordwikstroj

Wurzeln

Über das NorilLag ist in den vergangenen zwei-drei Jahren nicht gerade wenig geschrieben worden, obwohl es ganz offensichtlich ist, dass wir uns erst auf dem Wege der Annäherung an dieses schwierige und tragische Thema befinden. Noch offenkundiger ist die Tatsache, dass uns über die anderen Lager des Taimyr-Gebiets praktisch überhaupt keine Kenntnisse vorliegen. Es geht nicht nur um die Lager des Norilstroj — bruchstückhafte Informationen darüber, die aus der Archiv-„Sonderbewachung» durchsickern, werden dennoch zum Eigentum der Öffentlichkeit. Einen erheblich undurchlässigeren Schleier stellten die "Geheimnisse um die Geschichte des nicht weniger großen Komplexes von Objekten der Arbeitsfront“ - des Nordwikstroj - dar.

Die uns darüber vorliegenden Informationen sind selbstverständlich weit von irgendeiner Vollständigkeit entfernt — ein geographischer Steckbrief, die Erinnerungen von ein paar Augenzeugen, persönliche Eindrücke, resultierend aus Besuchen der Lager-Ruinen, Fotografien...

Also, die Bucht von Nordwik. Teilweise gehören ihre Ufer zur Halbinsel Taimyr, ein großer Teil — zu Jakutien. Auf dem 73. Breitengrad. Die Laptew-See. Hügelige arktische Einöde mit Gerippen von Gebäuden und verrosteten Gegenständen. Auf Kesseln, Akkumulatoren und sogar Schraubenmuttern — Stempelungen in lateinischer Schrift, auf Ebenholzteilen — umfangreiche Aufschriften in englischer Sprache. Konservendosen von amerikanischem Schmalzfleisch.

Die Bucht von Nordwik — das ist genau die Mitte des Nordmeer-Seewegs. In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges bunkerten die Alliierten hier Schiffe mit heimischer Kohle, die mit Frachtladungen nach dem Leih- und Pachtgesetz (lend lease) nach Murmansk ausliefen.

Nordwikstroj und Norilstroj hatten vieles gemein. Hier wie dort wurden Minen gebaut, intensive geologische Forschungen durchgeführt und Zwangsarbeiter zum Einsatz gebracht. Zwischen Norilsk und Nordwik gab es einen regelmäßigen Linien-Flugverkehr. Es kam vor, dass diejenigen, die sich im Norillag etwas hatten zu Schulden kommen lassen, zur Umerziehung weiter in den Norden geschickt wurden, und meistens war es so, dass sie dort einen langsamen Tod erlitten.

Piloten, die über diese vergessene Fluglinie fliegen, sind erstaunt darüber, wie viele abgestürzte Flugzeuge entlang dieser Strecke liegen — Transportflugzeuge, Passagierflugzeuge und Flugzeuge, die im Zusammenhang mit dem Leih- und Pachtgesetz unterwegs gewesen waren... Augenzeugen erinnern sich, dass mit Maschinen des Typs «Douglas» und LI-2 Häftlinge transportiert wurden. Zudem wurden «Todeskandidaten» im Flugzeugrumpf unter den Schnurbändern befördert, wo man sie beinahe niedertrampelte. Auf der Linie wurden die am meisten abgenutzten und am häufigsten reparierten Flugzeuge eingesetzt. Man erzählt, dass die Besatzung und ein paar Wachleute Fallschirme zur Verfügung gehabt hätten, so dass nicht jeder Pilot sich um das Leben seines Flugzeugs oder der «Fracht» Sorgen gemacht hätte.

...Neben dem Lager – ein riesiger Friedhof. Die zahlreichen Passagierflüge wurden mit der gewöhnlichen Begründung erklärt, dass die Arbeitskräfte beim Nordwikstroj ständig ausfielen. Bis Mitte der fünfziger Jahre befand sich der Friedhof in einem vorbildlichen Zustand. Nicht alles natürlich. Die Gedenksteine über den kleinen Hügeln waren mit künstlerischem Einfallsreichtum hergestellt, die Fundamente fielen durch ihre Pracht ins Auge — unter ihnen liegen Wachleute, Behördenmitarbeiter. Bei den einfachen Zivilangestellten und Verbannten — hölzerne Pyramiden und Trauerkreuze. Tausende Gefangene wurden überhaupt nicht mit persönlichen Bestattungen gewürdigt. Die Grenze, mit der sie schon zu Lebzeiten von den anderen abgesondert waren, bestand auch nach ihrem Tod weiter.

Es herrschte Krieg. Großbritannien und die USA lieferten uns Kriegstechnik, von uns erhielten sie Rohstoffe — für deren Produktion. In den riesigen Marinestütz-punkten Nordnorwegens konzentrierten die Faschisten ihre Flottenstärke. Torpedoflugzeuge und Jagdbomber griffen fast täglich Konvois der Verbündeten an. Die Verluste waren katastrophal; die See-Linie, die an Skandinavien vorbeiführte, erwies sich als praktisch abgeschnitten. Und die Schiffe fuhren von Osten nach Murmansk — vorbei an Nordwik. Die «Blüte» des Nordwikstroj kam 1944.

Schachtarbeiter hackten Kohle für die Feueranlagen der Dampfer. Hier wurden Schiffe repariert, die durch das Eis Schaden genommen hatten, Trinkwasser-Vorräte aufgefüllt. Es gab in Nordwik auch ein Salzbergwerk, und das Salz wurde in den Jahren des Krieges, wie bekannt, nicht mit Gold, sondern mit Munitionsvorräten aufgewogen. In der Bucht ankerten die Schiffe der Alliierten und warteten auf eine normale Eis-Lage in der Wilkizkij-Straße (Meerenge, welche die Taimyrhalbinsel im Norden Sibiriens von der Inselgruppe Sewernaja Semlja trennt; Anm. d. Übers.).
Der Preis für unsere Siege ist bitter und unermesslich. Wie viele Menschen liegen hier — im kalten nordländischen Boden? Wir lesen die Nachnamen, den Gedenktext auf den Kupfertafeln der Gräber von Wachleuten, Spezialisten, Stoßarbeitern, Zivilangestellten. Wir versuchen sie zu zählen und – verzählen uns. Die Zahl derer, die in Massengräbern bestattet wurden, — ist zehnmal größer. Es ist nicht leicht, die damalige Zeit zu beurteilen. Manche sagen, dass es füreine reibungslose, störungsfreie maritime Kommunikation schwierig gewesen wäre, einen anderen, weniger opferreichen Weg zu beschreiten. Aber der Friedhof in Nordwik füllte sich auch nach dem Krieg reichlich. Mehr als die Hälfte aller Datumsanzeigen auf den Gedenksteinen und Kreuzen weisen die Jahre — «1947», «1949» aus...

Nordwik heute — das sind verlassene Schachtanlagen, verfallene Siedlungen, ausradiert von den Lotsenkarten der Seehäfen, bei einer Vielzahl von Expeditionen geraubte Ausrüstungsgegenstände, vergessene Namen... Und in der stalinistischen Großen Sowjetischen Enzyklopädie finden sich — drei umfangreiche Artikel über die Bucht.

Wir verließen Nordwik mit schwerem Herzen. Wir dachten daran, bald dorthin zurückzukehren, fuhren dann aber nach Dikson, wo in dem Augenblick der Verleger aus der amerikanischen Stadt Dickson, William E. Shaw, eintraf. Die Freundschaft der beiden Dicksons — ein ferner Nachhall der uralten Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern. Die Freundschaft festigt und entwickelt sich. Ein denkwürdiger Meilenstein in ihrer Geschichte — die Kreuze und Sterne des Nordwikstroj.

À. LEWENKO, Korrespondent der Zeitung «Sowjetischer Taimyr»
Fotos: À. Prossekowa

„Sapoljarnaja Prawda“, 08.07.1989


Zum Seitenanfang