Zu Beginn der 1940er Jahre begann die Aussiedlung der Bewohner Lettlands und der andern baltischen Republiken nach Sibirien. Ein weiterer mächtige Ausbruch dieser Art ereignete sich 1949, als die sogenannten Kaufmannsfamilien der Verfolgung ausgesetzt waren. Tausende Menschen, gebrochen durch Ungewissheit, Erniedrigung, Strapazen während der Fahrt und grausame Winter, konnten niemals wieder in ihre Heimat zurückkehren. Unlängst kamen Vertreter der Lettischen SSR zu uns, um gemeinsam mit denen, die wie durch ein Wunder Stand gehalten hatten und jetzt in Krasnojarsk leben, der umgekommenen Landsleute zu gedenken.
Marzis Olynsch und Ingmars Lizka, die anlässlich der Versammlung eine Rede hielten, erzählten, dass in Riga an diesem Tag eine Totenwache mit Trauerminute abgehalten und am Abend eine Kundgebung auf dem Domplatz stattfinden würde, die mit einer Blumenniederlegung am Freiheitsdenkmal enden sollte.
Aber natürlich waren die emotionalsten und erbarmungslosesten Erinnerungen die der Teilnehmer an der Begegnung. Hier einige Bruchstücke aus ihren Berichten.
- Sie transportierten uns in Viehwaggons ab, gaben uns einmal am Tag einen Eimer Wasser, der für alle reichen musste. Ausgesiedelt wurden hauptsächlich Frauen und Kinder. Die Waggons zu verlassen war unmöglich; die Menschen starben an Hunger und aufgrund der erstickenden Enge.
- Die Sibirer waren uns gegenüber feindlich gesinnt, nannten uns Faschisten. Aber später fingen sie an, unseren Fleiß und unsere Kultur zu schätzen.
- Am Tag gaben sie uns 400 Gramm Brot und einmal eine Brühe aus Wasser, ein paar Graupen und einem Löffel Fett. Und all das musste man sich verdienen.
- Die Kinder litten am meisten von allen. Ich erinnere mich an einen Vorfall, als ein kleines Kind vom Fußboden ein Brotkrümelchen aufhob, aber es aß den Bissen nicht selber, sondern gab ihn der Mutter, damit sie ihn unter den Kindern aufteilen konnte.
- Sie setzten uns am Ufer des Jenissei ab, unweit von Igarka. Es war Oktober – hinter dem Polarkreis war es kalt, sie hackten den gefrorenen Boden auf , errichteten Zelte. Vor dem Wintereinbruch zählten wir 650 Menschen, bis z7um Frühjahr waren es noch 27.
Die einstigen Stalin-Lager brannten, und beißender Rauch breitete sich über dem verwelkten Gras aus, schwebt fort in den entlegenen Wald. Blickt man auf den Stacheldraht, der immer noch im Winde klirrt, scheint es, als ob jemand von dem sich aus den Flammen erhebenden Lager-Wachturm nun gänzlich unnötig gewordene Dekoration zu diesem Spektakel herabgeworfen hat. Es ist wichtig, dass dieses Feuer unsere Erinnerung an die Vergangenheit nicht verbrennt, damit die Blätter des Kranzes immer frisch bleiben, der auf den Wellen schaukelt.
Schwimm nur, Trauer-Kranz! …
(Krasnojarsker Komsomolze“. 17.06.89, „Krasnojarsker Arbeiter“, 04.07.89)
„Elgawsker Bote“, 5. August 1989