Mit ihren sechsundachtzig Jahren hat Anna Filippowna Raichel (Reichel) viele Episoden des Lebens im Gedächtnis behalten. Eine besondere Seite im Buch ihres Lebens nehmen die Stalinschen Repressionen ein, denen zuerst Anna Filippownas Ehemann ausgesetzt war – und später auch sie selbst.
Acht Jahre Lagerhaft, acht Jahre Verbannung. Im Jahre 1956 wurde sie rehabilitiert. Ganz allein lebte sie in Riga, von den Verwandten gab es nur noch einen Neffen. Er war es auch, der Anna Filippowna dazu überredete, ihren Wohnsitz nach Krasnojarsk zu verlegen. nd anfangs war auch alles schön und gut. Die neue Wohnung, der Neffe ganz in ihrer Nähe. Selbst als er nach Beendigung des Krasnojarsker Medizinischen Instituts eine Dienstanweisung für die Stadt Tschernogorsk erhielt, löste das keine besondere Beunruhigung aus. Er war der Tante stets behilflich, und sie selbst verfügte auch noch über genügend Kräfte um in den Laden zu gehen und Lebensmittel einzukaufen.
Jetzt kann Anna Filippowna sich nur mit Mühe vorwärtsbewegen; außerdem sieht und hört sie schlecht. Ihr fortgeschrittenes Alter und das,was sie in ihrem Leben alles durchgemacht hat, machen sich bemerkbar. Eigentlich sollten alle, die die sie kennen, sie in diesen schweren Minuten unterstützen. Aber nachdem der Neffe eine neue Wohnung bekommen hatte, hüllte er sich in Schweigen. Und danach wurde Anna Filippowna von einem weiteren Elend überrascht. Es ging von einer Nachbarin in der Gemeinschaftswohnung der Fyrkows aus. Anfangs schnitten und mieden sie alle, die die Alte besuchten. Dann kam es zu Skandalen mit unflätigen Beschimpfungen und Drohungen. Denn all ihre Anstrengungen richteten sich nur auf eines: jene Quadratmeter zugewiesen zu bekommen, die von der „in Ungnade gefallenen Alten“ bewohnt wurden.
Als ich mit Anna Filippowna zusammentraf, wohnte sie bei Familie Kadatsch, zwei Stockwerke über ihrer Wohnung (diese Leute waren es auch,die die Redaktion darum baten, am Schicksal von A.F. Reichel Anteil zu nehmen). Ich frage Anna Filippowna, weshalb sie ihre Wohnung verlassen hat.
- Ich habe Angst vor den Nachbarn,- höre ich als Antwort. – Und so habe ich mich dort abgemeldet. Bald gehe ich in ein Altenheim.
- Womit haben die Nachbarn Sie denn geärgert?
- Ich weiß es selber nicht. Sie sagen, daß ich ein Störenfried in ihrem Leben bin. Ich habe so viel Müll. Aber in meinem Zimmer ist es immer sauber gewesen. In letzter Zeit war die Nachbarin aber wieder etwas freundlicher zu mir. Das war, nachdem ich mich dazu bereit erklärt hatte, in ein Altenheim umzuziehen. Da haben sie ganz schnell den Papierkram erledigt. Die Nachbarin fing sogar an, ihren kleinen Enkel mit Gebäck zu mir zu schicken. Aber von ihr nehme ich nichts an. Ich sage ihr, daß ich alles habe, was ich brauche ...
- Einige Nachbarn betrachten auch uns mit Mißtrauen, - mischt sich Wohnungsinhaber Viktor Petrowitsch Kadatsch in das Gespräch ein. – Sie sagen, wir hätten der alten Frau Unterkunft gewährt, weil wir darauf hoffen,ihr Erbe einmal zu bekommen – ein paar tausend Rubel.
- Woher soll ich die denn haben? – wunderte sich Anna Filippowna.- Nach meiner Rehabilitation habe ich 820 Rubel erhalten.Für das Geld habe ich ein kleines Häuschen gekauft ...
Die Familie Kadatsch half Anna Filippowna damals, als es ihr noch wirklich gut ging; und auch jetzt läßt sie die alte Frau nicht allein. Und Jewgenia Michailowna Kadatsch wandte sich an die Redaktion, weil sie überhaupt nicht wußte, wo sie „anklopfen“ sollte, und bloß mit gefalteten Händen dasitzen und am Elend der alten Frau vorbeisehen – das konnte sie nicht. Über viele Dinge haben wir in dieser Familie gesprochen. Über mangelnde Barmherzigkeit, Güte, Aufrichtigkeit, die Einsamkeit alter Menschen, von denen viele jenseits der „Armutsgrenze“ leben. Auf einer Sitzung des Obersten Sowjet der UdSSR wurde beschlossen, die Rentenbeträge wenig bemittelter Menschen bereits ab dem 1. Oktober heraufzusetzen, allerdings steht der Anstieg der Lebenshaltungskosten auch nicht im rechten Licht. Und wo gibt es eine Garantie dafür, daß selbst bei einer „guten“ Rente die schwachen und kränklichen Alten vor Ansprüchen und Grobheiten anderer und vor Einsamkeit geschützt sind?
Jetzt wohnt Anna Filippowna in einem Altenheim. Eine typische Geschichte aus unserer heutigen Zeit ....
J. Tokmanzew,
Student an der Fakultät für Journalismus der Staatlichen Universität Swerdlowsk
Stadt Krasnojarsk
„Krasnojarsker Arbeiter“, 09.08.1989