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Das Schicksal meines Volkes

Die nationale Frage: Ansichten aus den 1980ern

In Krasnojarsk trifft man derzeit Vorbereitungen für die Einrichtung einer Filiale der All-Unionsgesellschaft der Sowjet-Deutschen (WOSN) „Wiedergeburt“. Das Schicksal dieses Volkes ist eine von vielen Tragödien, welche die Stalinistische Epoche als Erbe hinterlassen hat.

Bis in die jüngste Vergangenheit ist dieses Problem vollkommen totgeschwiegen worden. Erst mit dem Aufkommen der Glasnost tauchten in den zentralen und lokalen Zeitungen Artikel auf, die dem Schicksal der sowjet-Deutschen gewidmet waren. Doch in ihnen findet sich oft nur Oberflächliches. Tiefgründige Prozesse werden darin praktisch nicht berührt.

Wie verhält man sich beispielsweise gegenüber dem Umstand, dass die Emigrationsstimmung unter den Sowjet-Deutschen zugenommen hat? In den meisten Veröffentlichungen über den einen oder anderen Fall ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich als Leitmotiv der Gedanke über die Grundlosigkeit dieser Handlungen ab. An was fehlte es den Leuten denn? Sie hatten genug zum Leben (und deutsche Familien verstehen es tatsächlich, sich einen gesunde Haushalt zu schaffen), aber jetzt machen sie sich auf den Weg in das Land, wo man sie schlecht aufnimmt, wo sie noch viel mehr Schwierigkeiten erfahren werden. Natürlich ist es besser zu Hause zu bleiben. Aber weshalb verlassen tausende Menschen den angestammten Ort, verkaufen, teilweise für einen Spottpreis, ihren Besitz und reisen in ein Land aus, das sie nicht kennen, aber in dem sie hoffen, ihre zweite Heimat zu finden? Einer von denen, die sich ebenfalls auf die Abfahrt in die Bundesrepublik Deutschland vorbereiteten, antwortete anlässlich eines Zeitungsinterviews auf diese Frage wie folgt: „Ich möchte meine Sprache, meine Kultur, meine Sitten und Gebräuche wahren“. Das bittere Geständnis eines Mannes, der für den Erhalt seiner nationalen Eigenarten im eigenen Lande keine Möglichkeiten sieht.

Welchen Platz nimmt des zwei Millionen Menschen zählende deutsche Volk unter den Völkern und Nationen der Sowjetunion ein?

Wenn man nach der Anzahl Menschen geht – den vierten. Berücksichtigt man die Realisierung der konstitutionellen Rechte – wohl den letzten. Praktisch alle zahlenmäßig größeren Völker des Landes besitzen ein Staatswesen, ein Territorium, Verwaltungsorgane. Aber zwei Millionen Deutsche wurden über das ganze Land verstreut angesiedelt. Die Zerrissenheit und Isoliertheit einer Nation sind – ihr Untergang. Es verlieren sich nach und nach Kultur, Sprache und Gebräuche. In den deutschen Familien haben sie sogar angefangen, aus dem eigentlichen häuslichen Umgang miteinander zu verschwinden.

Als Fachmann der Hauptverwaltung für Volksbildung befasse ich mich gerade mit den nationalen Schulen in der Region. Bei uns gibt es weder Schulen, noch Schulklassen, in denen deutsche Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, obwohl allein in der Regionshauptstadt fünftausend Deutsche leben. Die Sprache der Eltern und Großväter lernen die Kinder auf allgemeinen Grundlagen, doch der Grund dafür liegt nicht allein am Fehlen nationaler Schulen. In einigen Bezirken der Region hat die örtliche Leitung vorgeschlagen, wenigstens nationale Klassen zu schaffen. Die Eltern lehnen das ab, weil sie keine Perspektiven für die Entwicklung des Volkes sehen; sondern der Meinung sind, dass die Muttersprache ihren Kindern im weiteren Leben nicht nützlich sein kann – zu eng sei die Sphäre ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Neben dem Anstieg der Emigrationsbereitschaft ist das eine besorgniserregende Erscheinung; die Weigerung, die kulturellen Traditionen des eigenen Volkes fortzusetzen – findet ebenfalls statt.

Die Ursprünge der heutigen Probleme muss man in jener tragischen Zeit suchen, als die Sowjet-Deutschen auf Befehl Stalins aus dem Wolgagebiet ausgesiedelt und zur ewigen Ansiedlung in die Republiken Mittel-Asiens, nach Kasachstan und Sibirien verschleppt wurden – als Feinde, als unzuverlässiges Volk. Zu Beginn des Krieges wurde verkündet: „Wir kämpfen nicht gegen das Volk, sondern gegen den Faschismus. Die Hitler-Leute werden kommen und gehen. Die Völker bleiben“, - tatsächlich verkündete Stalin dem deutschen Volk um eigenen Lande den Krieg. Zu Sonderumsiedlern wurden sogar die Deutschen erklärt, die nicht ständig in den mittelasiatischen und sibirischen Regionen wohnten und nirgendwohin umgesiedelt wurden.

Aus der aktiven Armee wurden die Soldaten und Kommandeure deutscher Herkunft abgezogen. Es wurde eine Arbeitsarmee hinter Stacheldraht geschaffen, in die alle erwachsenen Männer und kinderlose Frauen mobilisiert wurden. Faktisch waren dies GULAG-Lager.

Das Leben in den neuen Siedlungsorten war nicht leicht. Wenn es schon die eingeborene Bevölkerung schwer hatte – alles war für die Front, so hungerte bei den Sonderumsiedlern jeder Einzelne. Allerdings muss man sagen, dass viele Ortsansässige sich wohlwollend gegenüber den Deutschen verhielten und ihnen so gut es ging halfen.

Ich glaube, dass an der heutigen Situation des deutschen Volkes auch noch ein anderer Faktor eine wesentliche Rolle spielt. Schwer wog das Stigma des Feindes, das einen überallhin verfolgte. Und gleichzeitig quälten einen die Gedanken: immerhin ist es mein Stammesbruder, der mein Land, die in ihm lebenden Völker überfallen hat!...“ Eine derartige Situation rief bei jedem Deutschen das Bestreben hervor, unerkannt, unbemerkt zu bleiben. Die Sprache konnte sie verraten! Deswegen begannen sie, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb vieler Familien, Russisch oder Kasachisch miteinander zu sprechen. Sonderumsiedler blieben die Sowjet-Deutschen auch dann noch, als auf der Weltkarte der neue sozialistische deutsche Staat auftauchte.

Kürzlich führte die Wochenzeitung „Argumente und Fakten“ interessante Zahlen über die Zahl der Sonderumsiedler in der UdSSR an. Nach Angaben zum Jahr 1953 zählte man um Land 2.753.356 Sonderumsiedler, darunter – 1,224,931 Deutsche! Wie viele traumatisierte Menschen! Und so ging es weiter bis 1956.
Heute gestehe ich ein, dass die Sowjet-Deutschen, ebenso wie die Krim-Tataren, Tschetschenen, Griechen, Türk-Mescheten völlig unschuldig Repressionen ausgesetzt wurden. Aber trotzdem hat es keine vollständige Rehabilitierung des deutschen Volkes gegeben. Bis heute ist kein Ukas veröffentlicht worden, der die Aufhebung der gegen sie erhobenen Anklagen bestätigt. Nach 1956 war es ihnen verboten ins Wolgagebiet zurückzukehren, die autonome sowjetische Republik der Deutschen wiederherzustellen, welche 1941 liquidiert worden war. Die fehlende Transparenz bei der Rehabilitierung bewahrte in einigen Schichten der Gesellschaft noch lange Zeit ein Vorurteil gegenüber den Deutschen. Vor zehn Jahren erteilte ein „Wohlwollender“ - Administrator mittleren Ranges - mir den Rat, bei der Ankunft am neuen Arbeitsplatz meinen Namen zu ändern, um meine Herkunft nicht preiszugeben…

Die Perestroika brachte neue Hoffnungen mit sich. Im Obersten Sowjet der UdSSR wurde eine Kommission zu Problemen der Sowjet-Deutschen geschaffen, die sich mit der Erarbeitung eines Rechtsaktes befasste. Aktive Arbeit leistet die WOSN „Wiedergeburt“, die von den staatlichen Organen als Vertreterin des deutschen Volkes nach der Verabschiedung des Gesetzes über öffentliche Organisationen offiziell registriert werden wird. „Wiedergeburt“ befasst sich mit Nachforschungen bezüglich der problematischen Varianten einer Wiederherstellung der Autonomie, führt Begegnungen mit Vertretern der deutschen Bevölkerung und der Bevölkerung jener Bezirke durch, in denen die Einrichtung einer Autonomie angedacht ist. Bereits fertiggestellt ist der Entwurf eines Dokuments über die politische Rehabilitation des deutschen Volkes, das im November an den Obersten Sowjet übergeben wird. Die endgültige Bestätigung erfolgt auf dem II Kongress der Volksdeputierten. Das Schriftstück sieht vor, den Sowjet-Deutschen ein Staatswesen in Form einer Autonomie und die Schaffung einer Reihe nationaler Bezirke und Dorfräte zu gewähren. Es scheint, als ob alles klar wäre und man nur noch abwarten muss. Aber das ist nicht der Fall. Keineswegs zufällig ist bis heute immer noch nicht die Frage geklärt, wo die Republik sich befinden soll. Sie droht sich in ein ernsthaftes territoriales Problem zu verwandeln. Davon zeugen die Ereignisse in Kasachstan und dem Gebiet Saratow, wo bestimmte Kräfte eine antideutsche Stimmung entfachen. Das bedeutet – man muss handeln, eine beharrlich-konsequente Informationsarbeit durchführen, unter anderem auch unter der deutschen Bevölkerung der verschiedenen Regionen des Landes. Niemals darf man irgendwelche neuen Komplikationen zwischen den Völkern im Land zulassen. Hier sollte auch „Wiedergeburt“ in Erscheinung treten, ihre Abteilungen und Filialen, die in den besonders kompakt vom deutschen Volk besiedelten Gebieten geschaffen werden müssen.

Ende September dieses Jahres fand die erste Massenversammlung der Deutschen statt, die in der Regionshauptstadt leben. Dort äußerte man sich über die Gründung einer Krasnojarsker Filiale von „Wiedergeburt“, wählte ein Organisationskomitee zur Vorbereitung einer Gründungskonferenz. Für diejenigen, die an der Arbeit der Krasnojarkser WOSN-Filiale teilnehmen möchten, teilt das Organisationskomitee mit, dass die Gründungskonferenz am 29. Oktober um 14 Uhr um Kulturpalast der Automobilisten stattfindet.

Im Auftrag des Organisationskomitees – F. Illenseer
Krasnojarsk

„Krasnojarsker Arbeiter“, 25.10.1989


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