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Familienstammbaum

Die nationale Frage: Ansichten aus den achtziger Jahren

Von seinemFamilienstammbaum hat Andrej Bogdanowitsch Schnaider (Schneider?) eine Vorstellung, angefangen mit dem 18. Jahrhundert, von der Zeit der Zarenherrschaft Katherinas II. Aufgrund ihres Wohlwollens verlegte eine große Anzahl handwerklich geschickter Menschen ihren Wohnsitz nach Rußland. Die ersten Umsiedler ließen sich am linken Ufer der Wolga nieder, in 60 km Entfernung von Saratow; später nahmen sie auch das rechte Flußufer ein.

- Wie sollte man nicht stolz auf seine Vorfahren sein, - meint Andrej Bogdanowitsch nachdenklich. – Es waren so unglaublich fleißige Leute – Tischler, Zimmerleute, Töpfer. Die ersten Lebensjahre an der Wolga erwiesen sich für sie als recht schwierig: die Ortsansässigen – Kalmücken und Kirgisen - waren den andersstämmigen Siedlern gegenüber anfangs nicht sonderlich freundlich gesinnt. Auf religiöser Ebene gab es auch Zusammenstöße mit den Russen. Aber letzendlich siegte der gesunde Menschenverstand, und es entstanden, wenn auch nicht gerade freundschaftliche Verhältnisse, so doch zumindest recht erträgliche Beziehungen.

Andrej Bogdanowitschs Ehefrau, Maria Fedorowna, Mädchenname Schmidt, stammt ebenfalls von der Wolga. Darüber, wie sie sich plötzlich in eisigen, tief verschneiten Gefilden wiederfanden, wird weiter unten noch die Rede sein. Und nun hören wir Maria Fedorownas Bericht:

- Unsere Familie war sehr groß, alle lebten einträchtig miteinander, fünf Kinder wuchsen in ihr heran. Im Winter gingen wir zur Schule, im Frühjahr und Sommer erwartete uns eine große Freude – wir fuhren aufs Land, wo ein altes Haus mit einem großen Garten stand. Jedes der Kinder hatte in diesem Garten sein eigenes kleines Stück Land. Wenn der Wind ein wenig stärker wehte, fielen die Äpfel von den Bäumen und bedeckten den Boden dermaßen reichhaltig, dass die Kinder sich ganz schön anstrengen mußten, um sie alle aufzusammeln. Der Vater, Fedor Fedorowitsch, liebte Arbeit und Ordnung, und diese Einstellung brachte er auch seinen Kindern bei.

Maria Fedorowna zeigt uns eine Fotografie ihres Vaters, und plötzlich erkenne ich in ihm meinen ehemaligen Lehrer, den herzensguten Fedor Fedorowitsch Schmidt, der in unserer Klasse Deutschunterricht erteilte. Manchmal brachte er eine Geige zum Unterricht mit, schob die Lehrbücher und das Klassenbuch beiseite und verkündete: „Kinder, heute werde ich euch etwas auf der Geige vorspielen!“ Und dann ertönten in unserem engen Klassenraum ungewöhnliche, schöne und geheimnisvolle Klänge, von denen wir nichts verstanden, die aber dennoch unsere Herzen zutiefst berührten.

Ich blättere das Familienalbum der Schnaiders durch und finde darin noch mehr bekannte Gesichter: Edwin Viktorowitsch Wagner, ein von den Nasarowern sehr verehrter Chirurg, ein äußerst großherziger Mann.

- Das ist mein Neffe, - erklärt Maria Fedorowna, - and das – meine Mutter, Berta Fedorowna Potschekutowa.

Und diese Frau kenne ich sogar persönlich. Sie ist in der ganzen Stadt und im Bezirk als aktive Frau bekannt, die mit beiden Beinen im Leben steht.

Woran ich denke, wenn ich diese Bilder betrachte? Dass all diese Leute heute wahrscheinlich in ihrer Heimat an der Wolga leben würden, wenn es die Ereignisse des Jahres 1941 nicht gegeben hätte. Was waren das für Ereignisse? Jetzt, in der Zeit des Glasnost, wissen wir eine ganze Menge darüber.

Im Jahre 1918 wurde die deutsche Kolonie an der Wolga durch ein besonderes Dekret der Sowjetmacht zur autonomen Republik. Aber das friedliche, schaffensfrohe Leben der Sowjetdeutschen fand am 22. Juni 1941 ein jähes Ende. Viele Wolgadeutsche baten darum, als Freiwillige an die Front gehen zu dürfen, manch einer verheimlichte seine Herkunft mit dem einzigen Ziel, zum Schutz des Vaterlandes mit herangezogen zu werden. Aber auf sie wartete ein ganz anderes Los: die Aussiedlung und Vertreibung vom heimatlichen Boden an einem vorherbestimmten Tag.

Und so bewegten sich fast eine Million Menschen aus der Heimat fort: auf Lastkähnen, in Kraftfahrzeugen und mit Zügen wurden die Wolgadeutschen in ihnen fremde, rauhe Gefilde abtransportiert. Viele von ihnen wurden in unserer Gegend angesiedelt, wie beispielsweise Andrej Bogdanowitsch und Maria Fedorowna. Hier war es auch, dass sie sich zum ersten Male begegneten und später heirateten. Und bis dahin mußten sie schwere Tage in der Trudarmee durchleben. Maria Fedorowna kam zusammen mit ihrer Schwester Aida nach Tajmyr, wo sie, die Frauen, den ganzen Krieg über Fische fingen, die sie dann auf das Festland schicken mußten.

- Noch weiter nördlich gab es schon keine Siedlungen mehr, - erinnert sich Maria Fedorowna, - und natürlich überlebten wir wie durch ein Wunder. Und wissen sie, was uns dabei half? Die Freundschaft zwischen uns, zwischen all den verschiedenen Völkern, die alle aus ihren heimatlichen Gefilden herausgerissen worden waren. Es gab unter uns Letten, Finnen, Kalmücken, Ukrainer und Russen. Das allgemeine Elend vereinte sie alle miteinander, zwang alle, das letzte Stückchen mit den anderen zu teilen und sich gegenseitig zu helfen.

Auf Andrej Bogdanowitsch entfiel auch kein leichteres Los – Zwangsarbeit in der Holzfällerei im Gebiet Kirow, in den Bergwerken der Region Tschita.

Unlängst wurde in der Zeitung „Freundschaft“ sein Gedicht „Grab im Wald“ veröffentlicht, welches diesen tragischen Ereignissen gewidmet ist. Worum es darin geht, gibt Andrej Bogdanowitsch mit eigenen Worten kurz wieder.

- Wir waren zu dritt, uns stand der Tod bevor. Aber zuvor sollten wir die Gräber für unsere bereits verstorbenen Kameraden ausheben. Wir gruben, und plötzlich füllte sich das Loch mit Wasser; wir legten unsere Kameraden ohne Särge hinein, so dass ihre Körper vom Wasser an die Oberfläche gehoben wurden; wir waren gezwungen sie mit Steinen zu beschweren, damit sie untergingen. Im Lager erwartete uns eine kalte Wassersuppe, das grobe Geschimpfe der Wachen, ein eisiges Nachtlager, und am Morgen – war wieder einer von uns tot...

Es waren schreckliche Jahre, und man durfte davon nichts erzählen und auch lange Zeit danach seine Heimatorte nicht besuchen.

- Ich erinnere mich noch, wie hier, das war bereits nach dem Krieg, ein alter deutscher Mann starb, - erzählt Maria Fedorowna. - Er war schon dabei das Bewußtsein zu verlieren, als er darum bat, ihn von hier fortzubringen und an der Wolga zu begraben, in seiner Heimat; und er fand tatsächlich noch die Kraft aus dem Haus zu gehen; und als sie ihn einholten und aufgreifen wollten, sagte er, dass er auf dem Weg nach Hause sei, um dort zu sterben ...

... Sie hatten das große Glück zu überleben, und sie blieben für den Rest des Lebens in unserer Gegend wohnen und zogen hier sechs Kinder groß. Andrej Bogdanowitsch unterrichtete bis zum Eintritt ins Rentenalter ein Vierteljahrhundert an einer krasnojarsker Schule. 1964 machte er im Fernstudium seinen Abschluß am Irkutsker Institut für Fremdsprachen und schrieb in dieser Zeit einiger Kinderbücher in deutscher Sprache; er ist einer der ständigen Autoren der Zeitungen, die in der Sowjetunion in deutscher Sprache erscheinen, arbeitet aktiv bei der lokalen Presse mit. Maria Fedorowna führte einen mustergültigen Haushalt und arbeitete zusätzlich in der Schule als Köchin und Wirtschaftsleiterin.

Was soll man über diese Leute noch sagen? Sie leben, arbeiten und erfreuen sich ihres Lebens. Dieser Tage habe ich Andrej Bogdanowitsch erneut getroffen.

- Da! Sehen Sie! – rief er aus und streckte mir seine Hand, in der er eine Zeitung hielt, entgegen. – Nun erleben wir doch noch einen Freudentag!

In der Zeitung waren Materialien des Plenums des Zentralkomitees der KPdSU zur Nationalitätenfrage veröffentlicht. Darin hieß es: „Wir müssen alles zur Wiedererrichtung der verlorenen Rechte der Sowjetdeutschen tun ...“.

L. Martynowa,
Mitarbeiterin der Zeitung „Sowjet-Pritschulym“
„Krasnojarsker Arbeiter“, 21.11.1989


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