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Unser  Schmerz

Die Grenzen der Wahrnehmung, so scheint es, sind überschritten. Über Repressionen zu sprechen, ist offenbar irgendwie unmodern geworden: was soll man denn darüner noch groß erörtern, dass die Wolga ins Kaspische Meer fließt, und das ist allen verständlich. Hier hat auch der Effekt der Entfernung gewirkt: sagen wir so – viele von uns sehen sich eher mit Neugier als mit Schaudern im Programm „Zeit“ Dokumentarfilm-Szenen über die Erschießung von Geiseln irgendwo in Salvador an. Salvador – das ist weit weg, das ist nicht schlimm, es bedroht uns nicht. GULAG – das ist nach Meinung vieler Menschen auch weit weg, das war vor dreißig, vor fünfzig Jahren, und deswegen ist darin auch nichts Schlimmes zu sehen.

Aber man muß doch begreifen, dass viele Teilnehmer an den Ereignissen – sowohl der einen wie der anderen Seite – noch am Leben sind. Dass bei weitem nicht alle alten Wunden vernarbt sind. Und längst nicht alle Fragen und Probleme, die sich damals entspannen, bereits entschieden und gelöst sind. Ich spreche hier nicht „im allgemeinen“ („allgemein“ gesagt ist schon nicht wenig, wenn es um die Auflösung des Bauerntums, Entkulakisierung und Entmenschlichung geht). Ich spreche nicht „im allgemeinen“, sondern im besonderen: von konkreten Schicksalen und konkreten Problemen. Von Amalia Andrejewna Arnold, zum Beispiel, die 1941 aus der ASSR der Wolgadeutschen zwangsausgesiedelt wurde; alles haben sie verwüstet, bis auf den letzten Rest, und sie in den Irbejsker Kreis deportiert, wo sie heute noch lebt – mit einer Rente von 32 Rubel. Von Anatolij Petrowitsch Tschebonenko, einem Polarflieger, dessen gesamter Besitz bei seiner Verhaftung im Jahre 1947 beschlagnahmt wurde (mehrere Tausend Rubel), und den man ihm bis zum heutigen Tag nicht zurückgegeben hat – weder das Geld noch den übrigen Besitz (und nicht wenige solcher Fälle sind bei „Memorial“ bekannt).

Also,diese Leute leben noch, sie befinden sich in unserer unmittelbaren Umgebung, und für sie stellt das, was man die „Stalin-Ära“ nennt, ein völlig reales Problem dar: Armut (ihre Armut, und nicht irgendjemandes Armut in Salvador), Krankheit (ihre Krankheit, und nicht die irgendeines Fremden) und die Einsamkeit (ihre Einsamkeit). Weil es durch das Hauptanliegen der Woche des Gewissens, die vom krasnojarsker Stadtkomitee der KPSS, dem Koordinationsrat beim Zentralen Kreiskomitee der KPSS, der krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“ und der krasnojarsker Abteilung des Kulturfonds vom 18. – 25. November im Regionszentrum durchgeführt wurde, ein Erwachen im Bewußtsein der Menschen gab – für die Realität vergangener Tragödien und reale Hilfestellung gegenüber denen, die zu ihren Opfern wurden. So gesehen kann man die Gründung einer Gesellschaft von Menschen, die unter unbegründeten Repressionen gelitten haben, und die Eröffnung der Ausstellung „Zünde eine Kerze an“ in der Filiale des zentralen W.I. Lenin-Museums zu den Schlüsselereignissen der Woche zählen.

Der Dokumentationscharakter – das Hauptziel dieser Ausstellung. Mit Aussnahme von zwei, drei verallgemeindernden Materialien stellt alles übrige konkrete Schicksale, konkrete Angelegenhieten dar. Da, sehen Sie den Karzer. Die Einrichtung (Pritschen, der Kübel für die Notdurft, die Tür, Gitter) wurde vom Heimatkundemuseum aus dem ehemaligen siebten Lagerpunkt des KrasLag mitgebracht, wo Anfang der 1940-er Jahre 300-500 Litauer „saßen“, die man am 14. Juni 1941 gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben hatte.

Ein kleiner Kanonenofen, mitgebracht aus dem ehemaligen achten Lagerpunkt des KrasLag. Eine Säge, gefunden auf dem verwilderten Gelände des „Großbauprojektes 503“ (der Eisenbahnstrecke Salechard – Igarka). All das sind doch konkrete, reale Dinge. Man kann die Gitterstäbe anfassen, befühlen. Man kann Die Zeitung „Krasnojarsker Arbeiter“ aus dem jahre 1937 lesen („Den Hunden – der Hundetod!“). Man kann letzlich verstehen, dass das GULAG kein Mythos ist. Es ist Realität, und dazu eine, die gar nicht so weit weg liegt.

Gleichzeitig mit der Eröffnung der Ausstellung fand die Gründungsversammlung einer Gesellschaft von Personen statt, die unter unbegründeten Repressionen gelitten hatten. Diese Gesellschaft wurde unter der Schirmherrschaft von „Memorial“ gegründet. Eigentlich wird vieles von dem, was der neu geschaffenen Gesellschaft noch an Aufgaben bevorsteht, bereits von „Memorial“ erledigt: ehemalige Repressionsopfer zu erfassen, sie zu registrieren, ihnen den Kräften und Möglichkeiten entsprechend Hilfe zu erweisen. Aber es gibt dermaßen viele Probleme, dass man besonders diese Lenkung der Arbeit aufteilen mußte. Man hat vor, den Opfern finanzielle Hilfestellung zu erweisen (das Sammeln von Spenden hat bereits begonnen), ferner soziale Lebenshilfe (es sollen Schirmherrschaften organisiert, Verbindungen mit den Veteranenräten und dem Barmherzigkeitsfond hergestellt werden), juristischen Beistand (derzeit führt die genossenschaftliche Vereinigung „Rechtsbeistand“ kostenlose Sprechstunden für Repressionsopfer durch, aber es sind nicht nur Beratungsgespräche nötig, sondern auch Rechtsanwälte zur Durchführung konkreter Prozesse), medizinische Fürsorge (wir wenden uns an Spezialisten, vor allem Zahnprothetiker: Menschen, deren Gesundheit im Lager geblieben ist, brauchen Sie dringend!). Eine der nächsten Aktionen der Gesellschaft soll das Organisieren einer Zusammenkunft von Vertretern der KGB-Verwaltung, der Verwaltung für Inneres, der Staatsanwaltschaft und andere Organisationen sein.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir mitteilen, dass Sie sich mit allen Fragen, die im Zusammenhang mit der Arbeit dieser neu gegründeten Gesellschaft stehen, also mit Hilfeleistungen gegenüber ehemaligen Repressionsopfern, in Verbindung setzen können mit:

Es freut einen, dass die Probleme der Repressierten den örtlichen Machtorganen nicht fremd sind. Große Unterstützung wurde den Organisatoren der Gründungsversammlung vom zentralen Partei-Kreiskomitee, dem Partei-Stadtkomitee, dem Stadt-Exekutivkomitee, der Regionskommission für die Unterstützung von Rehabilitierten und der Verwaltung der Filiale des zentralen W.I. Lenin-Museums zuteil. In den Stadt- und Kreis-Exekutivkomitees erörtert man Möglichkeiten, den Repressionsopfern Vergünstigungen zu gewähren. Es geht dabei nicht nur um ein zusätzliches Stückchen Wurst, sondern vielmehr auch darum, dass diese Leute, selbst wenn sie bereits am Ende ihres Lebensweges stehen, ein anderes Verhalten ihnen gegenüber empfinden. Schon allein die Tatsache, dass eine solche Gründungsversammlung stattfand, hat doch im Bewußtsein der Menschen schon etwas in Gang gesetzt.

Es gelang nicht, alle Vorhaben durchzusetzen: so ist noch keine Gedenktafel am „Sibirischen Institut zur Erforschung von Buntmetallen“ aufgestellt worden. An der Stelle des heutigen Instituts gab es Ende der 1940-er Jahre das sogenannte OTB-1 (Sonder-Technologie-Büro 1), ein Sonderlager, in dem bedeutende Gelehrte ihre Haftstrafe verbüßten. In solchen Lagern saßen seinerzeit Tupolew, Korolew und viele andere. Nach dem Tode Stalins wurden die Gehrten freigelassen und rehabilitiert und das OTB-1 umorganisiert in das Sibirische Institut zur Erforschung von Buntmetallen.

Nicht alles ist gelungen, obwohl man gern über das Erreichte sprechen würde. Es ist angenehm, dass unsere Aktionen von der schöpferischen Intelligenz unterstützt wurden. Wie immer, stand an der Spitze die genossenschaftliche schöpferische Vereinigung „Demos“, welche Filmveranstaltungen zu wohltätigen Zwecken („Der große Diktator“, „Vorsichtige Lieder“, „Julij Kims Konzert“) organisierte. Im A.S. Puschkin-Theater, dem Theater für Oper und Ballett und dem Orgelsaal (eine Dankeschön dem Kunstinstitut) fanden Theateraufführungen und Konzerte statt. In der wissenschaftlichen Regionsbibliothek, im städtischen Kulturpalast (A. Kupzow, A. Kusnezow) und ebenso im Haus des Schauspielers (krasnojarsker Künstler) wurden Ausstellungen gezeigt.

Die gesammelten Geldmittel werden für finanzielle Hilfe an den Repressionsopfern sowie ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Willkür verwendet. Übrigens, es ist wichtig, dass noch ein geeigneter Ort dafür bestimmt wird. Und hier dürfen der Rat und die Meinung der Einwohner von Krasnojarsk nicht übergangen werden.

Und so ist die Woche des Gewissens zuende gegangen. Aber die Arbeit unserer Gesellschaft ist noch längst nicht zuende. Diejenigen, die sich uns bei der Suche, bei Aktionen und Forschungsaufgaben anschließen wollen, erinnern wir noch einmal daran, dass „Memorial“ und die Gesellschaft von Personen, die unter Repressionen gelitten haben, sich jeweils donnerstags von 18.00 – 21.00h in den Räumen der krasnojarsker Organisation des Schriftstellerverbandes (pr. Mira, 3, Telefon 23-37-57) zusammenfinden, und dienstags abends in der Redaktion der Zeitung „Krasnojarsker Komsomol“.

Veröffentlicht: „Krasnojarskij rabotschij“, 6. Dezember 1989
Alexej Babij, 1989


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