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Über wessen sterbliche Überreste fliegen die “JAK“s

Dieses Material birgt keinen kategorisch-behauptenden Charakter in sich. Die Fakten können bestätigt oder angezweifelt werden und mehr noch –präzisiert. Und er schreibt in der Absicht, die Meinung der Menschen zu studieren, wer in dem einen oder anderen Maße etwas über die Ereignisse jener Jahre weiß. Wer irgendetwas hinzufügen, präzisieren oder sogar widerlegen kann.

Einen neuen Rechenschaftsbericht über unsere Geschichte haben wir ab dem Oktober des Jahres 1917 begonnen. Lehrbücher wurden herausgegeben, es wurden wissenschaftliche Dissertationen geschrieben und erfolgreich verteidigt, „weiße“ Seiten im Leben des Staates ausgefüllt. Häufig allerdings mit einem Hang zur Biographie desjenigen, der sich im vorliegenden Moment gerade am Machtruder befand.

Allein die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde in drei Variationen geschrieben: der Varianten Stalins, Chruschtschows und Breschnjews.

Welches ist die wahre Geschichte über die Periode des schrecklichsten Kampfes auf der Erde? - stellte ich irgendwie einem der Veteranen und in der Stadt geachteten Menschen. – Sie ist noch nicht geschrieben worden, ebenso wenig, wie die Geschichte unseres Staates, besonders der Regierungszeit Stalins, - lautete die kategorische Antwort. Ja, die Geschichte kann und darf nur eine einzige sein, ohne jegliche Varianten. Unsere Aufgabe ist es – alle Seiten zu öffnen und vollständig zu Ende zu schreiben, auch wenn es die allerschwärzesten sind, über das Schicksal unseres Landes. Des Landes und jeder Region, Stadt und Nation.

Eine schwarze Schleierwolke verdeckt die Jahre der Zügellosigkeit der stalinistischen Repressionen. Die unsichtbare Wand, gegen die die gesellschaftliche Bewegung „Memorial“ ständig laufen muss, steht dort ausgerechnet in dem Moment, wenn die Entfernung bis zur vollen Wahrheit nur noch einen Katzensprung weit ist.

Die mit viel Müh zusammengefügten Fäden reißen völlig unerwartet. Menschen, die die ganze Fülle des Bildes der Ereignisse kennen, werden mit einem Mal vergesslich, verschlossen. Im Augenblick des Sich-Öffnens unter vier Augen folgt totales Schweigen beim Anblick von Notizblock und Bleistift. Gerade erst gesagte Worte werden zurückgenommen, Hinweise auf unbekannte Personen werden zur Norm.

Die Angst kam in unseren Körper, in unser Blut mit den Genen der Väter und Großväter. Sie, die alte Generation, kann man verstehen. Ihnen ging der Glaube an die Gerechtigkeit verloren. Das ist – die Tragödie der Generation. Doch wovor fürchten wir uns? Vor den in einem Anfall der Offenbarung gesagten Worten, des Mutes, voller Abscheu den Blick von den Schweinehunden abzuwenden, der Kühnheit, endlich eine eigene Meinung zu haben?

Wir werden das vorliegende Versprechen nicht brechen, keine Namen preisgeben. Aber dem, der seinen Nachfahren in die Augen schaut, - vor dem verneigen wir uns tief.

Auch Atschinsk umgingen die Mühlsteine des Genozids nicht, eines Systems, dass unter unmittelbarer Teilnahme des Autors der Konzeption der „Verstärkung des Klassenkampfes“, der Vernichtungsmaschine des eigenen Volkes, geschaffen wurde.

„Von Moskau bis an die äußersten Ränder des Landes fuhren die Züge mit den Opfern. Denen, die in die Lager des GULAG abtransportiert wurden, wo die Zwangsarbeit auf sie wartete und fast immer der wahre Tod. Ihnen entgegen ratterten an den Schienenverbindungsstellen „Stolypin-Wagen“, welche mit Atschinskern vollgestopft waren, die in Richtung Ural weggebracht wurden. Es war ein sorgfältig ausgeklügelter und organisierter Zwangsaustausch und eine Umverteilung von Arbeitskräften, den Erbauern des vollständigen und endgültigen siegreichen Sozialismus, im Gange.

Mit denen, welche die „Troikas“ und Sondersitzungen des NKWD zu 9 Gramm Bleikugeln verurteilten, versuchten sie an Ort und Stelle abzurechnen. In den Kellerräumen des Atschinsker Gefängnisses erledigten die „Probotschniki“ („Korkenzieher“; Anm. d. Übers.; so nannten die unschuldig Verurteilten untereinander ihre Henker, von denen einer lange Zeit als Inkasso-Bevollmächtigter in der Bank arbeitete) ganz methodisch und in Kenntnis der Sache ihre tägliche Arbeit und brachten die Urteile zur Vollstreckung.

Jede Nacht wurden in die Schluchten und Steinbrüche in der Umgebung der Stadt Fuhren mit Leichen fortgebracht. In den Bezirk des heutigen Flugplatzes transportierten sie die Lebenden ab, wo diese dann erschossen und sogleich begraben wurden.

Wie Oleg Iwanowitsch Moissejew mit den Worten seines Bruders erzählte, in jüngster Vergangenheit Redakteur der Nasarowsker Bezirkszeitung, (der in jenen Jahren von Iwan Filippowitsch Filippow die Kohle weggenommen hatte, im Haus des NKWD-Gebäudes), wurden die Verhafteten zu je 15-20 Mann gebracht. Sie wurden aussortiert nach Zellen, die in den Gebäuden im Hof gelegen waren. Nach einer gewissen Zeit brachte man sie dann fort. Im Bezirk des Flugplatzes gab es einen Ort, der von einem Zaun umgeben und von Soldaten bewacht war. Dort hörte man häufig Schüsse.

Viele nennen den Flughafenbezirk und die Steinbrüche entlang des Krasnojarsker Traktes. Und gerade auch den Bereich der heutigen Benzinstation.

Der inzwischen verstorbene Rjasanow, der als Wärter im Kindergarten im Dorf Klein-Iwanowka tätig war, teilte seine Erinnerungen Leonid Iwanowitsch Scheljanin darüber mit, dass er in den Jahren 1937-1938 Leichen vom Gebäude des NKWD zur Schachtanlage transportierte. Den Tatbestand der Erschießungen in Atschinsk bestätigt Tatjana Stepanowna Korenewa, ehemalige Inhaftierte des städtischen Gefängnisses, in dem ihr Vater erschossen wurde. Sie reinigte damals die im Keller gelegenen Zellen, wo sie mit Schaufeln die getrockneten Blutlachen der Getöteten abkratzen musste.

Also, in Atschinsk gibt es Gebäude, die vom Blut der Repressionsopfer rot gefärbt sind, und in seiner Umgebung fand man die ewig ruhenden Körper von hunderten und aberhunderten Mitbürgern.

Das Jahr 1976. Bei den örtlichen Fluglinien tauchte eine neue Generation Flugzeuge auf – die „Jak-40“. Es wurde der Beschluss zur Verlängerung der Start- und Landebahn gefasst. Dazu war es notwendig, Berge von Untergrund für das Betonieren abzutragen. Man holte mächtige Bulldozer aus der Mechanisierungs-Verwaltung zur Hilfe. Leider wohnen der Bauleiter und der Bulldozer-Fahrer selbst, der den größten Teil der Erdarbeiten durchführte, nicht in unserer Stadt. Der Vorarbeiter verließ den Ort, um auf anderen Baustellen zu arbeiten, während der Bulldozer-Fahrer auf tragische Weise ums Leben kam. Aber es waren nicht nur diese beiden, die mit der Startbahn beschäftigt waren. Wer war noch dabei?

Was geschah am Ort der zukünftigen Trasse der schnellflügeligen „Jak“-Flugzeuge?

G.N. Androsenko, Ingenieur:
„Nachdem der Bulldozer die frisch ausgehobene Erde aufgehäuft hatte, entdeckte man abgerissene Mantelstücke, Stehkragen von Militärmänteln, Unterhemden. Des Weiteren fand man Machorka-Verpackungen, die aus dem Jahr 1937 datierten“.

A.G. Potschupenko, Garagen-Leiter:

„Als ich am Arbeitsplatz eintraf, sah ich Überreste von Filzstiefeln, Stiefeln, in den Stiefeln verweste Knochen. Um die Stelle herum war eine Absperrung eingerichtet“.

Ch., der unerkannt bleiben wollte, berichtete, dass der Bulldozer die Überreste von 12 Leichen ausgrub. Ch. fand am Begräbnisort Streichhölzer mit dem Produktionsdatum – 1935.

Interessante Fakten teilte einer der ehemaligen Leiter des Flughafendienstes G. mit. Als er vom weiteren Schicksal der sterblichen Überreste erzählte, sagte er, dass man sie mit dem Bulldozer zusammen mit Erdreich in nahegelegene Steinbrüche gestoßen hätte.

Die am Begräbnisort eintreffenden Stadtoberhäupter und Leiter des MWD und KGB, (ehemalige), kamen, ohne lange „kluge Reden zu schwingen“, zu der Aussage – „Koltschakow-Leute“. Was meinten sie damit: Koltschakow-Anhänger oder ihre Opfer?

Um zu ermitteln, wer in Bezug auf Tutanchamun in den Pyramiden gefunden wurde oder wieviel graue Gehirnmasse es unter der Schädeldecke des Neandertalers gab, arbeiten seit Jahren die besten gelehrten Köpfe. Aber bei uns in Atschinsk wurde im Verlauf weniger Minuten über das Schicksal der Bestattung entschieden. Indem sie auf die Jahre hinweisen. Und wie soll man den Tatbestand in Einklang bringen, dass in den Manteltaschen Packungen mit „Belomorkanal“-Zigaretten gefunden wurden? Schließlich ist doch hinlänglich bekannt, dass Papirossi zum ersten Mal 1933 von der Urizkij-Tabakfabrik auf den Markt gebracht wurden – zu Ehren der Vollendung des grandiosen Baus, der tausende Leben sowjetischer Menschen dahinraffte.

Die Koltschakow-Leute oder ihre Opfer konnten überhaupt keine „Belomor“ bei sich gehabt haben. Oder jene Streichholzschachteln mit dem Datum 1935. Da passt etwas nicht mit den Schlussfolgerungen der hochgestellten Beamten zusammen.

Dmitrij Jossifowitsch Peregud wies auf eine andere Begräbnisstätte in demselben Bezirk hin. Der Fahrer, der 1971 Lehm zur Keramik-Fabrik transportierte, erzählte von den Steinbrüchen entlang des Krasnojarsker Traktes und zeigte, wo die Knochen und Schädeln mit den Löchern im Hinterkopf entblößt herumlagen. Es gibt Zeugnisse, nach denen die Opfer an 4-5 Stellen in der Umgebung der Stadt und auch in der Stadt selbst bestattet wurden.

Unsere Pflicht, die Pflicht eines jeden ehrbaren Bürgers, ist es, dabei zu helfen, die Geheimnisse jener unseligen Jahre zu enthüllen. Der Asche der unschuldig durch die Hände der Henker des Stalinismus Umgekommenen gebührende Ehre zu erweisen, die, ihrem Ehrgeiz und ihrem Karriere-Denken zuliebe, bereit waren, alle Andersdenkenden zu eliminieren, wobei sie die Direktive über die „Zunahme des Klassenkampfes“ erfüllten.

Im Namen der noch lebenden Opfer der Repressionen, im Namen der unschuldig durch die Hände von Wahnsinnigen Umgekommenen, ist es notwendig, folgendes festzustellen: wer liegt in den Lehmgruben begraben, an der Stelle der alten Süßwaren-Fabrik, im Masulsker Bergwerk?

Über wessen sterbliche Überreste fliegen dort oben die silbernen, schnellflügeligen „Jak“s zu unserem Flugplatz?

Leonid Orlowskij
Atschinsk

„Krasnojarsker Komsomolze“, 21.12.1989


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