Der letzte Punkt bedarf weiterer Erklärungen. Es geht darum, daß "Memorial" nicht als politische Organisation in Erscheinung tritt, sofern man unter einer politischen Organisation eine Organisation versteht, die ihr Programm hat und um die Macht kämpft. "Memorial" ist eine freiwillige Vereinigung von Menschen, die sich, unabhängig von ihren politischen Ansichten, einig sind in der Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Lösung von Problemen. Es genügt zu sagen, daß sich "Memorial" aus Leuten zusammensetzt (die auch versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden), die in ihren Ansichten
ebenso antagonistisch sind wie Kommunisten und die "Demokratische Vereinigung". Eine politische Partei meint zu wissen, WIE ES SEIN SOLL, und dafür kämpft sie. "Memorial" weiß, oder versucht zumindest zu erkennen, WIE ES NICHT SEIN DARF, und kämpft dafür, daß "WIE ES NICHT SEIN DARF" nie wieder kommt.
Die Gesellschaft stellt die Lage von Orten fest, an denen sich Massengräber von Repressionsopfern befinden (einschließlich Lager) und organisiert die Sammlung von Mitteln zur Errichtung von Mahnmalen an den Grabstätten (und dabei erklären wir unseren Standpunkt zu den Mahnmalen).
Die Kurapaten. Die Krasnojarsker Kurapaten: Bezirk 3R-Industriegebiet.
Die Gesellschaft sammelt, erwirbt und nimmt als Geschenk oder testamentarisches Vermächtnis mündliche, schriftliche, dokumentarische und anderweitige Informationen im Zusammenhang mit Repressionen entgegen und systematisiert die gesammelten Informationen durch Erstellung von Nachschlage-Materialien und Kartotheken.
Zur Zeit ist dies die Hauptarbeit (die Leute scheiden aus dem Leben; man muß an alle erinnern, denn sie sind nicht einfach getötet worden, sondern wurden aus dem Gedächtnis AUSRADIERT).
Das Krasnojarsker Gebiet war eines der Zentren des Archipel GULAG. Hierher wurden die sogenann-ten Kulaken zur Zeit der Kollektivierung an die Ufer des Jenissei geworfen, ohne jegliche Existenzmittel, und auf ihren Knochen erbaute man die Stadt Igarka. Hierher gingen die Transporte (aus Solowki) zur Errichtung des NGMK. Besonders, angefangen im Jahre 1934, nach dem Mord an Kirow.
Als das Baltikum erobert war, begannen dort Massenunterdrückungen und am 14. Juni 1941 gab es Deportationen von Bewohnern der baltischen Republiken hauptsächlich ins Krasnojarsker Gebiet. Nach beginn des Krieges wurde zuerst die gesamte Einwohnerschaft der deutschen Wolgarepublik ins Gebiet Krasnojarsk und nach Kasachstan deportiert. Hier fanden sie sich ohne Existenzmittel, man verhielt sich ihnen gegenüber äußerst schlecht, und die arbeitsfähigen Männer trieben sie in die Trudarmee, d.h. eigentlich in eben jene Lager. Am Ende des Krieges verbannte man, wiederum ins Gebiet Krasnojarsk, ganze Völker: Kalmücken, Tataren, Tschetschenen, Inguschen, usw. Die Kalmücken: in den Wald. Nach dem Krieg - wie das Baltikum, die Westukraine und Weißrußland,
Moldawien, Tjurikow.
Ende der vierziger Jahre: die Kosmopoliten, Wiederholungstäter.
Die allergrößten Lager: Norillag, Bau 503, das Kraslag mit seinem Zentrum in Kansk (viele Zonen).
Die Marinski-Lager (Siblag).
Die Gesellschaft tritt dafür ein, daß der Staat denen, die Repressionen erlitten haben, die unbedingt erforderlichen Sonderleistungen gewährt, und im Rahmen ihrer Möglichkeiten leistet sie den Repressionsopfern dabei dringend notwendige Hilfe. Veteranen-Status. Zusammenschluß von Repressionsopfern. Moralische Unterstützung.
Die Gesellschaft gründet ein Informations- und Forschungszentrum zur Durchführung von Forschungs- und Aufklärungsarbeiten sowie ein ständig aktives Museum, wertet die gesammelten Informationen aus und analysiert sie, wobei sie die Ergebnisse in ihren Aufklärungsaktivitäten verwertet, durch Veröffentlichung von Dokumenten, Artikeln und Beiträgen, Veranstaltung öffentlicher Vorlesungen und Streitgespräche, usw.
Ein solches Zentrum wurde bereits geschaffen, sein Leiter - J. Afanassjew, Rektor des Instituts für historische Archivierung. Professionelle Historiker sollen die Wurzel und Quellen dessen erklären, was geschehen ist. Das ist gerade jetzt sehr wichtig, denn im Land kommt zur Zeit gerade eine revolutionäre Situation auf: die Oberen können nicht in der alten Weise regieren, und die Unteren wollen nicht in der herkömmlichen Weise leben. Man muß etwas tun, aber die ganze Frage besteht doch darin, daß man es nicht wieder genauso macht. Eine Revolution endet doch im Grunde genommen damit, daß die Volksmenge zerschlagen wird, und zwar deswegen, damit bloß nicht alles noch schlimmer wird als es vorher war. Womit fangen wir die heutige Revolution an? Wenn wir es damit tun, daß wir den Parteiapparat an die Wand stellen, dann enden wir wieder mit dem Jahr 1937, d. h. wir vernichten uns gegenseitig. Daher ist es wichtig, die Geschichte zu verfolgen - aus ihr zu lernen, damit die jetzigen Kämpfer für die Gerechtigkeit nicht wieder zu Unterdrückten werden. Der Fall des Gussew, dem Sekretär Tolstois.
Die Arbeitskonferenz (natürlich ist sie noch anfällig, aber wir beharren ja auch nicht darauf, die Wahrheit in der letzten Instanz zu sein). Es ist kein Konsensus, denn die Demokratische Vereinigung wird sie für zu weit rechts halten und die KPSS für zu weit links. Sagen wir so, das ist mein Stand-punkt, und viele im "Memorial" sind ähnlicher Meinung in dieser Sache. Das Wesentliche dieser Ansicht ist der Versuch, Wirtschaft, Politik und Recht in Einklang zu bringen.
Zur Zeit hält sich leider hauptsächlich die These, daß der schlechte Mensch Jossif Dschugaschwili zufällig an die Macht gelassen wurde und derartige Dinge verursachte. Es liegt nicht nur an Stalin.
Bei der Durchführung des Oktoberumsturzes wurden einige Voraussetzungen geschaffen, die letzendlich zum Massenterror führten.
Aber der Bürgerkrieg zog sogar eine positive Begleiterscheinung nach sich: die vernünftigen Leute in der Führung, und in erster Linie natürlich Lenin, verstanden ihre Fehler und fürchteten sich nicht, diese ehrlich einzugestehen. Die NEP (Neue Ökonomische Politik). Aber die NEP, bei all ihren wirtschaftlichen Anreizen, trug den Schrecken für die oberen Kreise in sich, denn alternative politische Kräfte erhielten die Möglichkeit des Handelns und der Apparat, der die Macht bereits auskostete, wollte diese nicht nur nicht abgeben, sondern sie auch nicht teilen. Dieses Problem besteht seitdem bis in unsere heutige Zeit: entweder die Macht abgeben oder sie behalten, auch wenn dies katastro-phalen Folgen für das Land nach sich zieht, und der Apparat hält um jeden Preis an der Macht fest, bis hin zum Massenterror. Sie können nicht daran zweifeln, daß der Massenterror erneut Anwendung findet, wenn dies aus Sicht des Apparates für erforderlich gehalten wird. Der Unterschied zwischen diesem oder jenem Apparat liegt einzig und allein in einem: jener Apparat behielt die Macht, um irgendwelche Anschauungen zu behaupten, und dieser - verteidigt nur seine Privilegien.
Seit Anfang der 20er Jahre war die Diskussionsmethode mit Vertretern politischer Strömungen, die nicht im Flußbett der WKP(B), der Gesamtrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken, lagen, folgende:politische Isolation. Das heißt, der Kampf mit den Ansichten wurde ersetzt durch den Kampf mit den Vertretern der Meinungen. Solche Politisolatoren waren in der Tat Gefägnisse und danach, angefangen mit Solowki - auch schon die Lager. In den Gefängnissen saßen sie nur ein, in den Lagern aber herrschte Zwangsarbeit.
In jener Zeit entbrannte im Apparat ein grausamer Kampf um die Macht, seine besten Vorsitzenden wurden nach und nach degradiert, denn ein Kampf um die Macht ist auch ein Kampf um Ideen - verschiedene Dinge, aber wenn der einzige Weg zum Durchsetzen der Idee die Ergreifung der Macht ist, dan werden nach der Machtergreifung die Ideen auch schon vergessen, nicht wahr?
5. Die NEP war etwas einseitig: zu der Zeit, als die Dorfwirtschaft, der Dienstleistungsbereich und einiges aus dem Bereich der Leichtindustrie sich recht dynamisch entfalteten (dort gab es weniger Stufen bei der Kommandoleitung), überstand die Industrie die Krise, aufgrund des Vorhandenseins wirtschaftlicher Anreize und der Inkompetenz des sich aufblähenden Verwaltungsapparates.
Natürlich führte dies zu Mißverhältnissen, d. h. zu Preissteigerungen für Brot, heimlichem Verstecken von Lebensmitteln, usw. Vor dem Apparat stand wieder ein Problem: entweder in die Freiheit und die Industrie entlassen (und dadurch den Einfluß auf den Gang der Ereignisse verlieren) oder die Bauernschaft zerschlagen und so seine Macht festigen. Und tatsächlich brach die Kollektivierung aus.
Der Hieb war gewaltig und weitsichtig:
6. Der Beginn der 30er Jahre wurde historisch als weitere Unterjochung des Volkes festgelegt.
In den Städten wurde ein Meldesystem eingeführt, das den Menschen faktisch der Zerfleischung durch den örtlichen Apparat aussetzte: er konnte nicht wohnen, wo er wollte, nicht arbeiten, wo er wollte, usw. Die Kolchosbauern waren faktisch in Leibeigene umgewandelt worden, denn über sie verfügte vollständig eben jener Apparat. In dieser Zeit wurde endgültig die Grenze geschlossen, denn sonst hätte die Massenflucht aus der UdSSR, und zwar eine bis dahin bereits sehr beträchtliche, bedrohliche Ausmaße angenommen. Das Fehlen ökonomischer Anreize führte zum Einsturz der Wirtschaft, und eine Lösung dieser Probleme wurde auf die bewährte Weise herbeigeführt: die Ausnutzung von Sklaven mit dem Ziel, die Selbstkosten zu senken. Aber um die Lieferung von Arbeitskräften zu gewährleisten mußte man, erstens; eine öffentliche Meinung schaffen (und das geschah gerade mit Hilfe des Feindbildes, der These des sich schnell ausbreitenden Klassenkampfes, usw.), und, zweitens, die Gesetze grausamer machen, und das tat man. Diese These möchte man gern besonders unterstreichen. Unsere grausamen Gesetze sind die Folge nicht nur unserer allgemeinen Brutalität und Unzivilisiertheit, sie waren und bleiben das Mittel zur Lösung ökonomischer Probleme. Große Bauvorhaben werden nach wie vor mit Häftlingen durchgeführt und um die Versorgung mit diesen zu gewährleisten, muß man Menschen nicht verurteilen, sondern sie als Straffällige richten.
Folglich wurden die Gerichte nicht Organe der Rechtsprechung, sondern Lieferanten lebernder Arbeitskräfte und in dem Maße wie immer mehr Arbeitskräfte angefordert wurden, machte man auch die Gesetze immer grausamer. Der Terror spielte noch eine Rolle: er rottete die letzten Reste des Andersdenkens,und sogar des Denkens überhaupt, aus. Die Maschinerie des Terrors drehte sich mit solchen Umdrehungen, daß jeder einigermaßen bedeutende, einigermaßen eigenständig denkende Mensch in sie hineingeriet. An erster Stelle waren das natürlich die Spezialisten (nicht nur die Intelligenz, sondern jeder beliebige Spezialitst, denn jeder von ihnen besitzt Selbstachtung, Selbständigkeit, Unabhängigkeit, wenn auch im eigenen Verhalten, usw.), aber auch jeder rein zufällige Mensch. Es handelt sich darum, daß, als der Terror zur offiziellen Staatspolitik wurde und der Apparat nach oben gerade darüber Rechenschaft ablegte, inwieweit er sich erfolgreich mit dem Terror beschäftigt hatte, von dort oben auch Pläne zum Terror herabgelassen wurden, und bei Nichtbefolgen wurde Verhaftung, Erschießung, usw. angedroht. Da begannen die den Verstand verlierenden Apparatschiks, in der Hoffnung ihre eigene Haut zu retten, alle aufzufressen, auch sich gegenseitig.
Freilich bezeichnet man diese Zeit auch als Jahr '37, als der Terror im Grunde genommen völlig außer Kontrolle geriet und sinnlos in seiner Grausamkeit wurde: ja es wurde ungefähr eine Million Menschen einfach erschossen, und das kannst du mit keiner ökonomischen "Zweckmäßigkeit" erklären.
7. Nach 1937, als der Terror sich etwas gelegt hatte, verharrte das Volk in Schock und Apathie, die geforderte Gesinnungsgleichheit war erreicht, weiterer Terror war schon Alltäglichkeit, eine gewohnte Sache, und das ist seitdem so geblieben.
Man muß dem Mythos der Feinde, die man vernichten soll, eine entschiedene Absage erteilen. Es gibt keine Feinde, sondern politische Gegner.
Man muß gewaltsame Kampfmethoden ablehnen. Das ist besonders bedeutsam für die "Linken", denn vom Apparat bleibt nichts anderes zu erwarten, man weiß nichts, und wenn unter Druck gesetzt, Gewalt angewendet wird, dann auch heute noch: denken Sie wenigstens an die Geschichte mit Klepatschew. Man muß sich erinnern: wer sein Schwert erhebt, wird selbst dadurch zugrunde gehen.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel, und es ist besser, in Würde zu verlieren, als unwürdig zu gewinnen.
Man muß dem Monopol der Wahrheit eine Absage erteilen, lernen, das Recht des anderen auf seine eigene Meinung zu würdigen, egal wie wild diese auch immer erscheinen mögen.
Das sind Binsenwahrheiten, aber die geraten auch in Vergessenheit.
Alexej Babij 1989