Wenn wir schon angefangen haben von der Vergangenheit zu reden, dann erzählen Sie auch, wie die Überprüfung der Strafakten der illegal repressierten Bürger vor sich gegangen ist. Wie haben Sie sich mit der „Memorial“-Organisation in Verbindung gesetzt? Lohnt es sich, Ihrer Meinung nach, Namenslisten der rehabilitierten Bürger zu veröffentlichen, die noch in unserer Region leben oder gelebt haben?
- Die Rehabilitationen ungesetzlich repressierter Staatsbürger erfolgt mittlerweile im gesamten Land. Mitunter kann man allerdings Gesprächen entnehmen, daß es sich nicht lohnt, die Vergangenheit zu drehen und zu wenden, daß man das endlich vergessen muß, als wäre es nur ein schlechter Traum gewesen, daß das ganze Wissen um die Ungesetzmäßigkeiten, die sich in den 1930er und 1940er Jahren sowie Anfang der 1950er Jahre zugetragen haben, nur unnötig den Glauben der Menschen an die Gerechtigkeit unserer Prinzipien erschüttern. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß dies nicht stimmt.
Das Volk soll sich nicht nur die ruhmreichen und guten Seiten seiner Geschichte ins Gedächtnis zurückrufen, sondern auch die Wahrheit über ihre besonders düsteren Zeiten erfahren.
Die Sense der Ungesetzlichkeit hat ihre Opfer ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Nationalität und soziale Lage vernichtet: von Arbeitern und Bauern bis hin zu Heerführern, Staatsmännern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Dem tragischen Schicksal konnten auch viele Journalisten nicht entgehen. In unserem Archiv liegen beispielsweise Strafakten über den ehemaligen Redakteur der Zeitung „Krasnojarsker Komsomolze“ – G.L. Gubanow – und den verantwortlichen Sekretär – B.I. Lechim. Wenn man sich ihre Urteile ansieht, so bestand ihre ganze Schuld darin, daß sie „Mitglieder einer aufständischen, terroristischen Organisation“ waren. Allerdings ist auch für den Nicht-Fachmann sichtbar, daß die Materialien des Untersuchungsverfahrens gefälscht wurden, und zwar aufgrund angeblicher Selbstbezichtungen der Angeklagten sowie keineswegs glaubwürdigen Zeugenaussagen. Jäh riß der Lebensfaden dieser ehrbaren, rechtschaffenen Leute – im Juli 1938. Nun hat man sie rehabilitiert.
Es muß angemerkt werden, daß sehr viele Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane früher als andere die gefährliche Atmosphäre allgemeiner Verdächtigungen und Unterdrückungsmaßnahmen während der Zeit des Personenkultes erkannten, entschlossen dagegen vorgingen und dann selbst zu Opfern der Willkür wurden. In den Jahren 1935-1938 unterlagen die Staatssicherheitsorgane wiederholten „Säuberungen“. Tausende erfahrener und aufrichtiger Tschekisten, darunter jene, die auf ihren Schultern die ganze schwere Last des Kampfes gegen die Konterrevolution in den Jahren des Bürgerkrieges und während der Zeit der Aufstände geführt hatten. Es kamen auch diejenigen ums Leben, die mit F.E. Dserschinskij gearbeitet hatten, viele der Begründer und Leiter der Allrussischen Tscheka – GPU.
Derzeit gehen die Rehabilitationen von Personen, die durch außergerichtliche Organe, wie „Dojka“, „Trojka“ oder „Sonderberatungen“, verurteilt wurden, in der Region Krasnojarsk ihrem Ende entgegen. Nach Durchsicht und Überprüfung aller im Archiv der KGB-Verwaltung verwahrten Unterlagen, erhielten etwa 9000 Menschen ihre Rehabilitation.
Was die Zahl der Akten betrifft, die keinem Prüungsverfahren unterliegen, machen diese, nach den uns vorliegenden Angaben, etwa 10 Prozent des insgesamt vorhandenen Materials aus. Die Mitglieder von „Memorial“ haben sich mehrfach wegen der Suche nach Verwandten von Repressionsopfern an uns gewandt, um sie zu bitten, Auskunft über deren Schicksal zu geben. Wir tun unser Möglichstes, um diese Art von Hilfe und Unterstützung zu leisten.
Unlängst fand ein Treffen des Leiters der KGB-Verwaltung mit dem Vorsitzenden der „Memorial“-Gesellschaft statt. Man hatte sie zu uns in die Verwaltung eingeladen, wo in konstruktiver Weise Fragen einer gegenseitiger Zusammenarbeit bei derartigen Such-Projekten und eine ganze Reihe anderer aktueller Probleme erörtert wurden. Im Hinblick auf die Veröffentlichung von Namenslisten der rehabilitierten Bürger kann ich sagen, daß die vorbereiteten Materialien von uns an den regionalen Rat der Volksdeputierten übergeben werden, der dann auch über die Frage ihrer Veröffentlichung entscheiden wird.
(Fragmente aus einer Unterredung mit dem stellvertretenden Leiter der KGB-Verwaltung der UdSSR in der Region Krasnojarsk – N.M. Nowoselow)
Das Gespräch wurde geführt von S. Sarajskij.
Die Zeit stellt uns Aufgaben. Krasnojarsker Abendzeitung, 1. März 1990