Liebe Redaktion, ich konnte mich nicht zurückhalten, und da habe ich, eine einfache Frau vom Lande, mich entschlossen, Ihnen zu schreiben. Schon lange wollte ich das, aber ich konnte bisher nicht die Zeit dafür abzweigen. Wenn man in einem Dorf lebt, hat man immer nur Arbeit, Arbeit – der Gemüsegarten, das Vieh. Spät abends zwingst Du dem Leben ein Stündchen ab, liest die Zeitung, siehst fern, und wenn Du dann all die nachrichten gesehen hast, kannst Du bis zum Morgen nicht einschlafen. Die Seele schmerzt. Unser Land gleicht einem Schiff auf hoher See, das in einen schweren Sturm geraten ist. Und in den schlaflosen Nächten denke ich an mein bitteres, schweres Leben zurück ...
Sechs Kinder habe ich großgezogen. Alle sind zu guten, fleißigen Menschen herangewachsen. Eine Tochter wohnt in der Stadt, die anderen auf dem Lande. Auch sie haben alle viele Kinder. Ich habe schon 25 Enkel. Unsere Familie ist wirklich ganz international. Meine Eltern waren Deutsche aus dem Wolgagebiet. Die Großväter erlebten zu ihrer Zeit die Entkulakisierung, nach der man sie in die Region Omsk verschleppte. 1937 wurde der Vater verhaftet, 1938 erschossen sie ihn, 1959 wurde er rehabilitiert. Er hinterließ unsere Mutter mit fünf Kindern. Dann verjagten sie uns als Volksfeinde aus der Wohnung ... Dann brach der Krieg aus. Und damit begann auch für mich die Zeit der Sühne. Im Oktober 1943 wurden ich und meine Altersgenossen auf Viehwaggons verladen und nach Workuta abtransportiert. Dort brachte man uns in einem Lager für Gefangene unter – Stacheldraht, Wachtürme und Baracken mit ewigem Frost unter den Bodenbrettern. Sie zogen uns zu Schwerstarbeit heran – wir mußten im Schacht arbeiten. Wir ernährten uns von gefrorenen Futterrüben, gesalzenen Fischköpfen und Brot – 400 gr pro Tag. Einmal im Monat – Meldepflicht in der Kommandantur, Verhöre und Prügel.
1955 bekam ich meine Ausweispapier gegen Unterschrift zurück. Auf der Quittung mußte ich mich verpflichten, 25 Jahre lang über das zu schweigen, was ich gesehen hatte. Und was ich alles gesehen hatte ... Zu Stapeln aufgeschichtete Leichen mit beschrifteten Schildchen an den Füßen, die im Frühjahr von den am Leben gebliebenen Häftlingen begraben wurden. Ich sah, wie sie einmal mitten auf der Straße einen Menschen zusammenschlugen, der nach der Schicht im Schacht noch in der Kantine gearbeitet hatte und von dort für seine kranke, hungernde Mutter einen Hering hatte mitgehen lassen. Nach getaner Schachtarbeit fielen die Menschen buchstäblich vor Müdigkeit und Erschöpfung um. Aber am Ausgang der Lagerzone warte nicht selten der Kommandant auf sie, um sie zum Flugplatz zu jagen, damit sie dort den Schnee fortschaufelten. Und sie, die völlig erschöpften, konnten doch schon keinen Schritt mehr gehen. Da wurden sie dann wegen Ungehorsam grausam verprügelt.
1955 war es, als sie von mir die Verpflichtung zum Schweigen verlangten. Irgendjemand muß sich wohl vor einer Abrechnung und Bestrafung wegen der unmenschlichen Verbrechen gefürchtet haben.
Nachdem ich mich aus diesem Albtraum losgerissen hatte, kehrte ich nach Sibirien zurück. Auch zu Chruschtschows Zeiten mußten wir uns abquälen – viel zu hohe Steuern, Elend, Hunger. Die Kinder waren noch ganz klein; ich arbeitete als Melkerin. Nein, ich habe niemals in reichen Verhältnissen gelebt. Wir haben gearbeitet, uns abgemüht, und in diesem Sinne auch unsere Kinder erzogen. Und jetzt höre ich, daß man immer häufiger davon spricht, wieviele Menschen bei uns in Armut leben, im Elend. Und gleichzeitig zeigen sie im Fernsehen Berichte von Schönheitswettbewerben.
23.06.1990
Autorin und Veröffentlichung noch unbekannt