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Diese schwere leichte Reise

ETWA FÜNF STUNDEN DAUERTE DIESMAL DER AUFENTHALT DER „LATVIA“ IN TURUCHANSK. UNSER KORRESPONDENT SERGEJ TITOW TRAF AN BORD MIT MEHREREN PASSAGIERE ZUSAMMEN UND ZEICHNETE DIE UNTERHALTUNGEN AUF, FÜR DIE WIR UM IHRE AUFMERKSAMKEIT BITTEN.

«Die «Latvia», die auf dem Weg zu einer «Reise der Erinnerung» an Orte der Verfolgungen war, hatte am Morgen des 25. Juni von der Anlegestelle in Krasnojarsk abgelegt. Zu ihrer Abfahrt waren Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche geladen. Sie hielten einen Gedenkgottesdienst und eine Totenmesse für die Opfer der Willkür ab, unter anderem auch für die Vertreter der verfolgten Geistlichkeit. Auf den Jenissei wurde ein Kranz mit Kerzen herabgelassen, die zum Gedenken an die unschuldig umgekommenen Menschen entzündet wurden. ».
Zeitung «Krasnojarsker Komsomolze», 28. Juni 1990.

Ausgerechnet am 28. Juni legte das Schiff, die «Latvia», von der Krasnojarsker Anlegestelle ab, traf im Zentrum des riesigen Tura im Chansker Bezirk ein. Die Touristen erwartete eine gewöhnliche traditionelle Exkursion, die Bekanntschaft mit dem Ort, und ich wollte gern ein paar dieser Leute kennenlernen, um zu verstehen, ob es lediglich tatenlose Neugier gewesen war, welche sie in unsere Region bewegt hatte.

Lernen wir sie also kennen. Wladimir Georgiewitsch SIROTININ, Vorsitzender der Krasnojarsker «Memorial»-Organisation. Er hat das Wort:

— Die Idee für eine solche Fahrt entstand im «Sputnik» — dem Büro für internationalen Jugend-Tourismus. Uns schien diese Idee sehr gut zu sein, zumal sie im Einklang mit unserer Arbeit stand. Und deswegen erklärten wir uns bei der Krasnojarsker Abteilung des «Sputnik» sofort zur Mitwirkung bereit.

Wir bereiteten diese Reise ab dem Herbst 1989 vor, ganze acht Monate lag. „Sputnik“ arbeitete selber alle organisatorischen Fragen aus, und wir sorgten dafür, dass alle nötigen Informationen für diese Reise sichergestellt waren. Wir treten an Bord des Schiffes mit Vorlesungen zur Thematik des «Memorial» auf, es weiteren nehmen wir eine Wanderausstellung aus dem „Memorial“-Archiv mit, es gibt Video-Material, welches auf die eine oder andere Weise Bezug zur Thematik hat. Und dann treffen wir an Bord regelmäßig mit Passagieren zusammen; während dieser Begegnungen geben wir ihnen Informationen zu den Orten, an denen wir vorüberfahren, erzählen über unser «Ìåìîðèàëå», über seine Arbeit, über die Repressionen in der Region Krasnojarsk, das GULAG-System innerhalb der Region, über die Deportationen, Umsiedlungen usw. Das heißt, wir teilen das Material, welches „Memorial“ erarbeitet hat. Das versuchen wir, indem wir diese Informationen an die Menschen herantragen, damit sie sich dieses tragische Stück Geschichte unseres Landes besser vorstellen können, das vom Umfang, Maßstab und von der Grausamkeit her wohl seines gleichen in der Welt nicht findet. Und weil die Ereignisse jener Jahre, besonders die Repressionspolitik, entweder verschwiegen oder verzerrt werden, meinen wir, dass die Leute die Wahrheit erfahren sollten, und zwar vor allem über die Menschen, die unschuldig verschleppt, verurteilt und erschossen wurden und bei Verhören usw. umkamen. äàëåå. Das ist die Aufgabe der Schiffsreise, und wir wollen sie so gut wie möglich erfüllen.

Es ist die erste Fahrt, die wir gemeinsam mit „Sputnik“ organisiert haben, und natürlich läuft bei uns nicht alles so, wie es eigentlich wünschenswert wäre, aber wir hoffen, dass es nicht die letzte ist, sondern diese Arbeit eine Fortsetzung erfährt. Dann können wir jene Unebenheiten liquidieren, die einstweilen noch bestehen. Ich glaube, dass wir im kommenden Jahr über zahlreiche Informationen verfügen werden. Die Sache ist nämlich die, dass eine weitere Aufgabe der Schiffsfahrt – für „Memorial“ – darin besteht, ergänzende Zeugnisse und Materialien zu den einzelnen Bezirken zu erhalten. Es gibt beispielsweise in Igarka Leute, die sich mit Problemen ihrer Region, ihrer Stadtgeschichte oder mit Menschen befassen, die gewaltsam hierher verbracht wurden, dort lebten – und genauso verhält es sich auch mit — Norilsk, Dudinka, Ust-Port. Und wenn „Sputnik“ keine Einwände hegt (and es sieht ganz so aus, als würde dies nicht der Fall sein), werden wir diese Arbeit im kommenden Jahr fortführen.

— Gut. Wladimir Georgiewitsch, bitte, erinnern Sie unsere Leser an die Geschichte der Gründung der «Memorial»- Gesellschaft und erzählen Sie von sich.

Lande, das heißt sie beschäftigten sich mit Fragen zur Geschichte der Sowjet-Periode unseres Staates und bemühten sich darum, sie zu erforschen, eine Antwort auf die vielen Fragen zu finden, Menschen, die man früher als Abtrünniger, als Abweichler bezeichnete. Es gab auch den Begriff «Dissidenten». Es genügt wohl, nur einige Familiennamen zu nennen, die man vom „Hörensagen“ kennt: A.D. Sacharow, General Pjotr Grigorenko, Aleksander Ginsburg, Wladimir Bukowskij, — es gab viele. Nicht tausende, aber immerhin gab es Menschen, die danach strebten, die Wahrheit zu erfahren und diese dann - an andere weiterzugeben.

Dem Wunsch nach Wahrheit und der Bemühung um ihr Auffinden wurde für gewöhnlich durch Gewalt ein Ende gesetzt: die Leute kamen ins Lager, in psychiatrische Kliniken, in die Verbannung. Aber jetzt, im Zusammenhang mit den Prozessen der Perestroika in unserem Lande, kam die Möglichkeit auf, sich erneut diesen Seiten unserer Geschichte zuzuwenden. Eigentlich stellte den Beginn von «Memorial» die Aktion zweier Leute dar: die Kandidaten der Wissenschaft aus Moskau, Ponomarew und Samodurow, die im Dezember 1987 in Moskauer Theatern Unterschriften zur Schaffung eines Denkmals für die „Opfer des Stalin-Kults“ sammelten, um sich damit an den Obersten Sowjet der UdSSR zu wenden. Sie wurden festgenommen, bestraft, und man versuchte im Großen und Ganzen die Durchführung dieser Aktion zu stören. Und im Januar 1988 erschien darüber in der «Literatur-Zeitung» eine Notiz von einem der führenden Journalisten dieser Zeitung – Jurij Schtschekotschichin. Sobald dies in der gesamten Republik lautbar geworden war, entstanden in zahlreichen Städten und Regionen des Landes recht selbstbewusst «Memorial»-Gruppen. Heute existieren landesweit 164 «Memorial»-Filialen, analoge Gesellschaften in den baltischen Staaten nicht mit eingerechnet, die selbständig tätig sind, aber sehr eng mit den anderen zusammenarbeiten. Filialen und Gruppen zur Unterstützung von «Memorial» wurden in den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Polen gegründet und sind dort aktiv; «Memorial»-Organisationen wurden in der Tschechoslowakei, Griechenland und Israel gegründet. Das heißt, die Bewegung, die als moralische Bewegung zur Rekonstruktion von Menschenschicksalen entstand, beginnt den internationalen Charakter einer gesellschaftlichen Bewegung gegen den Totalitarismus einzunehmen.

Das ist hier natürlich nur sehr kurz dargestellt, weil „Memorial“ in Wirklichkeit keine derart kurze Geschichte hat, und es gibt auch heute noch viele Schwierigkeiten. Aber nichtsdestoweniger arbeitet die Gesellschaft im ganzen Land, und ich sage (ohne damit prahlen zu wollen), dass es sich um eine der privilegiertesten Autoritäten unter den gesellschaftlichen Organisationen handelt.

Die Initiativgruppe wurde in Krasnojarsk im März 1988 gegründet, als wir uns der Kampagne zur Unterschriftensammlung an den Obersten Sowjet anschlossen. Wir sammelten Unterschriften, schickten sie nach Moskau, und sie gelangten zum größten Teil nicht an den Obersten Sowjet, sondern an die Adresse des damals durchgeführten 19. Parteitags. Und damals wurde dort der Beschluss über den Bau eines Denkmals in Moskau gefasst. Zu dem Zeitpunkt hatte die Bewegung den Rahmen für die bloße Errichtung eines Denkmals bereits überschritten, und alle «Memorials», hatten sich selbständig an die Arbeit gemacht, die Schicksale von Menschen, die Klärung aller Umstände im Zusammenhang mit den Repressionen zu erforschen, also alles, was mit diesen Verfolgungen einher gegangen war: Verhaftungen, Verhöre, das Lagersystem, die Deportationen, Verbannungen, die Sonderumsiedlungen. Die Arbeit umfasst all diese Fragen.

Daneben gibt es bei «Memorial» auch noch einen historischen Aspekt. In Moskau wurde ein wissenschaftliches Forschungszentrum von «Memorial» geschaffen; man gründete einen «Ìåìîðèàëà»-Rat mit dem Doktor der Geschichtswissenschaften Jurij Afanassjew an der Spitze. «Memorial» wirkt am öffentlichen Leben des Landes mit, indem es für Demokratie und die Schaffung eines Rechtsstaates eintritt. Das ist alles, was man in so kurzer Form, in Thesen, sagen kann.

Was das Krasnojarsker «Memorial» betrifft, punktet es, wie man sagt, nicht schlecht. Unsere Arbeit besteht im Sammeln von Informationen, die sich auf alle Bereiche richten, die ich angesprochen habe. Derzeit verfügen wir über die einzige elektronisch verarbeitete Datenbase in der gesamten Union, in einer Größenordnung von fünftausend Familiennamen. Sie wird ununterbrochen ergänzt. Weitergeführt wird auch das Sammeln von Zeugnissen und Erinnerungen von Augenzeugen und Teilnehmern an jenen Ereignissen: wir haben mehr als zehntausend maschinengeschriebene Textseiten zusammengetragen.

— Das ist eine ungeheure Arbeit!..

— Wissen Sie, an freie Tage kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Ich habe mich losgeeist zu dieser Reise und wenigstens ein bisschen dabei erholt. In Wirklichkeit gibt es eine Menge Arbeit. Die Erinnerungen, die Dokumente erfordern eine ganz bestimmte Bearbeitung, das Führen erweiterter, vielfältiger Kartotheken. In der regionalen Presse tauchen von Zeit zu Zeit Publikationen von «Memorial» auf — Listen aus unserer Kartothek von in der Region Krasnojarsk verfolgten Personen. Außerdem gibt es im Almanach «Jenissei» eine ständige Rubrik «Memorial», für die wir ebenfalls regelmäßig Material vorbereiten.

Derzeit macht die Gesellschaft eine Wendeperiode durch, das heißt parallel zu den angesammelten Informationen ergibt sich die Notwendigkeit, sie zu bearbeiten, zu begreifen und die Ergebnisse unseren Mitbürgern, unseren Historikern usw. zur Beurteilung vorzulegen. Die Gesellschaft verfügt über ein sehr umfangreiches Archiv. Neben Erinnerungen und Zeugenberichten gibt es zahlreiche Fotografien, Dokumente unterschiedlichster Art. Wir sind bemüht, die Leute mit ihnen bekannt zu machen.

Es kann beispielsweise folgendes passieren. Natürlich habe ich irgendetwas versäumt, ausgelassen, weil wir unsere Arbeit in verschiedene Richtungen lenken, insbesondere unsere Suchtätigkeiten an den Haftverbüßungsorten. Da die Archive, vor allem die behördlichen des KGB und MWD, für uns unzugänglich sind, müssen wir die Haft- und Begräbnisorte selber ermitteln. Im vergangen Jahr haben wir vier Expeditionen ins Kraslag unternommen. Für dieses Jahr planen wir eine sehr große Polar-Expedition: nach Rückkehr von dieser Reise fliege ich sofort nach Chatanga. Jedenfalls ist das geplant, ich weiß allerdings nicht, ob es klappt — unsere Kraft reicht einfach nicht, die Bahnstrecke 503 zu passieren, die Todesstrecke von Salechard nach Igarka. Dort sind aber schon die Moskauer durchgekommen, und die sollen uns einen Teil der Materialien zuschicken. Die nördlichen Lager — sind der weniger bekannte Teil des GULAG, es gelingt praktisch nicht, diejenigen aufzufinden, die dort in Haft waren, und ihre Aufenthaltsorte ermitteln wir hauptsächlich durch die Befragung von Geologen, Feldmessern, Fliegern.

— Bitte erzählen Sie von sich; wer sind Sie, was arbeiten Sie.

— Ich bin ein einfacher Sowjetmensch. Ich habe zu meiner Zeit das Leningrader Institut für Technologie absolviert, bin gemäß Verteilerschlüssel nach Krasnojarsk geschickt worden und lebe und arbeite hier seit 1960. Bei «Memorial» bin ich keine Zufallsperson, denn ich verfügte wohl über eine gewisse Verbindung zur Menschenrechtsbewegung, Unannehmlichkeiten mit den Behörden, und mit dem, womit ich mich heute beschäftige, befasste ich mich auch damals schon. Und als man diese Arbeit, falls man das so ausdrücken kann, «legalisieren» konnte, habe ich mich sofort «Memorial» angeschlossen. Im Oktober 1988; da wurden wir schon nicht mehr verhaftet.

In meiner Familie gibt es keine Repressionsopfer, denn meine jetzige Tätigkeit hängt nicht damit zusammen, dass irgendeinem meiner Angehörigen Leid zugefügt wurde. Ich weiß nicht, ob es mich schon immer interessiert hat und ob ich die Dinge, die in unserem Lande passierten, schon immer als schmerzlich empfand.

In Bezug auf die Arbeit fällt es mir schwer etwas dazu zu sagen. Vielleicht werden Sie das auch nicht in die Zeitung setzen, aber eins sage ich Ihnen: heute bin ich arbeitslos. Das heißt, seit diesem Montag bin ich entlassen. Ich war im Krasnojarsker Heimatkunde-Museum tätig, der Museumsdirektor weigerte sich, mich wegen der Teilnahme an dieser Reise gehen zu lassen, aber ich konnte die Jungs vom «Sputnik» doch nicht versetzen... So kam es zum Konflikt, und ich war gezwungen, meinen Antrag auf Entlassung einzureichen. Mal sehe, was weiter wird...

Weshalb ich mit meiner technischen Ausbildung zum Heimatkunde-Museum kam? Damit ich mehr Zeit hatte mich mit «Memorial-Dingen» zu befassen. Es war geplant, ins Museum einen Teil für eine Ausstellung auszugliedern, inzwischen gibt es viele, die meisten Museen beschäftigen sich mit diesem Zeitraum; unter anderem war auch die Schaffung eines Ausstellungsraums über die Repressionen in unserem Land angedacht, und ich sollte ihn ausgestalten, woran ich mich auch machte. Aber.. Was soll man machen, es läuft nicht immer alles glatt bei uns.

Ein Wort von Dmitrij Nikiforow, stellvertretender Vorsitzender der Krasnojarsker Filiale des internationalen Büros für Jugend-Tourismus «Sputnik», an den Reiseleiter:

— Traditionsgemäß hat unser Büro Kreuzfahrten auf dem Jenissei unternommen: Sechs-Tage-Routen «Solnyschko» für Studierende sowie fünfzehntägige Fahrten «Polarstern» von Krasnojarsk nach Dudinka und zurück. Wenn man berücksichtigt, dass unsere Region eine Gegend war, in der sich viele unterdrückte Menschen gequält haben, in der es viele Balten gab, trägt das von uns gemietete Schiff nicht umsonst den Namen «Latvia». Und wenn unsere Jungs von den Fahrten zurückkehrten, berichteten sie eine Menge von den Überresten der Lager, die an den Ufern des Jenissei noch erhalten geblieben sind, stellten uns Fragen, auf die wir keine klaren, überzeugenden Antworten geben konnten. Im Großen und Ganzen ist das Interesse an dieser Thematik und an der «Memorial»- Gesellschaft groß, und so keimte dann auch die Idee zu einer solchen Reise auf dem Jenissei mit Abstechern zu den Orten, die mit den stalinistischen Repressionen im Zusammenhang stehen. Wir haben diese Kreuzfahrt «Erinnerung» genannt, als Tribut an das Gedenken an jene Menschen, die hier, in der Region Krasnojarsk, schuldlos umkamen.

Sie haben mir die Frage nach verfolgten Verwandten gestellt... Die Familie meines Großvaters wurde 1930 aus dem Psowker Gebiet in den Ural ausgesiedelt, weil mein Urgroßvater und drei seiner Söhne sechs Kühe und drei Pferde besaßen. Sie wurden als Großbauern enteignet.

Wir wussten, dass es die Gesellschaft «Memorial» gibt, machten Wladimir Georgiewitsch ausfindig, kontaktierten ihn und unterbreiteten ihm eben jene Idee. Die Abfahrt wurde konkret geplant, und vor drei Wochen waren wir überzeugt, dass wir uns mit voller Passagier-Auslastung auf die Reise machen würden, aber dann traf ein Telegramm aus Litauen ein: man sagte aufgrund der politischen Lage ab, die sich in der letzten Zeit entwickelt hatte. Laut Vertrag hatten sie bei uns achtzig Tickets gebucht. Aber es gibt trotzdem Litauer an Bord.

Neben dem Programm, welches «Memorial» zusammengestellt hat, hat auch «Sputnik» sein Programm vorbereitet, das traditionelle. Lebendiges - den, denn trotz allem fahren die Leute, um sich zu erholen. Für sie sind unsere traditionellen Veranstaltungen gedacht: angeln, tanzen. Das Leben geht weiter. Morgen werden wir den Polarkreis überfahren, dann feiern wir den Neptun-Tag.

Es spricht Marina GLEBOWA, Mitglied von «Memorial»:

— Ich bin vor einem Jahr zu «Memorial» gekommen, nachdem ich den Artikel in der Zeitung «Krasnojarsker Komsomolze» gelesen hatte. Ich beschloss, diese Leute kennenzulernen und sah, dass es sehr wenige waren, aber dass sie eine Menge Arbeit hatten, und so fing ich allmählich an, dort zu arbeiten. Später hat mich das dermaßen interessiert, dass ich mich an der Fakultät für Geschichte eingeschrieben habe, um mich damit ernsthafter zu befassen. Zur Zeit studiere ich im zweiten Kursus.

Wir begegneten auf dem Schiff auch einigen Passagieren dieser ungewöhnlichen Reise. Insgesamt waren es 159 Passagiere, sie stammten aus unterschiedlichen Ortschaften des Landes, unter anderem auch aus dem Baltikum. Wir hatten den Eindruck, dass es für unsere Leser interessant wäre, gerade die Meinung der Touristen aus dem Baltikum zu hören.

Birute TOLWAISCHENE, Polygrafin aus Wilnius:

— Wir sind so beeindruckt, dass wir gar nicht wissen, was wir sagen sollen. Alles gefällt uns sehr gut. Der Wunsch, diese Region zu sehen, hat uns hierher geführt. Wie sie verstehen, haben viele der Unseren hier die Nachkriegszeit nicht aus freiem Willen verbracht, sie gehörten zu den Repressionsopfern. Wir haben in der Zeitung die Reklame der Jugendorganisation «Sputnik» gelesen. Wir glaubten, dass man uns nicht fahren lassen würde, aber es stellte sich heraus, dass dies möglich ist. Natürlich verhält es sich bei uns gerade so, dass wir sehr besorgt sind, wie es wohl wird; deswegen kann es sein, dass sich weniger Leute finden, die die Fahrt machen wollen.

Aber Ihre Region — ist einfach nur ein Wunder. Die Natur, der Jenissei... Noch sind wir nicht müde geworden, noch gefällt es uns. Wir haben gesehen, wie die Menschen hier leben. Natürlich hat jede Gegend ihr Ungemach, bei uns gibt es auch nicht weniger als hier. Die Häuser sind alt, aber wir wundern uns doch, dass sich an den Ufern so viel Holz auftürmt,- was für ein Reichtum! Bei uns wird jedes einzelne Stöckchen gezählt.

Und die politische Lage zwingt uns dazu, uns Sorgen zu machen. Man möchte doch, dass alles friedlich ist und es allen gut geht. Und die Menschen? Sie tragen keine Schuld. Hier erzählt man vielleicht, dass die Litauer die Russen schneiden oder so etwas ähnliches? Nichts dergleichen, alle leben friedlich.

Rinantas WISOZKAS, Möbelhändler aus der Stadt Ukmerge:

— Wir, die einfachen Leute, haben nichts zum Teilen. Sie wollen die Selbständigkeit, und wir wollen das auch, das ist alles. Zudem erhalten wir all unsere wirtschaftlichen Verbindungen mit der Sowjetunion aufrecht. Allerdings ist der Rubel in letzter Zeit nichts mehr wert...

— Verzeihen Sie, gefällt Ihnen diese Reise. Wieviel haben Sie dafür bezahlt, wieviel insgesamt?

— 650 Rubel.

— Heißt das dann also, dass der Rubel noch etwas wert ist?

Jutschas PRANAS, Dozent an der landwirtschaftlichen Universität:

— Diese Strecke einmal abzufahren – daran habe ich wohl schon vor drei Jahren gedacht. Jetzt werden bei uns sehr viele Erinnerungen derer veröffentlicht, die von hier zurückgekehrt sind. Hier in die Region Krasnojarsk wurde die gesamte Familie der Schwester meiner Ehefrau ausgewiesen, wie sagt man auf Russisch? Welche Eindrücke? Ich bin erstaunt, hier einen noch so sauberen Fluss vorzufinden. Ich war am Baikal, es gibt viel zu vergleichen.

Während der Reise begegneten wir einem unserer Landsmänner - wir waren bei ihm Zuhause – in Worogowo. Ich wunderte mich, wie gut er sich fühlte, seinen Haushalt führt und sein Pferd versorgt. Es heißt, dass in Igarka viele unserer Landsleute leben, wir werden sie besuchen, mit ihnen reden.
Die Natur ist schön hier, aber in gewissem Sinn erstaunt einen die Unordnung. Wir sehen, dass hier jede Menge Holz herumliegt. Das ist nicht wegen schlechter Beziehungen, sondern offensichtlich deswegen, weil es hier im Überfluss vorhanden ist.

Was die Lage in Litauen und der der gesamten Union im allgemeinen betrifft, bon ich beinahe davon überzeugt, dass die Union zusammenbrechen muss. Wenn wir auf menschliche Art und Weise leben wollen, denn die Geschichte zeigt, dass alle Imperien ins sich zusammengestürzt sind, nur eine letzte ist noch übriggeblieben. Die Russen sind meiner Ansicht nach ein sehr herzliches Volk, und so lange es diese Unordnung duldet, wird es auch im Elend weiterleben. Es soll selber die Macht in die Hand nehmen und jene hinausschmeißen, von denen sie herumkommandiert werden. Hier in Turuchansk hat man uns erzählt, wie Kaufleute in alten Zeiten die Ortsbevölkerung ausgeplündert haben, indem sie ihnen spottbillig Felle abkauften. Bei mir entstand der Gedanke: was für einen großen Unterschied macht das schon zur heutigen Zeit? Die Leute arbeiten auch, in den Geschäften gibt es nichts zu kaufen, sie werden ebenfalls ausgeplündert, nur von anderen Herren.

In Litauen blickt man heute auf Russland: wenn man in Russland begreift, wie man sich von diesem Joch befreien kann, dann wird Russland frei sein und damit auch alle übrigen Republiken. Jede Republik sollte meiner Meinung nach politische Unabhängigkeit besitzen. Die wirtschaftlichen Beziehungen, die sich in Jahrzehnten herausgebildet haben, werden so bleiben, wie sie sind. In Litauen produzieren wir mehr Fleisch und Milch, in Russland mehr Erdöl. Warum sollen wir unsere Beziehungen abbrechen und etwas Neues suchen? Wir werden ganz genauso Handel miteinander treiben. Die alte Propaganda im zentralen Fernsehen wird durch die Devise «Teile auf und herrsche» abgelöst werden. Angestammte Kolonial-Logik. Es kränkt uns, wenn man uns als irgendwelche Extremisten darstellt. Nichts dergleichen! Vor den Wahlen hat man uns zwei Programme vorgestellt: «Sajudis» sagte dem Volk, dass wir, wenn ihre Kandidaten verschwinden, sofort die Unabhängigkeit erklären werden. Die kommunistische Partei Litauens meinte, "dass «wir — für die Unabhängigkeit sind, aber wir werden uns langsam darauf zu bewegen». Das ganze Volk wählte «Sajudis».

— Die Menschen bei uns sind beunruhigt wegen eurer nationalen Minderheiten: wie schlecht es mit den Russen, Juden, Polen steht...

— Das sind koloniale Gespräche, um ein Volk auf das andere zu stoßen. Wie die Russen gearbeitete haben, so arbeiten sie auch Seite an Seite mit Litauern, wie sich miteinander umgegangen sind, so gehen sie auch jetzt miteinander um. Früher, als Litauen seine Unabhängigkeit noch nicht erklärt hatte, wurde ein Gesetz über die Sprache verabschiedet. Man verlangte, dass in der Litauischen Republik litauisch die Staatssprache sein sollte. Und da gibt es einen Punkt: wenn du Chef werden willst, Direktor einer Fabrik oder so etwas in der Art, musst du litauisch können, damit jede beliebige Alte kommen und in ihrer Muttersprache etwas fragen kann. Deswegen haben einige Leute Aufhebens gemacht. Sie haben in unserm Volk dreißig Jahre lang gelebt, ohne es, seine Sprache und Kultur zu respektieren, ohne zu wissen, wie man auf Litauisch „Guten Tag“ sagt!...

Danute KASCHOSCHAITE, Bedienungskraft für Datenverarbeitung aus Vilnius:

— Ich wollte schon lange einmal auf dem Jenissei fahren, habe mich für die Erzählungen meiner Angehörigen interessiert, die hier waren und denen alles sehr gut gefallen hat. Ich habe in der Zeitung eine Annonce von «Sputnik» gelesen, vor allem, weil die Schiffsfahrt den Titel «Erinnerung» trug. Der Mann aus Worogowa, den wir trafen, hat seine Wurzeln unweit des Bezirks, in dem ich lebe. Er wollte nicht dorthin zurück: hier ist seine Familie, sein Haushalt, seine Frau ist Russin. Nur die Tochter ist nach Litauen ausgereist. Die Natur hier sieht so malerisch aus, wenngleich die Lebensbedingungen natürlich rauer sind, als bei uns.

Wladas Schamaitis, Elektroingenieur aus der Stadt Paneweschis:

Jeden Sommer, im Urlaub, reise ich irgendwohin, weit weg von Zuhause, um zu sehen, wie andere Menschen leben. Ich kann den Jenissei mit der Wolga vergleichen: hier sind Wald und Natur jedenfalls in einem besseren Zustand. Wenn sich hier auch die Industrie entwickelt, dann wird sie ebenfalls alles zugrunde richten. Es gibt zwar viele Mücken, aber immerhin sind es keine Krokodile.

Solche Unterhaltungen gab es also an Bord des Schiffes mit Passagieren dieser ungewöhnlichen Reise. Es gab auch andere Gespräche, Interviews, und in allen schimmerte ein Gedanke durch: vieles wurde uns auf dieser Welt gegeben, man kann und muss gut leben, aber das Wichtigste ist — dass sich niemals wieder die düsteren Episoden unserer noch gar nicht so weit zurückliegenden Geschichte wiederholen.

Sergej Titow

Mark Sewera (Turuchansk), 07.07.1990


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