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Notwendig für die Lebenden


Der Brief war auf Birkenrinde geschrieben. Er geriet ans Kansker Heimatkundemuseum nicht aufgrund von Ausgrabungen unter der Stadt, sondern aus dem KrasLag, dessen einer Hauptort in den schlimmen denkwürdigen Jahren die Stadt Kansk war. Dieses Stückchen Birkenrinde mit seinen einfachen Zeichnungen und Text, das der Stadtbewohnerin Anna Christianowna Luft gehört, — stellt ein Bruchstück der Vergangenheit dar, jener fünf Jahre, die sie in stalinistischen Lagern verbrachte.

Und als am 11. Juli im Stadtmuseum die Ausstellung «Beim Namen nennen» eröffnet wurde, die dem Gedenken an die Opfer der Repressionen in jenen schrecklichen Jahren gewidmet war, befanden sich unter den allerersten Besuchern auch Anna Christianowna, für die Sibirien — auch wenn es durch den Willen des Schicksals geschah — zur zweiten Heimat wurde, ebenso wie W.S. Demjanenko und K.I. Suchotin, die den Fleischwolf des KrasLag wie durch ein Wunder überlebten. Ja, es kamen nicht viele zu dieser Eröffnung, diejenigen, welche die leidvollen Lager-«Universitäten» durchlaufen hatten, — eine erbarmungslose Zeit, und selbst diejenigen, die hinter dem Stacheldraht unversehrt blieben, können heute ihren Gesundheitszustand keinesfalls rühmen. Und trotzdem: als sie von den Vorbereitungen für die Ausstellungen hörten, kamen die Leute selber ins Museum, brachten kostbare Familienreliquien — vergilbte Fotos, Dokumente, jene wenigen Gegenstände aus dem Lageralltag, die in den Familien der Repressionsopfer noch erhalten geblieben sind.

Auf den Ausstellungstischen — Fotos von bis heute in Kansk sehr bekannten Menschen: des ehemaligen Museumsdirektors Aleksander Sergejewitsch Poscahrskij. Verurteilt nach § 58-10, Absatz 1. Tod durch Erschießen.

Kallistrat Aleksejewitsch Moskalew, einst roter Partisan, der an der Tassejewsker Front kämpfte und anschließenâ als junger Milizionär beim NKWD diente. Todesjahr — 1937.

Einer der eigenen Berichterstatter des «Krasnojarkser Arbeiters», Michael Petrowitsch Polsunow, der in den 60er und 70er Jahren in Kansk und im Kansker Bezirk tätig war. Lagerhaft von 1938 bis 1942.

Als noch ganz junge Mann geriet im Alter von 17 Jahren auch Jewgenij Iwanowitsch Sapletschnij zwischen die Mühlsteine der Repressionsmaschinerie, später einer der beim Publikum beliebtesten Schauspieler des Kansker dramaturgisch-epischen Theaters.

Ebenfalls im Jahr 1937 wurden der Vorsitzende des Kansker Exekutivkomitees Sergejewitsch Tschebajewskij und der Autor des ersten sowjetischen Zukunftsromans «Das Land Gonguri», der Poet Vivian Asarewitsch Itin, der in den 20er Jahren als Redakteur der Zeitung «Kansker Bauer» tätig war, Repressalien ausgesetzt.

Einen bedeutenden Teil der Repressionsopfer im Kansker Bezirk machten die Wolgadeutschen aus, unter denen sich nicht wenige Lehrer, Ärzte, Agronomen und Ingenieure befanden. Von den Fotos blicken auf die Museumsbesucher Alexander Adamowitsch Abich, Direktor des Kansker und später Abakansker Theaters. Während des Krieges kam er, Student an der Theaterfachschule Saratow, zuerst in die Arbeitsarmee und anschließend ins KrasLag.

Ins Auge fällt auch die traurig-umfangreiche Geographie der Kansker Lagerzone des KrasLag. Neben Ortsbewohnern und Wolgadeutschen konnte man in den Lagern auch Sonderumsiedlern aus der Ukraine und Aussiedlern aus verschiedenen Bezirken Russlands begegnen. Lange blickt das Auge auf eine Aufnahme mit der kunstlos einfachen Aufschrift: «Schule ¹ 9. Kinder aus Kalmückien, 1943 nach Sibirien verschleppt».

Und dort – noch ein Ausstellungstisch. Diese Gesichter und Namen sind allen bekannt: W.G. Jakowenko, N.M. Buda, J.K. Rudakow, R.P. Eideman, R.I. Eiche, W.J. Sasubrin... Todesjahr — 1937 — 1938 — 1939.

Es könnte so aussehen, als ob die Museumsausstellung lediglich von den Schicksalen der Intelligenz erzählt, aber das ist zweifellos nicht der Fall. Ich schaue mir die alten Fotos noch einmal an: ein Arbeiter, ein Bauer, ein Wärter der Genossenschaft... Und sie alle waren «Volksfeinde». Charakteristisch ist auch, dass in den Sterbeurkunden als Gründe für den Tod Herzstillstand oder schwere Lungenentzündung genannt werden, alles, was geeignet erscheint – nur nicht die Wahrheit. Zu der damaligen Zeit gab es eine spezielle Liste mit 47 Todesgründen, bestätigt vom NKWD, und erst viel später tauchte in den Todesbescheinigungen das Wort «erschossen» auf.

Diese Ausstellung erzeugt nicht wenige bittere Gedanken, eine Ausstellung, die mit Bedacht und Herz von der Museumsmitarbeiterin Nina Iwanowna Trubnikowa und dem Künstler Jurij Melzew vorbereitet wurde; sie zwingt einen über vieles nachzudenken, sich an vieles zu erinnern. Bei der heutigen Fülle von Zeitungs- und Zeitschriften-Publikationen sind die nicht-sensationellen Themen in letzter Zeit irgendwie nicht verloren gegangen, auch dank der Arbeit der Gesellschaft «Memorial» zur Verewigung des Gedenkens an die Opfer der Repressionen. Dabei hat sich alles nicht irgendwo und nicht mit irgendwem, sondern mit uns und unter uns abgespielt. Und bis heute leben in den benachbarten Straßen sowohl die, die in die Lager getrieben wurden, als auch jene, die sie dorthin brachten. Und bis zum heutigen Tage sind in Kansk die Gebäude des Clubs und des Krankenhauses des einstigen KrasLags erhalten geblieben. Damit also in uns die Erinnerung nicht einschläft, hat man sich auch im Kansker Museum bemüht, wenn auch nicht alle, so doch wenigstens einen Teil der Märtyrer namentlich zu benennen.

Am Eingang zum Saal steht ein pompöser Generalissimus aus Bronze, der einst die zentrale Ausstellung des Museums schmückte, und heute verwirrt auf die Tafeln am Lagerzaun und den Stacheldraht blickt — genau so wurde die Ausstellung gestaltet. Ja, die Zeiten ändern sich, und man möchte glauben, dass sie dies endgültig tun. Und deswegen finden sich im Beurteilungsbuch neben Worten der Dankbarkeit auch — Bitten: «Bitte nehmen Sie in die Liste der Repressionsopfer weitere Namen auf...»

J. Tschuwaschew
„Pobeda“ (Nischneingschsker Bezirk), 07.08.1990


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