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Auf der „Straße des Todes“ unternahmen Moskauer Touristen eine einzigartige Reise

In der siebten und zehnten Ausgabe der Zeitschrift „Tourist“ des Jahres 1990 wurde ein Interview unseres Korrespondenten O. Fomernko mit dem Ingenieur und Sportmeister der UdSSR J. Protschko veröffentlicht, in dem es um den Bau der Transpolar-Eisenbahn-Magistrale ging, die zu der damaligen Zeit als eine der „größten Bauprojekte“ bezeichnet wurde. Heute schlagen wir Ihnen vor, eine Reise auf der „Todes-Strecke“ zu unternehmen – so wird die einstige Magistrale heute genannt – gemeinsam mit unseren Zeitgenossen.

Alles begann mit der Zeitschrift „Der Tourist“, welche Materialien über eine Expedition der Pfadfinder des Moskauer Modellbahn-Klubs auf der „Todes-Strecke“ veröffentlichte (s. „Der Tourist“, N° 8, 1985). Und da kam dann der hirnrissige Gedanke auf: und was ist, wenn man…. auf Fahrrädern?

Mehr als zwei Jahre bereitete man sich auf das Vorhaben vor. Zu der Gruppe, die von Walerij Medowyj, einem der erfahrensten Touristen in der Hauptstadt, gehörten die Aktivisten der städtischen Moskauer Fahrrad-Kommission Lew Dawydow, Anatolij Gajel, Sergej Kolzow, Ilja Pewuntschikow, Dmitrij Fedjuschin sowie der Autor dieser Zeilen. Nach einem Treffen mit Leuten, die in den vergangenen Jahren schon einmal in diesen Gegenden gewesen waren, wurde ein ziemlich düsteres Bild gemalt. Auf einer Streckenlänge von tausend Kilometern zwischen Jenisej und Ob, immer am Polarkreis entlang, kann man kaum ein Dutzend Siedlungen zählen. Es gibt praktisch keine Straßen, es sei denn man rechnet die kleinen „Betonkas“ (betonierte Wegstrecken; Anm. d. Übers.) nahe Nowyj Urengoj und Nadym mit. Die restlichen hundert und aberhundert Kilometer – sind im günstigsten Fall überwucherte und vom ewigen Frost deformierte Bahndämme der im Stich gelassenen „Eisernen“. Allerdings sind am westlichen Abzweiger, zwischen Nadym und Salechard, beinahe durchgehende Gleisstücke erhalten geblieben, die allerdings zum Teil erheblich beschädigt sind. Und von Nowyj Urengoi bis nach Nadym existiert noch eine vollkommen intakte behördliche Eisenbahnlinie mit äußerst selten fahrenden Zügen… Und so kamen wir auf die Idee, Fahrräder auf die Gleise zu bringen. Schon bald tauchte in unserem Reisevorbereitungsvokabular das Wort „Fahrrad-Draisine“ auf.

Der wichtigste Entwerfer und Schöpfer der speziellen Fahrrad-Vorrichtung für die Fahrt über den Schienenweg war Anatolij Gajel. Die mit seiner Hilfe hergestellten Konstruktionen aus Rohren, Rollen und Stütz-Stäben (jedes Ansatzstück für die Fahrräder wog 6 kg) wurden vorher schon nach Nowyj Urengoi geschickt, denn auf dem östlichen Abschnitt unserer Reiseroute konnten sie uns nicht nützlich sein. Und dennoch kam das Start-Gewicht bei jedem auf 37-40 Kilogramm – plus Fahrrad… Nachdem wir unsere Fahrt in Moskau geplant hatten, hofften wir die „Große“ auf dem östlichen Abschnitt der Marschroute zumindest als „Untergestell“ zu benutzen. Doch die Realität erwies sich leider als viel schlimmer.


Die ersten Kilometer auf den Schienen

Die ersten Kilometer von der verlassenen Siedlung Jermakowa am Jenissei sind durch und durch mit Spurrillen durchzogen – die Spuren schwerer Gelände-Fahrzeuge, welche hier vor einigen Jahren eine hier arbeitende geologische Gruppe betreut haben. Äußerst merkwürdig, geradezu „jenseitig“ kam uns die inmitten dieses Traktorenweges stehende alte Lok vom Typ „OW“ („Owetschka“ = „Schäfchen“; Anm. d. Übers.) vor. Gleise gibt es dort schon seit langem nicht mehr; man hat sie zum Einschmelzen gebracht, und diese „Veteranin“ ist eine der Augenzeugen des „großen Stalin-Bauprojekts“ übrig geblieben.

Je weiter man kommt – desto schlimmer wird es: wir kamen an vernachlässigte Teilstücke des ehemaligen Fahrdamms. Und da kommt auch schon das erste ernsthafte Hindernis – eine große Brücke über den Barabanicha. Beton-Brückenpfeiler, eiserner Träger… Der am weitesten entfernte ist vom Ufer-Pfeiler herabgerutscht und mit einem Ende zu Boden gefallen. Eine gigantische Leiter ist entstanden, die jäh nach unten führt. Anstelle von Stufen – verfaulte Bahnschwellen. Wir mussten eine Art Pendelverkehr für das Übersetzen organisieren: einer steigt ganz vorsichtig auf die Balken, der andere sichert ihn von oben mit Hilfe eines Seils.


Übersetzen über den Fluss Libjacha

Es waren viele Brücken, denen wir auf der Trasse begegneten. Manche folgte eine der anderen, mit Intervallen von 200-300 Metern. Zumeist waren es hölzerne Konstruktionen – bereits stark zerstört oder deformiert: der ewige Frost hatte ganz beharrlich die Stützpfeiler nach oben hinausgeschoben, und dadurch hatten sich die Brücken über dem Bahndamm aufgebäumt, ihr Belag war überall aufgerissen und hatte Höcker gebildet. Wir mussten „Zugangswege“ aus in der Nähe liegenden umgestoßenen Schwellen und Brettern einrichten.

Das „Sortiment“ an Hindernissen wurden durch tiefe Auswaschungen im Bahndamm ergänzt. Ein jäher Abhang in der sandigen Böschung – das Fahrrad wird dir aus der Hand gerissen und zieht dich buchstäblich hinter sich her; die Suche nach einer geeigneten Stelle für das Durchwaten des nächsten Bachs und schließlich der Aufstieg am gegenüberliegenden Hand mit all seinen Auswaschungen… Einer schaffte es nicht, er benötige „Anschub“, durch den von hinten sein schwerer Fahrrad-Rucksack unterstützt wird. So zogen wir erst das eine Fahrrad hinüber, dann das zweite…. letzte! Die Hindernisse (waren es hundert, hundertzwanzig, hundertfünfzig?) waren gemeistert. Wir atmeten auf, stärkten uns mit einer Ascorbinsäure-Tablette oder ein paar Rosinen, gingen weiter. Genau - „gingen“! Das Fahren konnten wir nämlich schon auf den ersten Kilometern vergessen. Und ein paar Tage später traten wir einträchtig miteinander in die Pedale, kletterten durch Zweige und über Baumstämme. Aber auch das war irgendwie nicht sonderlich effektvoll. Im Tal des Flusses Turuchan erwies sich die „Todesstrecke“ als verschlungenes, undurchdringliches Dickicht von Purpurweiden. Die gräulichen, glatten Stämme und Äste waren dicht miteinander verflochten, so dass sich ganz ungewollt ein Vergleich mit einem tropischen Urwald anbot. Ein Dschungel im Polargebiet!... Wir versuchten eine Schneise zu schlagen – eine einfach viel zu lange dauernde Zwangsarbeit. Da blieb nur eines: die schwer beladenen Fahrräder als Rammböcke zu benutzen und mit ihnen das Dickicht niederzudrücken und beiseite zu schieben. Eins, zwei – und los! Nochmal – eins, zwei! …

Eineinhalb Kilometer pro Stunde – das war unsere Reisegeschwindigkeit. Und plötzlich eine neue Überraschung – es kam ein Abschnitt mit nicht entfernten Bahnschwellen. Und natürlich waren sie an den am schwersten zugänglichen Stellen am besten erhalten geblieben.

Wir mussten das Fahrrad von einer Vertiefung in die nächste rollen, wie auf einem Kamm von gigantischer Größe.

Mehrmals am Tag begegneten wir auf unserer Reise Überreste verlassener Lager. Die meisten von ihnen waren schwer zerstört, allerdings sahen wir auch erhalten gebliebene Lagerstädtchen, bis hin zu unbeschädigtem Fensterglas. In solchen von der Natur behüteten Siedlungen, die von Stacheldraht umgeben sind, fanden wir mehrfach Bestätigungen für
die Erzählungen der Alteingesessenen darüber, dass die Lager bei Einstellung der Bautätigkeit sorgsam konserviert worden waren. Die Fensterrahmen hatte man mit Holzbrettern geschützt, die Pritschen auseinander genommen und zu akkuraten Stapeln zusammen gelegt, die staatlichen Möbel (Hocker, Stühle, Kanzlei-Tische) waren in einem Raum zusammengestellt worden. Es heißt, dass sie damals, im Jahre 1954, sogar die Lager-Tore mit Plomben versiegelt hätten, eingehüllt in spezielle wasserundurchdringliche Schächtelchen. Wir fanden derartige Plomben nicht, aber auch die wundersamen Spuren offenkundiger Sorge um die Erhaltung der geschlossenen Lager-Städtchen führten zu ganz bestimmten Schlussfolgerungen. Bedeutete es, dass sie gehofft hatten, noch einmal hierher zurück zu kehren? Hieß dies, dass jemand von der obersten Lagerleitung, nachdem er den Befehl zum Abtransport der Häftlinge vom Bauprojekt gegeben hatte, in seinem tiefsten Inneren annahm, dass im Laufe der Zeit alles wieder wie früher sein würde?

Als wir die unversehrt gebliebenen Gebäude durchstöberten, gelang es uns, so manches 40 Jahre alte Dokument zu finden: in den Baracken der einstigen Administration, in Ofenöffnungen, entfernten Ecken der Wohnblocks, unter Pritschen… Viele interessante Dinge nahmen wir vom Lagerpunkt Nr. 9 mit, der im Walddickicht am Ufer des Turuchan buchstäblich verschwunden daliegt. Im Amtszimmer einer ehemaligen Vorarbeiterin war der ganze Fußboden mit verblichenen Blanko-Formularen übersät, die aus umgestürzten Kisten herausgefallen waren. Hier fielen uns auch einige bunte Plakate für Sicherheitstechnik ins Auge, die auf Befehl der GULDSCH (Hauptverwaltung des Eisenbahnbaus) gedruckt worden waren. Eines davon belehrt einen beispielsweise darüber, dass man die Schwellen zu Zweit auf den Schultern zu tragen hat. Da kann man mal sehen, wie besorgt sie um die Gesundheit der Häftlinge waren! Hauptsächlich stießen wir in dem Papier-Chaos auf Schriftstücke, welche die Buchhaltung sowie wirtschaftliche Belange betrafen. Die vielfältigen typographischen Vordrucke und Formulare versetzten uns schlichtweg in Erstaunen. Eine „Kontrollfrist-Karten“, ein „Kleiderbuch für Gefangene“, „Bestellzettel für die Essensration“, eine „Liste der Gefangenen ohne Begleitwachen“…

Unter anderen Papieren fand sich das abgerissene Stück eines Vordrucks des sogenannten „Formulars N° 2“, bei dem die vereinbarten Ziffern-Bezeichnungen der Gefangenen-Kategorien abgeschnitten worden waren, die zur chiffrierten Übermittlung statistischer Angaben in den täglich stattfindenden Telefongesprächen benutzt wurden. Auf diesem Formblatt waren 23 Häftlingskategorien ausgewiesen. Sie betrafen nur diejenigen, die am Leben waren, aber zusätzlich gab es auch noch Kategorien für die aufgrund von Krankheiten verstorbenen, bei Unfällen umgekommenen, ermordeten… Übrigens gab es nach offiziellen Dokumenten im gewöhnlichen Alltagslagerleben überhaupt keine Ermordeten – diejenigen, die „bei dem Versuch zu fliehen“ von Kriminellen abgeschlachtet worden waren, vermerkte man offiziell mit der Todesursache „Herzinsuffizienz“. Viele wurden damals von Skorbut und einer seiner Abarten, der Pellagra, niedergemäht. Die „Freien“ versuchten sich vor diesen Erkrankungen durch gute Ernährung zu hüten, aber für die Gefangenen war ein anderes Mittel vorgesehen. An einer halb verfallenen Baracke eines der Lager sahen wir über dem zur Seite geneigten Türpfosten eine Tafel mit der Aufschrift „Nadelkocherei“. Solche Räumlichkeiten gab es auf jeden Fall in allen Lager-Städtchen; hier wurden in großen Kesseln kleingehackte Tannenzweige gekocht. Der entstandene Sud, die sogenannte „Chwoika“ – galt als nützlich zur Abwehr von Pellagra und Skorbut; deswegen war es Pflicht, die Gefangenen regelmäßig mit diesem bitteren „Trank“ zu bewirten.

… Am 16. Tag unserer Reise gelangten wir bis an den Fluss Bolschaja Bludnaja. Hier endet urplötzlich der Bahndamm des östlichen Trassenstücks. Hinter dem Fluss-Tal – das „Zarenreich“ der Tundra: endlose Seen mit eingeschnittenen Ufern, Nebenarmen, Sümpfen, kleinen Wald-Inseln. Einziger Orientierungspunkt in diesem Gewirr – der halb verfaulte Pfosten für die „Telefonleitung“. Sagen wir es einmal ganz direkt. Die Reisebedingungen waren ganz offenkundig für Fahrrad-Touristen nicht geeignet. Allerdings hatten wir Glück: im Augenblick der größten Verzweiflung, als wir an die Grenzen der völligen, „allgegenwärtigen“ Unwegsamkeit stießen, begegneten wir plötzlich Leuten aus dem Moskauer „Memorial“, die sich als erster Expeditionszug erwiesen, der bis zum östlichen Teil der „Todes“-Strecke vorgedrungen war. Einige Stunden später setzte der Hubschrauber unserer neuen Bekannten uns im West-Abschnitt der ehemaligen Magistrale ab.


Im verwilderten Depot Tas

Von Nowyj Urengoi begannen die Gleise der intergewerblichen Eisenbahnlinie des Ministeriums für Erdöl- und Erdgas-Industrie. Ungefähr 15 Jahre zuvor gebaut, arbeitet sie heute nicht so angestrengt, wie zu Beginn ihrer Existenz: Auf der „Eisernen“ kriechen täglich nur 2-3 Züge.

Nachdem wir versucht hatten auf unseren Fahrrädern über die schwammige Sand-Trasse voranzukommen, die durch die Reifen von „Ural“-Motorrädern und Fahrzeugen der Marke „KrAS“ mit Spurrillen durchfurcht war, bogen wir entschlossen zum Eisenbahndamm ab und packten die Futterale mit den Einzelteilen für die Fahrrad-Draisine aus. D er Zusammenbau und die endgültige Justierung beanspruchten fast einen halben Tag. Schließlich setzten wir uns in Bewegung. Obwohl wir in Moskau unsere für Bahnschienen geeigneten Vorrichtungen auch schon ausprobiert hatten, war das Vorankommen mit dieser Methode trotzdem recht ungewohnt. Die Fahrrad-Reifen rollten über die Gleise und rutschten, wie es schien, ab und zu von dem schmalen Stahlband ab. Und bis zum Boden war es ziemlich weit, selbst mit der ausgestreckten Fußspitze konnte man nicht heranreichen. Allmählich kommt Routine in die Angelegenheit. Wir gewöhnen uns an das Aufsteigen auf den Sattel, stützen uns auf den Pedalen ab, wie auf einem Trittbrett (von der Seite sieht es stark danach aus, als ob man sich auf ein Pferd schwingt). Und die Gleise kommen uns auch schon nicht mehr so schmal vor. Ein gewisses Gefühl der Sicherheit kommt auf, das nach und nach unsere Fahrgeschwindigkeit festlegt: zwölf Kilometer pro Stunde, fünfzehn, zwanzig! Man kann sogar die Hände vom Lenker nehmen –schließlich ist er ganz starr fixiert; man kann sich während der Fahrt umdrehen und den hinter einem fahrenden Kameraden fotografieren; man kann … Aber – stopp! Wieder gibt es bei jemandem eine Störung, einen Defekt. Derartige Unterbrechungen geschahen ziemlich häufig. Aber trotzdem – über eine Strecke von 400 km konnten wir auf den Gleisen schneller fahren, als uns über den pulverigen Sand der Feldwege, Winterstraßen und schmalen Pfade durchzuschlagen.

In Staryj Nadym endete die in Betrieb befindliche Bahnlinie. Weiter, hinter der „Hauptstadt der Jamal-Erdölarbeiter“ Nadym, gab es erneut Anzeichen der im Stich gelassenen „Todes-Strecke“. Anfangs mussten wir uns über den sandigen Pfad voran bewegen, den Pilz sucher entlang den fadenähnlichen Gebilden verfaulter Bahnschwellen und verrosteter Schienen getreten hatten. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto gerieten die Reifen in den samtigen Sand, und eine zuverlässige Schienenstrecke, die nur wenig deformiert und für eine Fahrt mit der Fahrrad-Draisine geeignet gewesen wäre, fanden wir nicht.

Schließlich wurden auf den rostigen Schienen frische Spuren von Metallrädern sichtbar. Also waren wir an den Abschnitt gelangt, n den Teil der ehemaligen Bahnstrecke, auf der bis heute Fernmeldetechniker mit Motor-Draisinen fahren, welche die Telefonverbindungen zwischen Nadym und Salechard warten. Und wieder sitzen wir hoch über dem Boden in unseren Sätteln, erneut verbreitet sich das surrende Geräusch der über die Schienen rollenden Rädchen in der Gegend. Ob wir die Tacho-Anzeige wohl wieder auf „20“ richten können? Vergebliche Hoffnungen. Gleise existieren, aber hier die Geschwindigkeit erhöhen ist unmöglich.

Die Verbindungsstücke an den Gleisen haben sich an vielen Stellen um 10-20 Zentimeter verschoben. Hinzu kommt, dass die Erbauer an dieser Magistrale so genannte „alttaugliche“ Schienen verlegt haben /in der Nachkriegszeit konnte man keine anderen auftreiben). Was man da nicht alles für Fabrikmarken antraf: die Fabriken der Fürsten Weloselskij und Demidow, die Aktionärsgesellschaft „Stahl“, das Kusnezker Stalin-Kombinat… Die Schienen-Typen sowie deren Breite waren ganz unterschiedlich; deswegen bekam man jedes Mal, wenn man bei der nächsten Anschlussstelle nicht genau aufpasste, einen fühlbaren Stoß, verursacht durch das über das Kopfende des folgenden Gleisstücks rollende Rädchen und – das sich daran anschließende Bruchstück.

Etwa 30 Kilometer von Nadym entfernt, stießen wir entlang der Trasse erneut regelmäßig, alle 5-10 Kilometer auf unversehrt gebliebene Lagersiedlungen. Von den sich endlos aneinander reihenden Gebäuden sind besonders die Nummernkolonnen unweit des Flusses Libjacha in der Erinnerung geblieben. Wer wurde hier gefangen gehalten, welche „Volksfeinde“? Warum wurde hier ein derart strenges Bewachungsregime eingerichtet? Eine Antwort darauf fanden wir nicht, aber wir können bestätigen, dass eine größere Menge Stacheldraht als hier in keinem anderen Lager gesehen haben. Drei „Stachel“-Zäune umgürten die Lagerzone. Zudem ist an einem von ihnen, unten, derselbe Stacheldraht in Form einer Spirale verlegt – damit man nicht darüber hinaus treten konnte. Im gesamten Umriss der inneren Einzäunung wurde ein meterbreiter Streifen aus „Stacheln“ verlegt, in mehreren Reihen direkt am Boden gespannt – damit niemand direkt bis zur Einzäunung gelangen konnte. Und außerhalb sämtlicher Stacheldraht-Grenzen – ein vier Meter hoher Pfahlzaun aus dicht aneinander stehenden zugespitzten Stämmen.

Am Durchgangshäuschen ist eine Tafel mit strikter Anweisung unversehrt geblieben: „Stehenbleiben! Diensthabenden rufen!“ Und hinter den drei Toren erstreckt sich die Lagerzone für 800 Gefangene. Doch auch innen war sie durch Zäune mit spitzen Drahtstacheln unterteilt: durch Zäune abgetrennt sind auch einzelne Baracken und Wirtschaftsgebäude. Weit öffnen wir die eisenbeschlagene Tür eines der Gebäude. Drinnen stehen dicht zusammengestellte Pritschen in Zweierreihen. Die Länge des „Schlaf-Platzes“ – eineinhalb Meter (wie konnten größere Menschen sich darauf einrichten?). Insgesamt waren in dieser Hälfte der Baracke 50 Menschen untergebracht. Als Heizung diente - ein kleiner Ofen rechts neben der Tür. Und im Winter herrschten in diesen Gegenden Fröste um minus 50 Grad… Kein Wunder, dass die Haare der Schlafenden am Morgen an den Kissen festgefroren waren… Allerdings hätte man wahrlich auch unter noch viel schlimmeren Bedingungen untergebracht sein können.

In der entfernten Ecke der Lagerzone steht ein einzelnes Häuschen mit merkwürdigen hölzernen „Maulkorb“, welche die kleinen Fenster verdecken. Das ist der der sogenannte SCHISO - der Strafisolator. Ein winziger Hocker am Eingang, ein Flur, zu dem sechs gleichartige Türen hinausführen – dicke, außen mit Eisen beschlagene Bretter. Die Türen sind mit Sichtfensterchen, „Futterklappen“ sowie massiven Klinken und Riegeln versehen. Links – eine Gemeinschaftszelle, rechts – fünf Einzelzellen. Jede von ihnen 3 x 1,5 Meter groß, an der entferntesten Wand – ganz kurze Pritschen. Das unmittelbar unter der Raumdecke befindliche Fensterchen ist vergittert, und an der Innenseite ist ein hölzernes Ansatzstück, ein „Maulkorb“, vorgesetzt, damit zu dem Schuldigen nur ein wenig gestreutes Licht hereindringt und es nicht möglich ist, ihm von außen irgendein Zeichen zu geben, ihm einen Zettel oder ein Stückchen Brot zuzustecken… Glasscheiben sind in den Zellen des Strafisolators nicht vorgesehen, ein Ofen – der einzige für das gesamte Gebäude steht im allgemeinen Korridor. Bisweilen haben Häftlinge, die mitten im rauen Winter in diesen Strafisolator gerieten, die Wachen darum gebeten, die Gucklöcher zu öffnen, damit durch diese winzige Öffnung wenigstens ein klein wenig Wärme von entfernten Ofen in die Zelle hineindringen kann. Sofern ein mitleidiger Soldat zufällig Dienst hatte, dann kam er diesem Wunsch nach…

Von Zeit zu Zeit führte uns die verlassene Magistrale geradeswegs in die bis an den Horizont reichende Tundra“. Kleine Erdhügel, mit einem Dickicht aus Zwergbirken bedeckt, kloeien, wie Untertassen aussehenden Seen, Sümpfen… In den in der Tundra gelegenen Abschnitten verschlechterte sich der Bahndamm urplötzlich: er wird dort von den Sümpfen förmlich aufgesogen, die Winde wehen von Jahr zu Jahr mehr Sand von den Aufschüttungen fort. Die Gleisanlage wird durch all diese Einflüsse „betrunken“ – mal weicht die rechte Seite nach unten aus, mal die linke und mal sogar beide gleichzeitig. Damit das Fahrrad nicht umgeworfen wird und den Abhang hinunter rutscht, muss man die Methode der Motorrad-Rennfahrer mit Beiwagen anwenden: sich bei großen Neigungen aus dem Sattel zu heben und zur entgegengesetzten Seite zu lehnen, wobei wir natürlich nicht aufhören dürfen, weiter kräftig in die Pedale zu treten. An manchen Stellen allerdings halfen auch diese Spitzfindigkeiten nicht: die Schienen waren stellenweise um bis zu 20-30 Grad verzogen. Dann stießen wir die Draisinen vorwärts, wobei wir nebenher gingen und sie mit den Händen abstützten. Und trotzdem gab es Stürze. Wir purzelten mitsamt den Fahrrädern auf die verbogenen Schienen, verloren die Draisinen im Sumpf, weil wir sie auf den sich aufbäumenden Gleisen nicht mehr halten konnten…

Man könnte noch viel mehr über die schwierigen Besonderheiten der Marschroute erzählen, auf der es uns innerhalb der täglich 10-12 Stunden dauernden, anstrengenden Arbeit gelang, im Durchschnitt zwischen 12 und 13 Kilometer zu schaffen. Oder über die Pilze, die Rothäuptchen, die furchtlos mitten aus den halb verfaulten Schwellen herauswuchsen; oder über den Heidelbeerstrauch, der in seinem grau-grünen Dickicht die Gleisanlage vollständig verbirgt…

Und trotzdem, wenn wir uns an die Ereignisse unserer eineinhalb Monate dauernden Epopöe in die Erinnerung zurückrufen, gibt es kein Entrinnen vor dem traurig-melancholischen Leitmotiv, welches uns auf den verlassenen, verwilderten Taiga- und Tundra-Strecken begleitete. Denn nichts bedrückt die Seele mehr, als der Anblick der nutzlos verfaulenden Früchte eines gigantischen, qualvollen menschlichen Arbeit, einer wahren Heldentat, für die das Land einen so hohen Preis bezahlt hat. Mit jedem Monat verfällt die „Todes-„Strecke mehr, verschwindet nach und nach unter dem Druck der nördlichen Natur. Und das bedeutet, es wird immer schwieriger, sie zu durchdringen. Mögen diejenigen darüber nachdenken, durch deren Köpfe der aufwühlende Gedanke schießt und nur nicht zu versuchen, diese Marschroute auf der Trasse der einzigartigen Polar-Magistrale zu wiederholen, die eigentlich schon gestorben ist, bevor sie überhaupt geboren wurde.

Autor: A. Dobrowolskij, Teilnehmer der Fahrt

Quelle: Zeitschrift „Tourist“, N° 10, 1990

Gescannt und bearbeitet: Viktor Jewljuchin (Moskau)


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