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Die Opfer der stalinistischen Lager

Solschenizyn war der erste, der davon erzählte. Zuerst war es „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, dann „Der Archipel Gulag“. Auch mein Vater, ein ehemaliger „Volksfeind“, der sieben Jahre seines Lebens im Norillag verbracht hat, hat mir davon erzählt. Jetzt habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Wir flogen zu den Fischern am Wymskoje-See. Trostlose Tundra. Knorrige, verkümmerte Lärchen. Und überall - Seen, Seen, große Seen, kleine Seen. Dann sah ich es. Ein verlassenes, totes Dorf schwebte auf mich zu. Baracken, eingestürzte Häuser, verwaiste Öfen in den Ruinen. Das alles hatte etwas Unheimliches an sich. Dann tauchte wie eine Fata Morgana eine weitere Siedlung derselben Art auf. Und noch eine. Es schien, als würden wir über eine riesige leblose Stadt fliegen, die aus Baracken, Ruinen und verwaisten Kochstellen bestand. Und neben dieser Stadt erstreckte sich dieselbe leblose Straße mit eingestürzten Brücken, auf den Gleisen festsitzenden Dampflokomotiven und einsamen Buden. Und es war alles tot...
— Jermakowo! — schrie mir der Kommandeur ins Ohr. — Weiter oben sind die Gefangenenlager! Der Weg nach Salechard.

Mit Zeichen forderte ich ihn auf, weiter herunterzugehen. Er nickte zustimmend, und der Hubschrauber drehte in steiler Schräglage auf der linken Seite um und begann zu sinken. Wir flogen erneut über die toten Lager, jetzt im Tiefflug über den Boden. Jetzt verstehe ich: Wer einen solchen Anblick zum ersten Mal sieht, ist fassungslos, erschüttert bis ins Mark; es bedrückt die Seele. Und eine unerklärliche Vorahnung, dass etwas Vorausliegendes passieren muss, ergriff mich.

— Am Wymsker See gibt es auch so ein Lager. Wir können es uns ansehen.
In etwa zehn Minuten waren wir am See. Die Lager-Zone begann direkt am Hubschrauberlandeplatz, und am Ufer befand sich ein verfallener Wachturm. Wir mussten vorsichtig dorthin gehen, sonst hätten wir uns in den Windungen des rostigen Stacheldrahts verheddert - man konnte ihn im dichten Schilf und Gebüsch nicht sehen. Eine halb verrottete Leiter aus dicken Stangen. Die Sprossen sind an einigen Stellen gebrochen, und aus den Kerben rieselt Mulch. Ich frage mich, was der Wachmann von dort oben gesehen hat. Ich wollte hochklettern, aber die Leiter klapperte und knarrte. Und wenn sie zusammenbricht und ich auf die Trümmer falle, werde ich das letzte Opfer von Stalins Regime sein - das riskiere ich lieber nicht.

Die Lagerzone ist nicht groß, quadratisch, von einem eckigen Wachturm bis zum nächsten — 500 Meter, innen — Baracken, eine Kantine, der Strafisolator. Hier hausten elendig bis zu 1500 Gefangene. Während des Winters starben die meisten von ihnen an Erschöpfung, Skorbut, Ruhr, Gelbsucht, Nachtblindheit — alle möglichen Krankheiten befielen die Häftlinge. Und im Frühjahr, wenn die Schifffahrt wieder aufgenommen wurde, dann trafen über den Jenissei schon neue Häftlingslieferungen ein. Der ehemalige Gefangene dieser Lagerzone (er lebt heute in Tschernogorsk), Konstantin Konstantinowitsch Chodsewitsch, erinnert sich:
— Im August 1947 wurde ich in einer Gerichts-Farce unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt. Ich wurde der Agitation gegen die Kolchose angeklagt, zu 10 Jahren und dem Verlust meiner Rechte für 5 Jahre verurteilt, und nach Verbüßung meiner Strafe erhielt ich eine Liste von Städten und Regionen, in denen ich für weitere 5 Jahre kein Aufenthaltsrecht hatte. Dann wurde ich auf eine stalinistische Baustelle gebracht - um die Eisenbahn nach Salechard zu bauen.

Zehntausende Polithäftlinge wurden dorthin verbracht. Es herrschten Willkür und Grausamkeit. Ein Mensch ist schwer erkrankt, er ist nicht arbeitsfähig — ab mit ihm in die BUR (Baracke mit verschärftem Regime), dort kam dann kaum jemand lebend heraus. Oder man stieß einen Kranken von der Pritsche, Band ihn mit den Beinen an ein Pferd und schleppten ihn so zur Arbeit, denn „Arbeit ist in der UdSSR — eine Frage der Ehre, der Tapferkeit und des Heldenmutes“. Und im Sommer vergaßen sie dann irgendwie Lebensmittel zu liefern Im Winter begann der Hunger, die Häftlinge verstarben direkt in den Baracken. Die Leichen wurden in zuvor ausgehobenen Gräben verscharrt oder im Schnee vergraben — woanders konnte man sie nicht beerdigen. Nur wenige von uns schafften es bis zum Sommer, und dort wurden dann auf dem Wasserwege Lebensmittel und neue Gefangene herbeigebracht...

Das Bauprojekt, das «auf Eigeninitiative des Genossen Stalin» initiiert wurde, entfaltete sich rasch.

Es gab den Plan, eine transkontinentale Eisenbahnlinie durch den Norden des Landes bis nach Sachalin zu bauen. Ein Tunnel unter der Meerenge war bereits im Bau. Die Menschen wurden nicht verschont, billige Arbeitskräfte gab es in Hülle und Fülle. Allein auf diesem Streckenabschnitt arbeiteten etwa 40 000 Häftlinge, die nach dem berühmten Artikel 58 verurteilt worden waren. Und in angespannten Zeiten erreichte ihre Zahl hunderttausend.

Unter ihnen waren viele „Grüne“ - ehemalige Kriegsgefangene von Soldaten und Offizieren der Sowjetarmee, die wegen „Verrat und Spionage“ verurteilt worden waren. Die Straße wurde auf den Knochen der Verurteilten gebaut. Unter jeder Schwelle lagen buchstäblich 5 Menschen, denn sie wurden direkt unter der Böschung begraben, um keine Zeit mit dem Ausheben von Gräbern zu verschwenden. Tag und Nacht wimmelte es auf der Straße von farblosen Menschen in grauen Mänteln.

Um die Arbeit anzukurbeln, wurde ein Kreditsystem eingeführt: Wer die Norm zu mehr als 125 Prozent erfüllte, bekam zwei Tage gutgeschrieben, wer eineinhalb Aufgaben erfüllte, bekam drei Tage gutgeschrieben. Mein Vater hatte etwa 400 solcher Gutschriften, und er wurde ein Jahr früher entlassen.
DIPLOM DES ZENTRALSTABS FÜR ARBEITSWETTBEWERB
NORILLAG des MWD der UDSSR

Verliehen an G.D. Leontjew, einen Gleisarbeiter, der die höchsten Ergebnisse in seiner Produktionsarbeit erzielt, den Mai-Plan zu 200% erfüllt, sowie das Lagerregime und die Arbeitsdisziplin eingehalten hat. Auf Beschluss der Zentralen Leitung des Arbeitswettbewerbs wurde ihm der Titel „Bester Gleisarbeiter des NORILLAG“ verliehen. Protokoll ¹ 50 vom 17. Juni 1946.
Es gab einen weiteren Anreiz, der immer funktionierte. Die Norm für Gleisbauarbeiter war ein Kilometer pro Schicht. Das war zu wenig. Sie waren in Eile. Um das Arbeitstempo zu beschleunigen, fanden die Vorgesetzten einen Ausweg: 1200 oder 1300 Meter wurden entlang des Dammes gezählt, und am Ende dieses Abschnitts wurde ein Tisch mit Trostpflastern - Brot, Konserven, Fisch, Alkohol, Machorka - aufgestellt. Den Gefangenen wurde gesagt: Wenn ihr den Stapel hierherbringt, gehört er euch! Und die hungrigen, halbtoten Unglücklichen stürzten sich mit letzter Kraft auf den begehrten Tisch. Einer konnte einem solchen Wettlauf nicht standhalten, fiel hin, und die Böschung wurde sein Grab.

Infolge dieses rasanten Tempos fuhren die Züge bereits nach fünf Jahren auf mehr als 700 Kilometern der Großen Nördlichen Magistrale. Und hier - ein trauriger für das Land und für die Gefangenen jubelnder März 1953. Der Führer war tot, und sein Geistesprodukt erwies sich für niemanden als nützlich. Es gab nichts und niemanden, den man auf der transkontinentalen Straße des Nordens transportieren konnte. Mitte März wurde der Bau eingestellt. Die Häftlinge wurden auf andere „Schock“-Baustellen transportiert. Die Lager entlang der Autobahn wurden entvölkert, aber alles blieb, wie es war: Baracken, Wachhäuser, Badehäuser, Kantinen und Klubs. Das Innenministerium ordnete an, all dies stillzulegen - man wusste nicht, was passieren würde, und die Lager könnten immer noch nützlich sein....

ICH GEHE DURCH DIE LAGERZONE. Stille. Es ist menschenleer. Einsam und verlassen stehen die Baracken da, bei einigen sind die Dächer eingestürzt, aber die Wände sind noch standhaft. Ich betrat eine von ihnen. Klein war sie, ein enger Vorraum, und daran anschließend gleich die Tür zum Wohnraum. In der Mitte ein Ofen, zusammengebaut aus gediegenen Ziegelsteinen, — er könnte sofort wieder in Betrieb genommen werden. Zu beiden Seiten des Ofens — zweistöckige Pritschen, unter der Decke — aus Brettern zusammengenagelte Kästen. Dort verstauten die Häftlinge wohl ihren kümmerlichen Besitz. Die Wände sind mit schrillen Mustern verziert — die Menschen hinter Stacheldraht waren bemüht, sich ihr Leben in irgendeiner Weise zu verschönern. Aber es fällt schwer, sich das anzuschauen. Ich schritt durch die Baracke, schaute in alle Ecken, hoffte wenigstens irgendetwas zu finden, das mir vom Leben der Bewohner berichten könnte. Ich stieß auf eine graue Aluminium-Schüssel. Welche Hände sie wohl alle gehalten hatten, was für eine Wasserbrühe wohl in ihr geschwommen hatte! Und da noch ein anderer Fund — ein selbstgefertigtes Domino-Spiel. Òîíêèå äåðåâÿííûå Dünne hölzerne Täfelchen, darauf akkurat eingebrannte Glasstückchen. Ich sammelte sie alle ein und steckte sie in meine Jackentasche. Ich schaute mich noch einmal genauer um. Und sah eine Streichholzschachtel aus dem Spalt zwischen der Fußleiste und dem Boden ragen. Ich öffnete sie - sie enthielt ein Dutzend Streichhölzer, trockene Kippen und einen dicken vergilbten Zigarettenstummel. Man kann nur raten, aus welchen Jahren die Zeitung stammt - Malenkov, Kaganow ... Alles andere ist ausgeräuchert worden.
Neben dieser Baracke steht ein gedrungener Blockbau ohne Fenster. Drinnen ist es dunkel. Ich zünde ein Streichholz an - schwarze, unverputzte Wände, zwei Heizkessel in einem breiten Herd, ein hohes, gestuftes Regal - das war also einmal ein Lager-Badehaus.

Anschließend betrat ich noch andere Baracken – das Clubhaus, die Kantine, das Haus für die Wachen — manches war unversehrt geblieben, anderes mit der Zeit verfallen. In so einem Lager hatte auch mein Vater seine Strafe abgesessen — ein nicht lese- und rechtschreibkundiger Mann vom Lande, der keinen einzigen Tag die Schule besucht hatte, aber in Abwesenheit von einer «Troika» des NKWD zu acht Jahren nach § 58 (konterrevolutionäre Tätigkeit) verurteilt worden war. Der Vorwurf war völlig verrückt und lächerlich, ja ungeheuerlich: Kontakte zu deutschen und japanischen Geheimdiensten, Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes.

— Und du hast die Anschuldigungen unterschrieben?

— Du unterschreibst, wenn sie dir die Eingeweide aus dem Laib prügeln.

Der Vater sprach nicht gern über dieses Thema, und erst recht nicht mochte er sich an all das, was er durchgemacht hatte, erinnern. Als er nach dem Ende der Haftzeit nach Krasnojarsk zurückgekehrt war, wurde er aufgefordert, die Stadt innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen. So geriet unsere Familie nach Beresowka. Vater nahm eine Tätigkeit in der Fabrik als Drechsler auf und begab sich als Überwachter einmal pro Woche zur örtlichen NKWD-Abteilung, um sich dort zu melden, und um dabei gleichzeitig zu den Verwandten in die Stadt fahren zu dürfen, musste er vorher um eine Sondergenehmigung ersuchen. Damals arbeiteten viele Repressionsopfer in der Fabrik, und wer auch nur ein wenig Macht über sie hatte, konnte sie ungestraft gängeln, indem er sie abschätzig als „Querulanten“ bezeichnete. Sie wurden aller Rechte beraubt und ertrugen klaglos Spott und Demütigungen - diese Geduld hatten sie in Stalins Lagern gelernt. Ich erinnere mich, dass mein Vater, als ich schon in der 7. oder 8. Klasse war, ein schwieriges Gespräch mit mir führte, in dem es darum ging, den Nachnamen meines Vaters in den meiner Mutter zu ändern, bevor ich meinen Pass bekam. Er hatte Angst, dass ich als Sohn eines „Volksfeindes“ in meinem Leben auf alle möglichen Hindernisse stoßen würde. Ich konnte zum Beispiel nicht an einer technischen Universität studieren, sondern nur an einer Universität für Geisteswissenschaften. Selbst als Arbeiter im "Krasmasch"-Werk wäre ich nicht angenommen worden. Gott sei Dank ist der „weise Führer und Vater aller Völker“ noch rechtzeitig gestorben.

VOLKSFEINDE, Oper von Gefängnissen und Lagern. Von ihnen gibt es, ebenso wie von den Kriegsteilnehmern, nur noch sehr wenige. So leben im Beresowsker Bezirk heute nur noch neun Menschen. Wenn du ihrer Berichte hörst, stehen dir die Haare zu Berge. Ilja Fjodorowitsch Taratin, ein Dorflehrer, bekam das volle Maß des Gefängnisleidens am eigenen Leib zu spüren. Hier ist seine Geschichte:

— Im Sommer 1937 schloss ich mein Studium am Krasnojarsker Lehrerinstitut als externer Student ab. Die Abschlussfeier stand vor der Tür, wir sollten unsere Diplome erhalten. Doch stattdessen wurde ich verhaftet. Die Zelle des Kansker Gefängnisses war so vollgestopft, dass man sich nirgends auf den Boden setzen konnte, nichts zum Atmen hatte. Ich fühlte mich nicht schuldig und betrachtete alles, was geschehen war, als ein Missverständnis, einen Fehler. Doch dann begannen die Verhöre, die aus irgendeinem Grund immer nachts durchgeführt wurden. Der Ermittler fragte mich, in welcher konterrevolutionären Organisation ich Mitglied gewesen sei und seit wann? Ich antwortete, dass ich nie Mitglied einer Organisation gewesen sei. „Wer hat Sie dort rekrutiert, wann war der konterrevolutionäre Auftritt geplant?“. ch habe ihm noch einmal gesagt, dass mich niemand irgendwo angeworben hat, ich wüsste nichts. Ich sehe, dass er etwas Eigenes schreibt, aber er hört nicht einmal auf meine Antworten. Dann reichte er mir ein Papier: Unterschreiben Sie das Protokoll. Ich lese es und kann es nicht fassen. Als ob ich seit 1936 Mitglied der Krasnojarsker konterrevolutionären Organisation gewesen wäre, den Aufstand aktiv vorbereitet hätte, Verbindungen zu Bucharin und Rykow.... gehabt hätte.

Ich weigere mich, ein solches Protokoll zu unterschreiben. Er drückt stillschweigend einen Knopf auf dem Tisch, ein Angestellter betritt das Büro, schlägt mir mit einem Knüppel auf den Kopf und schreit: „Du kommst hier sowieso nicht lebend raus! Ich werde dich wie einen Hund erschießen! Unterschreiben Sie!“ Ich versuche immer noch zu sagen, dass ich unschuldig bin, und verlange den Staatsanwalt. „Wenn du das Protokoll nicht unterschreibst, werden deine Frau und deine Verwandten morgen verhaftet“. Ich weigere mich erneut. Und dann begannen die raffinierten Schläge. Ich wurde aus dem Büro des Ermittlers in meine Zelle gezerrt. So folterten sie mich vierundzwanzig Stunden lang ohne Pause. Und sie zwangen mich, zu unterschreiben, und gaben mir zehn Jahre Lagerhaft.

Ilja Fjodorwitsch berichtet weiter:

— In der Zelle neben mir saß ein alter Arzt auf dem Boden. Er war erst gestern verhaftet worden. Er sagte: „Der Chef des NKWD hat mich telefonisch in seine Wohnung gerufen. Seine Frau ist krank. Ich war schon einmal dort gewesen, wir sind an Feiertagen zusammen spazieren gegangen, wir waren Freunde, gute Kumpel. Aber hier wollte er nicht mit mir reden, sondern fragte mich nur, was mit seiner Frau los sei. Ich erklärte es ihm, verabschiedete mich und ging.

Am Abend ließ er mich erneut holen, aber diesmal in sein Büro. Ich war überrascht, ich kam herein und fragte ihn: „Sind Sie auch krank? Er überreichte mir schweigend meinen Haftbefehl. Sofort kam ein Konvoi, und ich wurde ins Gefängnis gebracht. Am nächsten Tag holte er mich selbst zum Verhör und sagte: „Wir wissen, dass Sie systematisch Menschen vergiftet haben, die zur Behandlung ins Krankenhaus kamen. Wie und womit haben Sie sie vergiftet? Wie viele Menschen haben Sie umgebracht?“

Ich schaue ihn an und begreife nichts. Dann verlangte er, dass ich all meine Freunde namentlich nennen sollte. Ich zählte sie auf und nannte auch ihn. Da schlug er mit der Faust auf den Tisch, fing an zu schreien, dass ich seinen Namen für immer vergessen solle, sonst könnte ich etwas erleben. Dann fragte er: Von wem hast du die Aufträge erhalten? Ich sagte: Ich habe keine Aufträge erhalten, ich habe nur Patienten behandelt, das wissen Sie sehr gut. Er hat nicht zugehört und alles aufgeschrieben. Dann gab er mir ein Protokoll zur Unterschrift“. Der Arzt weigerte sich kategorisch zu unterschreiben, aber ein paar Tage später, gebrochen durch die Folter, unterschrieb er ....

UND ERST IM LAGER für politische Häftlinge am Wymsker See begriff ich endlich, mit welch teuflischem Kalkül ein monströser Mechanismus der physischen Vernichtung von Menschen entwickelt wurde. Es begann schon in dem Moment, als der „schwarze Rabe“ einen Menschen nachts ins Gefängnis brachte. Dort schlugen die Ermittler kaltblütig alles Menschliche aus dem Menschen heraus, brachen seinen Willen, hämmerten ihm methodisch das Verhängnis und die Vergeblichkeit weiteren Beharrens in den Kopf - „wir foltern dich trotzdem, du wirst sowieso gestehen, niemand hat es je geschafft, den ‚Igelfäusten‘ zu entkommen. Und sie zerbrachen, und der Mann unterschrieb sein eigenes Urteil - ein Volksfeind. Und ohne Namen, unter einer Sträflingsnummer, also gesichtslos, wurde er in ein stalinistisches Lager geschickt, um auf der Baustelle des Volkes zu arbeiten. Und es war sein großes Glück, wenn er es schaffte zu überleben, nach Hause zurückzukehren und zu leben, um rehabilitiert zu werden.

Mein Vater wurde 1956 rehabilitiert. Er wurde nach Krasnojarsk zum NKWD vorgeladen, und dort sagte ein Offizier dieser gewaltigen Institution zu meinem Vater: Vergiss, dass du inhaftiert warst, es ist nichts passiert. Ungefähr die gleichen Worte wurden ihm in Norilsk gesagt, als er 1949 entlassen wurde: Vergiss, dass du hier warst, erzähle niemandem, was du gesehen hast, wie du gearbeitet hast, wie du gelebt hast, sonst.... Und sie ließen ihn ein Papier über seine Verantwortung bezüglich der Weitergabe von Staatsgeheimnissen unterschreiben. Deshalb hat mein Vater all diese langen Jahre geschwiegen. Kürzlich gestand er mir, dass er oft den gleichen Albtraum hat: als ob jemand irgendwo mitbekommen hätte, dass er statt 8 Jahren vorzeitig für ein Jahr entlassen wurde und 7 Jahre verbüßt hat, und der „schwarze Rabe“ kam ihn wieder holen.... Gott sei Dank war es nur ein Traum, wenn auch ein schrecklicher. Und vor einem Monat wurde ihm eine Bescheinigung ausgehändigt, in der es heißt, dass der rehabilitierte Georgij Denissowitsch Leontjew den Teilnehmern des Großen Vaterländischen Krieges gleichgestellt ist und als Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges Anspruch auf alle Vergünstigungen hat. Mit zweiundachtzig Jahren freut er sich darüber wie ein Kind. Und jetzt, nachdem ich das Lager für politische Gefangene am Wymsker See besucht habe, verstehe ich diese Freude.

Vor dem Abflug bat ich den Kommandanten, eine Abschiedsrunde über dem Lager zu fliegen. Wir flogen über den Wachturm, der Hubschrauber überflog den Platz über der Lager-Zone und nahm dann Kurs auf Igarka. Unten, wie eine Fata Morgana, erstreckte sich eine leblose Stadt aus Baracken, Ruinen und verlassenen Öfen - ein Todeslager. Eines Tages werden die Menschen mehr über diese Lager wissen als wir heute, denn die Vergangenheit kann nicht alle ihre Spuren beseitigen, und aus ihnen werden die Menschen die Wahrheit rekonstruieren.

W. LEONTJEW, Sonderkorrespondent der «Krasnojarsker Gewerkschaften».
„Krasnojarsker Gewerkschaften“, 02.11.1990


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