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Lang ist der Weg zur Wahrheit

Im Jahre 1941 wurden die sowjetischen Wolga-Deutschen Repressionen ausgesetzt und aus ihrem Lebensraum vertrieben. Viele von ihnen wurden im Kuraginsker Bezirk angesiedelt. Einige Dutzend Deutsche sind noch am Leben, und sie können darüber berichten, welche Mühen sie im Namen des Sieges auf sich nahmen. Auf dem ersten Bauernhof, unweit des Dorfes Marinina, leben zwei Schwestern – Anna und Rosa, mit Mädchennamen Mosmann. In ihrer Familie gab es acht Kinder: fünf Brüder und drei Schwestern. Im Krieg arbeiteten alle in der Trudarmee, aber nicht alle kehrten von dort zurück. Drei Brüder starben noch in ihrer Jugend, sie gingen vor Hunger und durch die alle Kräfte übersteigende Schwerstarbeit in den Lagern zugrunde. Die Aufrufe zum Bereithalten für den Abtransport in die Trudarmee gestalteten sich kurz und schrecklich. An den neuen Wohnorten wurden sie verstreut angesiedelt und an irgendeinem Arbeitsplatz untergebracht. Noch war der Schock über den Ausbruch des Krieges und die die Umsiedlung aus dem Wolgagebiet nicht gewichen, als sie sich auch schon für die Abfahrt zur Trudarmee fertigmachen mußten. Wie entsetzlich hilflos sie waren! Denn keiner von ihnen konnte ordentlich Russisch sprechen. Sie holten sowohl kräftige, gesunde Frauen, als auch ältere Männer und Kinder mit ihren Müttern. Die Kinder fingen an zu schreien und rannten hinter den Fahrzeugen her. Die elternlosen Kinder wurden von Verwandten aufgenommen, aber viele brachte man auch in Waisenhäusern unter.

Anna und Rosa hatten wenigstens in diesem Punkt Glück. Sie hatten noch keine Kinder. Allerdings war Rosa mit Jegor Petrowitsch Koller verheiratet. Aber ihn schickte man in ein anderes Lager. Nach zwei Jahren erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann im Lager verhungert war. Ein Zeuge teilte ihr ebenfalls mit, dass er völlig unterernährt gewesen war und jene, die noch arbeitsfähig waren, ihn nach seinem Tode ausgezogen und die Kleidung weggenommen hätten. Und dies erzählt Rosa Lawrentjewna:

- In Kuragino verfrachteten sie uns auf Lastkähne. Sie verhielten sich uns gegenüber äußerst grausam. Ich fand einen freien Platz und stellte meinen Schultersack darauf ab. Man jagte mich von diesem Platz fort, denn er gefiel einer anderen Frau – einer Bekannten des Mannes, der uns nach Krasnojarsk gebracht hatte.

Wir warteten acht Tage lang. Dann fuhren wir mit dem Dampfer den weiten Weg nach Norden, bis nach Ust-Port. Und dort begann das Barackenleben und die unbeschreibliche Schwerstarbeit. Wir mußten aus dem zugefrorenen Fluß Holzbalken herausgreifen, sie aus dem Wasser ziehen und am Ufer zurechtlegen. Um uns herum befanden sich ebensolche unglücklichen Trudarmisten: Russen, Letten, Finnen. Zerlumpt und hungrig. Was sind denn schon 150-200 Gramm Brot bei einer solchen Schwerstarbeit? Nur einmal pro Jahr erhielt Rosa einen Brief von der Mutter. Mit den Briefen spielten die Kinder Briefträger. Wer lesen konnte, nahm sich seinen Brief weg, wer es nicht konnte, der mußte eben ohne Nachricht von seinen Verwandten auskommen. Später wurden wir nach Chatanga überführt. Dort wurde Rosa durch den Willen des Schicksals zur Fischerin gemacht; ihre Frauenbrigade mußte Fische fangen. Das Leben wurde ein wenig leichter, denn zu der allgemeinen Ration kam nun noch Fisch hinzu. Allerdings man mußte ihn stehlen.

Jetzt wohnt Rosa Lawrentjewna genau an der Stelle, von der aus, wenn man aus dem Fenster schaut, der Bauernhof zu sehen ist.

Und auf einem Stapel, der noch etwas höher war als die Farm selbst, lagen die Verstorbenen den ganzen Winter über. Erst im Frühjahr, als eine Kommission eintraf, wurden die Leichen in einem Massengrab bestattet und mit einem Bulldozer zugeschüttet. Unter seinem Gewicht rissen Arme, Beine und Köpfe ab – und all das vermischte sich mit Schnee und Erde. Der Anblick war schwer zu ertragen. Es kam häufig vor, dass man in der Baracke neben Toten schlafen mußte. Und es war dermaßen kalt, dass die Bettdecke am Morgen regelrecht mit Schnee zugewachsen war, weil das Barackendach so viele Löcher hatte. Kleidung bekamen sie nicht.

- Hier, du Schönheit, nimm die Schnürschuhe, - mit diesen Worten reichte der Brigadier, ein Tatare namens Scharypow, Rosa ein Paar riesige amerikanische Halbstiefel. Er gab nur an diejenigen Kleidung aus, die bereit waren, mit ihm die Nacht zu teilen. Es fanden sich aber keine, die das wollten. Die Frauen nähten und strickten, verdienten sich bei Ortsansässigen ein wenig hinzu, um irgendwie zu überleben.

Der Krieg ging zuende, aber es vergingen noch viele Jahre, bis man Rosa Lawrentjewna endlich nach Hause entließ. In Chatanga heiratete sie einen, der ebenfalls in der Trudarmee gewesen war. Sie selbst hatte 14 Jahre in der Arbeitsarmee verbracht, aber die Aufzeichnungen über ihre Arbeitsnachweise im Arbeitsbuch begannen nicht mit dem Jahr 1942, sondern erst ab dem Jahr 1949. Die rauhen Fischerstiefel, welche die Beine bis aufs Blut wundreiben, quälen sie auch jetzt noch, und die wunderbaren grauen Augen füllen sich auch heute noch mit Tränen. Sie erinnert sich auch noch an den Leiter des Industrie-Depots Schdanow, dem die Fischerinnen leidtaten, und wenn er kam, dann aß er immer mit ihnen zusammen Fischsuppe, hörte sich ihre Sorgen und Nöte an und half ihnen, wo er nur konnte. „Ich bin ein Mensch, und ich will leben, aber ihr seid auch Menschen, die leben müssen“, - sagte er oft. Rosa Lawrentjewna wundert sich darüber, dass sie überlebt und das Rentenalter erreicht hat, obwohl sie durch eine solche Hölle gegangen ist. Sie erhält eine Rente in Höhe von 90 Rubel. Dafür ist sie dankbar. Und es scheint ihr auch genug zu sein.

... Anna Lawrentjewna sägte während und nach dem Krieg in Baschkirien Holz. Der Schnee ging ihr bis zum Hals. Du schaufelst den Schnee neben dem Bau weg, und dann zersägst du das Holz zusammen mit den Arbeitskolleginnen“, - erzählt sie. Häufig kamen Frauen unter den umstürzenden Bäumen ums Leben. Sie erhielten Kleidung, die aus wattierten Hosen und Strickjacken bestand, aber in der Regel wurde sie dann gegen Essen eingetauscht. Sie trugen Fußlappen, die ein alter Mann für sie flocht. In der Trudarmee verlor Anna Lawrentjewna ein Auge; sie hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, einem umstürzenden Baum auszuweichen. Jeden Tag stellte sie 5 Kubikmeter Baumholz bereit. Wenn du die Norm nicht erfüllst, bekommst du keine Essensration. Einmal, in einem heftigen Schneesturm, gingen sie nicht zur Arbeit, und so jagte der Vorarbeiter sie in der Nacht heraus, als der Sturm sich ein wenig gelegt hatte. Aufstellung in der Kantine, Aufstellung im Badehaus, Aufstellung zur Arbeit. Als die Nachricht vom Ende des Krieges kam, wandte sich Anna an den Alten, der die Fußlappen flocht: „Du mußt schneller flechten, Großvater, ich fahre nach Hause; ich will zeigen, was ich an den Füßen getragen habe“. Aber Vorbereitungen für die Abfahrt nach Hause fanden nicht statt. Sie mußte noch weitere 5 Jahre in Baschkirien Bäume fällen.

Nach dem Krieg heiratete sie, gebar vier Kinder und zog sie groß. 10 Jahre lang arbeitete sie in der Trudarmee, aber sie bekommt keine einzige Kopeke Rente. Aber eine Medaille hat sie erhalten – „Für heldenhafte Arbeit während des Großen Vaterländischen Krieges“. Nun träumt sie davon, dass sie vielleicht wenigstens 20 Rubel Rente bekommt, damit sie sich Brot und Zucker kaufen kann.

Bei den Schwestern kamen Kinder, die Enkel wachsen schon heran. Jeden Tag besuchen sie sich. Und sie haben auch schon eine Postkarte von einer weiteren Schwester aus Deutschland erhalten. Schön ist sie, die Karte aus Deutschland, und das Leben dort wohl auch.

- Wollen Sie nicht auch zu Ihren Verwandten fahren? – frage ich die Schwestern. – Die Jahre der Erniedrigungen sind doch vorbei, die Perestroika hat die Grenze für Besucherreisen geöffnet, und es ist sogar möglich, für immer dorthin auszureisen.

- Für mich gibt es jetzt nur eine Heimat – die Sowjetunion. Das ist meine Heimat, die Heimat meiner Mutter. Und ich habe keinen Augenblick daran gedacht, jemals an irgendeinen anderen Ort zu fahren. Aber ich verurteile auch nicht jene, die das tun. Heute geht es uns schlecht, und dort ist es gut, aber vielleicht ist es ja auch andersherum. Es ist ja nicht immer alles schlecht, auch bei uns wird es mal besser sein, - antwortete Rosa Lawrentjewna mit fester Stimme.

- Und wohin soll man fahren, wenn die Kinder in einer Mischehe leben? Russische Schwiegertöchter, der Schwiegersohn ein Tatar. Und auch für unsere Kinder ist hier die Heimat. Es geht doch nicht darum, wie hier oder dort die Wurst schmeckt, - meinte Anna Lawrentjewna.

Ich staunte auch über den Patriotismus dieser Frau, die, gemeinsammit dem ganzen Land, so viele schwere Jahre durchgemacht hat. Und den Weg ihres langsam erlöschenden Lebens sieht sie auch weiterhin in der Sowjetunion. In ihrem Herzen ist es wärmer geworden, fortgewischt sind die Zweifel, die auch bei all den anderen in diesen freudlosen Tagen aufkommen. Denn mit ihren Mündern haben sie eine Weisheit fürs Leben ausgesagt. Und in diesen Minuten erinnerte ich mich an einen Bekannten, der nach Neuseeland oder Amerika auswandern wollte.

- Und wer wird Rußland bei schlechtem Wetter lieben? – fragte ich ihn, als er sein Flugticket holte.

- Das wirst du tun, - antwortete er.

Jetzt weiß ich, dass mir dabei diese alten deutschen Frauen helfen werden, die ich beim Abschied kräftig umarmte.

O. Nikanorowa
„Lenins Vermächtnis“, 1990, Nr. 149
„Der Frühling stirbt nicht“. Nach Materialien der Bezirkszeitung „Tubinsker Nachrichten“.
Abakan, 2005


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