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Womit die Heimat beginnt

Großes Interesse rufen in der Bevölkerung unseres Bezirks die Bilanzen der Arbeit des Kongresses der Sowjetdeutschen in Moskau hervor. Die Leute rufen in der Redaktion an und fragen: «Machen Sie ein Interview mit unserem Delegierten und Direktir der Krasnensker SowchoseG.G. Schmidt. Er soll berichten, wie weit man auf dem Kongress übereingekommen ist». Bislang ist eine Begegnung mit G.G. Schmidt nicht zustande gekommen. Daher schlagen wir unseren Lesern den aktuellen Dialog vor, der in einer der Ausgaben der Regionalzeitung «Krasnojarsker Arbeiter» veröffentlicht wurde.

Die Sowjetdeutschen. Ihr Schicksal. Dazu — ein Gespräch unseres Korrespondenten mit W.G. Fuchs, dem Vorsitzenden der regionalen Gesellschaft der Sowjetdeutschen «Wiedergeburt».

—Leidgeprüft, tragisch, außergewöhnlich... Wie viele Beinamen man dem unlängst stattgefundenen Kongress der Sowjetdeutschen verleihen kann!

— Ja, natürlich, viele unserer Hoffnungen haben sich zerschlagen. Lange haben wir auf diesen Kongress gewartet. Der Beschluss ihn durchzuführen wurde am 24. November 1990 von der Regierung des Landes gefasst. Dreimal wurden Fristen genannt, dreimal wurde der Kongress verschoben. Es wurde eine weitere, vierte, Frist genannt — vom 12. bis 15. März dieses Jahres, aber in der Nacht zum 7. März erhielten wir einen Anruf aus Moskau, in dem man uns mitteilte, dass der Kongress erneut verschoben sei.

Aber da die Fahrkarten bereits gekauft waren und man sich Urlaub von der Arbeit genommen hatte, beschloss das Organisationskomitee mit dem Genossen Groth an der Spitze — dem Vorsitzenden der allrussischen Gesellschaft «Wiedergeburt»—den Kongress trotzdem stattfinden zu lassen. Natürlich konnte man sich nicht im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften zusammenfinden, wie es eigentlich vorgesehen war, aber es wurde ein Ort gefunden: der Saal des Kulturpalastes der Wladimir-Ilitsch-Fabrik.

Auch waren die Delegierten nicht, wie versprochen, im «Rossija» untergebracht, sondern in Hotels der Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft. Auch die Reisekosten mussten aus eigener Tasche bezahlt werden — obwohl die Regierung für die Vorbereitung und Durchführung 500 Tausend Rubel bereitgestellt hatte. Interessant, dass die Entscheidung über die Durchführung des Kongresses das höchste Machtorgan traf, und abgesagt wurde er ... Von Gott weiß wem: Der Ministerrat trat deswegen jedenfalls nicht zusammen.

— In der offiziellen Presse ist eine Mitteilung darüber durchgesickert, dass der Kongress zu einer Unzeit angesetzt war, nämlich am Vorabend des Referendums; daher empfahl die Regierung ihn zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden zu lassen.

— Das ist nicht der Grund. Am Vorabend des Kongresses wurde unter den Delegierten ein Fragebogen verteilt, in dem die Frage stand: worin sehen Sie die Zukunft der Sowjetdeutschen? Die Mehrheit der Delegierten gab die ehrliche Antwort, dass sie die Wiederherstellung der deutschen autonomen Republik an der Wolga im Auge hätten — und dieses Problem wurde nicht behoben.

Natürlich war es auch nach dem Kongress nicht behoben; deswegen wählten die Delegierten ein Interimskomitee der Wolgadeutschen ASSR — es soll die praktischen Vorarbeiten zur Schaffung der Autonomie leisten. Und für unsere Abschluss-Sitzung (der Kongress wurde als nicht beendet angesehen) planen wir eine Zusammenkunft am 28. August dieses Jahres. Sofern bis dahin immer noch keine Entscheidung über die Autonomie der Deutschen gefasst ist, beabsichtigt das Interimskomitee alle Sowjetdeutschen dazu aufzurufen, die UdSSR zu verlassen.

— Dieser Beschluss klingt sowohl wie eine Entscheidung der Regierung, als auch wie ein Aufruf zur Emigration der Sowjetdeutschen.

— Niemand zwingt irgendjemandem seinen Willen auf. Und es werden natürlich auch nicht alle gehen. Viele haben hier inzwischen Wurzeln geschlagen.

Aber ich bin ebenfalls der Ansicht, dass die Wiederherstellung der autonomen Republik — und nur sie — die endgültige Rehabilitierung der Sowjetdeutschen zum Ausdruck bringen kann. Und eine Rehabilitierung unseres Volkes ist absolut notwendig. Die stalinistische Leitung hat das Etikett eines Feindes darüber verhängt — das war eine der endlosen Kampanien zur geplanten Vernichtung von Menschen, denn der «Vater aller Völker» begann schon lange vor dem Krieg gegen Hitler mit der Verfolgung der Deutschen.

— Wiseen Sie, Viktor Genrichowitsch, am Vorabend des Kongresses trafen zahlreiche Briefe in der Redaktion ein, deren Autoren ihre Meinung zur «deutschen Frage» zum Ausdruck brachten. Und es waren nicht nur deutsche Schreiber, die sich natürlich mit Schmerz und Bitterkeit an die Vergangenheit erinnern, sondern auch russische, wie es für Kriegsteilnehmer auf den ersten Blick auch nicht ungewöhnlich scheint. Sie sind ebenfalls voll und ganz dafür, dass die deutsche Autonomie wiederhergestellt wird. Was auch immer Sie sagen, die Republik war damals vorbildlich.

— Ja, ich bin schließlich selbst im Wolgagebiet aufgewachsen. Sie haben mich direkt von der Front geholt, als das Dekret über die Aussiedlung aller Deutschen nach Sibirien und Kasachstan herauskam.

Die Republik war sowjetisch, und wir alle hielten uns für Sowjetmenschen.

Wir bewahrten unsere Sprache, unsere Sitten und Gebräuche — aber unsere Heimat war für uns Sowjet-Russland.

Nur von den Großvätern hörten wir, dass unsere Vorfahren schon for mehr als zweihundert Jahren in dieses Land gekommen waren, auf Einladung von Zarin Katharina — denn sie wollte, dass sich in Russland die traditionellen deutschen Handwerke entwickelten. Sie erlaubte allen, sich hier niederzulassen, jedem, wo er wollte: denn es kamen auch Italiener und Holländer. Die Deutschen wählten für sich das Wolgagebiet aus, dort lebten sie dann auch in Kolonien, bis man das Gebiet 1924 Sowjetische Autonome Republik nannte.

In der Tat wurde die Republik, nach der Ukraine, als die zweite Kornkammer der Union bezeichnet: man brachte hohe Ernteerträge ein. Es gab fünf Universitäten, zwanzig Zeitungen wurden herausgegeben — es existierte sogar ein eigener Verlag.

Und dann wurden — urplötzlich und in einer einzigen Nacht, 800000 Menschen wie von einem Orkan aus ihren Stammorten weggefegt. Noch lange brüllten die nicht gemolkenen und nicht gefütterten Kühe. Alles war menschenleer. Sie transportierten uns in Güterwaggons — ebenso wie Finnen und Letten. Auf freiem Feld luden sie uns ab — sehr viele kamen später um, es war schon Herbst. Sibirien eben. Bald darauf wurden alle, die das 15.-16. Lebensjahr vollendet hatten, in die Trudarmee einberufen — kaum einer kehrte von dort zurück.

— Viktor Genrichowitsch, das ist — die schwarze Seite in unserer Geschichte. In den Lagern des NKWD kamen, wie wir heute wissen, auch hunderttausende Menschen anderer Nationalitäten ums Leben. Jetzt leben die Deutschen materiell gut, besitzen ihre Häuser, ihre Autos. Dennoch steigt der Strom der Emigranten, allein im vergangenen Jahr reisten 150000 aus.

— Und es werden wohl auch noch mehr. Sehen Sie, die Menschen keiner Nationalitäten fühlen den Mangel an geistigem Leben. Stalin hat sämtliche Schulen geschlossen, alle deutschen Kindergärten, und sie sind bis heute nicht wiederhergestellt worden. Warum dürfen wir nicht in unserer Muttersprache reden, unsere Lieder singen — sind das unsere Wurzeln, ist das unsere Geschichte?

— Fand der Kongress auf Deutsch statt?

— Nein. Sowohl der Bericht als auch die Reden ertönten in russischer Sprache. Die meisten Delegierten können die Sprache nicht. Aber wir möchten wissen, ob die Deutschen in den 50 Jahren, in denen sie in der Region Krasnojarsk leben, ihre Machtorgane auf jeder beliebigen Ebene gewählt haben: im Bezirk, in der Stadt, im Dorf; hat man sie wenigstens ein einziges Mal gefragt, was sie benötigen, wie sie leben möchten? Nein.

— Aber die Wiederherstellung der Autonomie, zudem noch im Wolgagebiet — ist nicht so einfach...

— Das verstehen wir. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Meinungen über den Standort der Republik. Die einen sprechen sich dafür aus, den Deutschen das Gebiet Kaliningrad zu überlassen—im ehemaligen Ostpreußen. Dort sind zahlreiche Ortschaften menschenleer.
Andere schlagen vor, die Autonomie in Kasachstan zu schaffen: aber das funktioniert nicht, wie haben es bereits 1972. Das liegt noch nicht einmal an dem rauen Klima, sondern daran, dass die Menschen diese Gegenden mit Verbannung und Erniedrigungen assoziieren. Wer wird sich dorthin begeben?

Es hat sogar jemand vorgeschlagen, die Autonomie in Odessa zu errichten!

Aber mir scheint, der vernünftigste Ausweg ist trotzdem – das Wolgagebiet. Schließlich wird niemand die Menschen traktieren, die jetzt in den Wolgaregionen leben. Und auf die Häuser, in denen wir damals wohnten, erheben wir keine Ansprüche. Wir werden neuen bauen. Darüber haben wir die Bewohner des Wolgagebiets in gesonderten Briefen nach Saratow informiert; aus der russischen Bevölkerung ist eine Gesellschaft zum Schutz der Deutschen entstanden – sie nannte sich «Gerechtigkeit».

— Aber wovon bauen?! Die Wirtschaft ist, wie wir wissen, in einem Zustand…

— Deutschland verspricht Hilfe: sowohl beim Bau als auch bei der Wiederherstellung der Sprache und der Herausgabe von Büchern und Zeitungen. Das ist für sie vorteilhafter, als Emigranten aufzunehmen. Sie man uns selbst ständig, dass wir die Leute nicht zur Ausreise einstimmen. Sie bitten nur darum, aus der Bezeichnung der Organisation «Wiedergeburt» das Wort «politische» herauszunehmen: sonst wird kein anderer Staat Unterstützung erweisen.

Ich habe gehört, dass bereits 35 Millionen Mark angewiesen sind.

In der Region Krasnojarsk beabsichtigen wir eine Filiale der deutschen Bank «Wiedergeburt» zu organisieren, gemeinsame sowjetisch-deutsche Unternehmen zu gründen, Schulen zu eröffnen — dort, wo die Deutschen dies selbst wünschen. Wir werden Delegationn mit Deutschland austauschen: im vergangenen Jahr sind bereits zwei unserer Schüler dorthin gereist und haben in ihren Familien gewohnt.

Mit einem Wort, wenn Sie Näheres über diese Sache erfahren möchten, teile ich folgendes mit: in Krasnojarsk findet am 30. März um 14 Uhr im städtischen Kulturpalast eine Sitzung unserer Gesellschaft «Wiedergeburt» statt. Mitglied unserer Gesellschaft kann jeder werden, egal, welcher Nationalität er angehört.

Mit dem Gast sprach T. WELITSCHKO

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 30. März 1991
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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