«MEMORIAL»
Dieses Schreiben erreichte die Norilsker «Memorial»-Organisation aus der Bundesrepublik Deutschland. Es richtet sich in erster Linie an diejenigen, deren Angehörige deren Angehörige während des Krieges das Schicksal der Ostarbeiter teilten — Menschen, die damals nach Deutschland zwangsverschleppt wurden.
«Sehr geehrte Damen und Herren!
Sie werden sicherlich verwundert sein, dass wir uns an Sie wenden, aber wir glauben, dass wir Ihnen helfen können. Wir — das sind zwei Gymnasiallehrer aus Herten, einer Stadt im Ruhrgebiet.
Während unserer Arbeit an der Geschichte der Stadt in der Zeit von 1933 bis 1945 entdeckten wir eine Kiste mit den Namen und Informationen über 1146 gewaltsam verschleppte russische Menschen, die sich in einem der hiesigen Schachtanlagen zur Zwangsarbeit befanden.
Unsere Freunde in der Sowjetunion informierten mit Hilfe des Programmleiters der Sendung «Ansichten», Wladimir Mukusew, im sowjetischen Fernsehen über unsere Tätigkeit. Nach dieser Sendung erhielten wir mehr als 2000 Anfragen von Verwandten der Menschen, die sich seinerzeit als Zwangsarbeiter in Deutschland aufhielten. Wir waren vollkommen verunsichert: würden wir in der Lage sein, all diese Anfragen zu bearbeiten, sie mit unseren Angaben zu vergleichen und den Antragstellern antworten zu können?
Während der Lösung dieses Problems erfuhren wir im weiteren Verlauf, dass der Gesellschaft «Memorial» in der Sowjetunion 100000 Anfragen zugestellt wurden, die auf eine Beantwortung warten. Es ist nicht nur die Rede von einer humanitären Aufgabe, verloren gegangene Angehörige ausfindig zu machen, sondern es geht auch darum, die Arbeit dieser Menschen und ihren Aufenthalt während des Krieges in Deutschland zu bestätigen, damit sie eine Wiedergutmachung oder eine Rente erhalten.
Wir hatten das Glück, mit dem Internationalen Suchdienst in Kontakt zu treten, der sich in der kleinen Stadt Arolsen im Zentrum der Bundesrepublik Deutschland befindet, und diese Organisation sogar zu besuchen. Der Internationale Suchdienst in Arolsen wurde nach 1945 im Interesse der Opfer der NaziVerfolgungen geschaffen, insbesondere der Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern, Ausländern, die Zwangsarbeit leisten mussten, und er ist der weltweit einzige Dienst dieser Art. Der Internationale Suchdienst verfügt gegenwärtig über Informationsmaterial zu etwa 14 Millionen Opfern. Unser Vertrauen in den Internationalen Suchdienst ist so groß, dass wir die 2000 Briefe in der Überzeugung
dorthin übermittelten, dass den noch lebenden Opfern der Nazizeit Hilfe zu Teil wird. Und tatsächlich gibt es zu acht von zehn ausgewählten Suchanfragen Informationen, welche den interessierten Personen in der Sowjetunion kostenlos zugesendet wird. Die vorhandenen Angaben werden ausschließlich unmittelbaren Familienangehörigen oder vertrauenswürdigen Personen übermittelt; Vertraulichkeit bezüglich der Informationen wird zugesichert.
Während unseres Besuches in Arolsen äußerte der Leiter des Internationalen Suchdienstes in Arolsen sein Bedauern darüber, dass aus der Sowjetunion nur weniger Gesuche eingingen, trotz der Tatsache, dass großes Interesse an der Klärung der Schicksale der Zwangsvertrieben herrsche. Er versicherte, dass der Internationale Suchdienst im Interesse der Opfer des Nationalsozialismus bereit ist, die eingegangenen Anträge kostenlos zu prüfen.
Es wäre empfehlenswert, den beigefügten Musterfragebogen für künftige Anfragen zu verwenden, damit Ihre Gesuche einfach und schnell beantwortet werden können. Der Internationale Suchdienst sendet Ihnen die Fragebögen unentgeltlich zu. Wir beide bitten Sie eindringlich, die Hilfe und das Fachwissen des Internationalen Suchdienstes in Anspruch zu nehmen, denn die voranschreitende Zeit zwingt uns dazu – die Menschen, die es betrifft könnten sterben. Wenn jemand den Opfern des Nazismus helfen kann, dann ist es der Internationale Suchdienst in Arolsen.
Anschrift des Internationalen Suchdienstes: Große Allee 5—9, W-3548 Arolsen Bundesrepublik Deutschland Wir würden uns freuen, Ihnen helfen zu dürfen.
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Kaimer, Gerd Kuhlke».
„Sapoljarnaha Prawda“, 30.05.1991