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Der Arm der fernen Stammheimat

Der Balachtinsker Bezirk hat eine sehr reale Chance, sich aktiv an der internationalen Zusammenarbeit zu beteiligen. Aus dem einfachen Grund, weil hier in «kompakter Ansiedlung» eine ausreichend große Anzahl von Bürgern deutscher Nationalität lebt. Aber alles der Reihe nach.

Am 11. Juni fand in Balachta ein äußerst bemerkenswertes Ereignis statt: zum allerersten Mal in der Geschichte wurde unsere entlegene sibirische Siedlung von hochgestellten ausländischen Gästen besucht — den Mitarbeitern der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Sowjetunion Horst Winkelmann, Markus Ederer und Peter Erikowitsch Ingenbergs (ein Auswanderer aus unserem Land). Begleitet wurde die Delegation vom Krasnojarsker Regionsrat der Volksdeputierten W.N. Sewastjanow. Er war es auch, der die Versammlung eröffnete, zu der leitenden Personen aus dem Bezirk sowie zahlreicher Unternehmen und Wirtschaften, unsere Landsleute deutscher Nationalität, gekommen waren.

Unser aktuelles Treffen, — sagte er, — ist ein klares Zeugnis dafür, dass wir lernen ein neues Leben zu führen. Wer hätte sich noch vor fünf Jahren die Ankunft von ausländischen Gästen in Balachta und sogar in Krasnojarsk vorstellen können – und noch dazu von so einem hohen Rang! Wie bekannt ist, war Krasnojarsk eine für Ausländer geschlossenen Stadt. Aber seit der Zeit, als das Regime der Geheimhaltung aufgehoben wurde, haben sich in unsere Stadt ungefähr 400 Vertreter ausländischer Firmen aufgehalten. Wir führen intensive Gespräche für den Aufbau einer Zusammenarbeit, mit dem Ziel, einer rationelleren Nutzung der natürlichen Ressourcen unserer Region. In dieser Hinsicht ist die Region sehr reich. Es gibt sowohl Wald als auch Wasserkraftressourcen sowie Bodenschätze von Kohle, über Erdöl bis hin zu Gold. Der akute Mangel an finanziellen und materiellen Mitteln und der technische Rückstand erlauben uns nicht, diese Reichtümer in vollem Umfang zu nutzen. Daher suchen wir auch im Westen würdige Partner, mit deren Hilfe wir auf Basis einer gesunden kommerziellen Beziehung unser Potential realisieren können. Kürzlich besuchte eine Delegation aus unserer Region die BRD, das Bundesland Rheinland-Pfalz, wo sie viel Lehrreiches gesehen und erfahren hat. An der Aufnahme von Beziehungen mit deutschen Industriellen und Geschäftsleuten waren wir besonders interessiert, da auf dem Territorium unserer Region eine bemerkenswerte Anzahl Sowjet-Deutscher lebt. Viele von ihnen haben verwandtschaftliche Beziehungen zur fernen Stammheimat, manche entstanden durch die Ausreise einiger Teile der deutschen Bevölkerung an einen permanenten Wohnort in der Bundesrepublik ganz neu. Offenbar fanden unsere Vorschläge zur Herstellung von Geschäftsbeziehungen, kraft dieser Gründe, ein positives Echo bei der Botschaft der Bundesrepublik, dessen Ergebnis dieses Treffen war. Wir kennen die starken Merkmale des nationalen Charakters der Deutschen — Fleiß, ein hoch entwickeltes Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein, das Streben nach Ordnung, Abgeschlossenheit, konkreten Ergebnissen, Genauigkeit. Wir nehmen an, dass der Aufbau von Geschäftsverbindungen zur BRD auch unseren Landsleuten deutscher Nationalität dabei helfen wird, in größerem Umfang ihr geschäftliches und geistiges Potential zu verwirklichen.

W.N. Sewastjanow berichtete darüber, dass die deutschen Partner vorschlügen, auf dem Territorium des Balachtinsker Bezirks eine Reihe kleiner gemeinsamer Unternehmen zu schaffen. Objekte ihrer Aktivität könnten Holzverarbeitung und landwirtschaftliche Produktion, Herstellung von Baumaterialien, Straßenbau sein — alles, was vor allem eine Steigerung des Lebensniveaus der Bevölkerung in der Region mit sich bringt. Die deutsche Seite ist bereit, die Finanzierung derartiger Unternehmen, die Herstellung von Geschäftsbeziehungen, den Aufbau technologischer Einrichtungen und Ausrüstungen zu übernehmen, ebenso wie Personalschulung - bis hin zu Praktika bei analogen Firmen in Deutschland. All das wird nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beitragen, sondern auch zur Wiederherstellung der nationalen Kultur und der Traditionen der örtlichen deutschen Bevölkerung. Allerdings heißt das keineswegs, dass ausschließlich die ortsansässigen Deutschen Vorteile aus einer solchen Zusammenarbeit erhalten. In den gemeinsamen Unternehmen können alle arbeiten, die das möchten, natürlich im Rahmen des Personalplans; die herzustellenden Produkte werden hauptsächlich innerhalb des Bezirks und im Interesse der gesamten Bevölkerung realisiert, und die vom Gesetz vorgesehenen Abzüge vom Gewinn werden zur Weiterentwicklung sozialer Bereiche verwendet. Die Festigung der Verbindungen mit der BRD geben den Balachtinskern, und nicht nur der dortigen deutschen Bevölkerung, die Möglichkeit, Deutschland zum Zwecke der Erholung und Behandlung sowie dem Kennenlernen der kulturellen Werte zu besuchen. Im weiteren Verlauf werden, sofern die Verbindungen gut zustande gekommen sind, deutsche Partner dabei helfen, im Bezirk Schulen mit Unterricht in deutscher Sprache zu schaffen, die Kinder werden die Möglichkeit bekommen, deutsche Literatur, Geschichte, die Kultur ihres Volkes kennenzulernen.

—Die Jahrhunderte alte Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen dem russischen und dem deutschen Volk, — sagte W.N. Sewastjanow zum Abschluss, —kannte helle und düstere Seiten. Gleichbleibend ist die Gesetzmäßigkeit geblieben: die Zeiten der Konfrontation brachten beiden Völkern großes Leid, die Zeiten der Zusammenarbeit — nur Gutes. Jetzt ist eine Zeit der Zusammenarbeit gekommen, und man muss ihre Möglichkeiten nutzen.

Anschließend erhielt Herr Winkelmann das Wort. Er begrüßte die Versammelten auf Deutsch und Russisch und fuhr dann mit seiner Rede in Russisch fort:

—Ich muss klarstellen, dass ich ein wenig schüchtern bin. Wir hätten niemals erwartet, hier so ein großes Treffen zu haben, wir dachten, dass etwas in der Art eines «runden Tisches» stattfinden würde. Wir freuen uns, dass unser Besuch so ein großes Interesse hervorgerufen hat. Herr Sewastjanow hat ganz richtig gesagt, dass noch vor wenigen Jahren eine solche Begegnung unmöglich gewesen wäre, und da sie nun stattgefunden hätte, wäre das in der Tat ein Beweis für riesige Veränderungen in der Welt. Nach jenem schrecklichen Krieg, nach vielen Jahren der Entfremdung und der ideologischen Konfrontationen können wir zusammentreffen und frei über alles sprechen, was uns interessiert.

Er schlug den Anwesenden vor, Fragen zu stellen, und das machte sich sogleich die Mitarbeiterin der Bezirksabteilung für Volksbildung – N.A. Zitzer - zunutze:

—Wir möchten gerne wissen, welche gemeinsamen Unternehmen auf dem Territorium unseres Bezirks eröffnet werden sollen und wie viele Menschen dort beschäftigt sein werden.

—Wir wissen so gut wie nichts über die Region Krasnojarsk, — lautete die Antwort. — Als Herr Sewastjanow in unsere Botschaft kam und wir Fragen einer Zusammenarbeit erörterten, sagte er, dass hier viele Deutsche leben. Wir brachten den Wunsch zum Ausdruck sie und ihre Lebensweise näher kennenzulernen, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erfahren und festzustellen, welche Möglichkeiten sich in der Region ergeben. Man gab uns Gelegenheit, in die Region zu kommen. Seitens der deutschen Regierung wurde uns Hilfe und Förderung versprochen. Aber ich soll von ihrem Leben und ihren Wünschen hier berichten, und dann werden wir gemeinsam darüber nachdenken, wie man ihnen mit Krediten unserer Regierung helfen kann.

W.N. Sewastjanow fügte hinzu:
—Sie sollen selbst bestimmen, welche Unternehmen Sie benötigen. Aber wir denken, dass man das Augenmerk in erster Linie auf die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten legen sollte. Denn bei uns geht vieles davon verloren, weil man es nirgends aufbereiten kann. In guten Jahren musste in Zahlreichen Hofwirtschaften sogar die Milch weggeschüttet werden, weil die existierenden Fabriken sie nicht rechtzeitig verarbeiten konnten, so dass die Milch verdarb. Natürlich werden die Unternehmen nicht sehr groß sein, aber es soll Sie nicht beunruhigen, dass nur wenige Leute dort beschäftigt sein werden. Der Nutzen für die gesamte Bevölkerung wird groß sein, einen Teil der Produktion kann der Bezirk gegen andere für die Menschen notwendige Güter eintauschen.

Frage: Ion den vergangenen Jahren sind viele Deutsche aus der Sowjetunion in die BRD ausgereist. Es gibt noch mehr Menschen, die den Wunsch danach haben. Ich möchte gern wissen, wie sie dort in Deutschland empfangen werden.

Herr Horst Winkelmann:

—Einzelheiten sind mir nicht bekannt, aber eines kann ich sagen: aber die meisten von uns betrachten euch, die ihr aus der UdSSR kommt, als Ausländer. Wir wissen wenig über euch. Unser Minister hat mir erzählt, dass er noch vor Beginn eurer Perestroika mit den sowjetischen Behörden zusammengetroffen sei und um die Erlaubnis gebeten hätte, das Leben der Deutschen in der Sowjetunion kennenzulernen und sich mit dem Stand ihrer Kultur vertraut machen zu dürfen; er habe jedoch die Antwort erhalten «bei uns gibt es keine Deutschen». Auch in der BRD gab es Vorurteile gegenüber der Sowjetunion, man fürchtete sie; daher wurden alle Fragen, die damit im Zusammenhang standen, als unangenehm empfunden. Und wir in Deutschland sind es gewohnt, mehr über uns selbst nachzudenken. All das erleichtert nicht gerade die Ankunft von Deutschen aus dem Ausland. Natürlich, wenn die Menschen zu uns kommen wollen, unternimmt unsere Regierung alles nur Mögliche, um die Einreise zu erleichtern. Aber wenn sie hierbleiben wollen, dann können wir dabei helfen, ihr Leben hier zu verbessern. Dies wird durch die Sowjetregierung und die lokalen Behörden gefördert. Bei uns ist es mit der Arbeit sehr schwierig. Für die Deutschen aus der Sowjetunion ist es noch schwieriger, weil ein völlig neues Umfeld sie erwartet; es ist eine ganz andere Gesellschaft, und daran kann man sich nur schwer gewöhnen.

W.N. Sewastjanow:

—Ich darf hinzufügen, dass man in Deutschland möglichen Schwierigkeiten begegnet, von denen man sich hier keinerlei Vorstellungen machen kann. Dort kann man zwar ohne jegliche bürokratische n Papierkrieg Land kaufen, ein Haus bauen, aber die soziale Adaptation in einer anderen Gesellschaft ist für unsere Staatsbürger sehr schwierig. Ein paar Menschen, die aus der Sowjetunion gekommen sind, können sich jahrelang nicht an das andere System der gegenseitigen Beziehungen im Alltagsleben, bei der Arbeit und auch einfach nur auf der Straße gewöhnen. Außerdem entstehen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland derzeit erhebliche Kosten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung mit der ehemaligen DDR, und es wäre für sie viel billiger, hier den Sowjetdeutschen Hilfe zu erweisen.

Frage: Im Zusammenhang mit der Verabschiedung der neuen sowjetischen Renten-Gesetzgebung ist für die Menschen der älteren Generation die Notwendigkeit entstanden, ihre Arbeitsjahre in der Trudarmee zu rekonstruieren. Doch bislang ist nicht bekannt, woher man die entsprechenden Dokumente bekommen und an wen man sich wenden soll. Man hat seinerzeit die Menschen über die Kriegskommissariate in die Arbeitsarmeen einberufen, aber nun gibt man uns zur Antwort, dass ihnen überhaupt keine Dokumente darüber vorliegen.

W.N. Sewastjanow:

—Ein derartiges Organ wurde tatsächlich noch nicht geschaffen. Schämen Sie sich deswegen nicht, sich an die Räte zu wenden, unter anderem an die regionalen. Es gibt in dieser Hinsicht noch viel zu tun, das System ist noch nicht vollständig erarbeitet, noch nicht ausgereift. Es gibt noch viele nicht rehabilitierte Opfer der stalinistischen Repressionen – und nicht nur Deutsche. îñòàåòñÿ íå. Mit der Zeit werden wir selbstverständlich damit zurechtkommen und Ordnung in das Ganze bringen.

Frage: Im Bezirk finden sich nicht so viele Menschen, die nach Deutschland ausreisen wollen. Hier kränkt uns niemand, es gibt keine Einengungen, wir leben nicht schlechter als die eingeborene Bevölkerung, in mancher Hinsicht vielleicht sogar besser. Sie können das zumindest anhand der PKWs neben dem Holzverarbeitungskombinat beurteilen. Aber es wäre wünschenswert, wenn unsere Kinder richtig Deutsch sprechen und die deutsche Kultur kennen würden. Wie könnte Ihre Unterstützung in diesem Bereich aussehen? Und wird Deutschland uns, den Balachtinskern helfen, oder soll die Hilfe an die mutmaßliche deutsche Autonomie an der Wolga gehen?

Ch. Winkelmann:

—Vor allem ist es so, dass eine solche autonome Republik noch nicht existiert, und es ist auch nicht sicher, ob es sie überhaupt geben wird. Meine persönliche Meinung — man muss den Deutschen dort helfen, wo sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt leben, unter anderem also auch in diesem Bezirk. Es ist sehr wichtig, von Ihnen zu erfahren, was Sie konkret benötigen und Ihre Anfragen genau zu studieren.

Mit Interesse wurde die Rede des Direktors der Krasnensker Sowchose G.G. Schmidt aufgenommen:

—Ich verehre mein Volk und bin stolz darauf Deutscher zu sein. In unserer Sowchose leben und arbeiten Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, darunter über hundert Deutsche, und ich bin froh, dass es unter den besten Produktionsmitarbeitern nicht wenige hervorragende Mechanisatoren und Viehzüchter gibt. Leider gibt es unter den Deutschen auch Trunksucht und Verletzungen der Arbeitsdisziplin. Aber schon diese zwei Tatsachen zeugen davon, dass wir mit dem gesamten Volk auf einem Niveau leben. Natürlich gibt es auch Kränkungen. Und sowohl unsere fernen Vorfahren, die vor zweihundert Jahren nach Russland gekommen sind, als auch unsere Eltern, haben zum Wohle Russlands gearbeitet, und dann hat man uns 1941 urplötzlich alle, ohne jeden Grund, des Verrats beschuldigt. Auch die darauffolgende Umsiedlung und verstreute Neuansiedlung in kleinen Gruppen in den riesigen Weiten des Landes, zwischen Mittel-Asien und dem Polarkreis, geschah ebenfalls nicht ohne Absicht — wir sollten unsere Sprache, unsere Sitten und Gebräuche, unsere Traditionen und Kultur vergessen, aber ohne sie ist kein Volk in der Lage zu existieren. Viele Deutsche sind in den Trudarmeen gestorben — fast jeder zweite der Mobilisierten. Wir haben unsere nationale Kultur tatsächlich verloren. Jetzt wird die Frage nach der Wiederkehr der nationalen deutschen Autonomie aufgeworfen. Selbst wenn sie wiedererrichtet werden sollt, wird die Mehrheit der Deutschen, zumindest aus unserer Region, weder an die Wolga zurückkehren noch in die BRD ausreisen. Die junge und mittlere Generation ist bereits hier geboren und aufgewachsen. Und es gibt keinen Grund, sich woanders eine Heimat zu suchen. Aber trotzdem brauchen wir unsere Staatlichkeit. Sie wird uns als Stütze für die Wiederentstehung der Sowjetdeutschen als Nation dienen. Was die konkreten Branchen betrifft, so benötigen wir unbedingt Unternehmen zur Verarbeitung von Holz, Fleisch und Milch und auch eine Brauerei würde keinesfalls hinderlich sein. Nicht weniger wichtig wäre die Entstehung kultureller Verbindungen, alles zu tun, damit jeder der ortsansässigen Deutschen nach Deutschland reisen könnte – was wären wir denn sonst für Deutsche!

Die Gäste antworteten noch auf eine ganze Reihe weiterer Fragen. Um das Gespräch noch einmal zusammenzufassen und eine Bilanz zu ziehen sagte M. Ederer:

—In der sowjetischen Literatur gibt es ein bemerkenswertes Werk, in dem folgende Worte zu lesen sind: «Die Rettung Ertrinkender —ist eine Angelegenheit der Ertrinkenden selbst». Ihren Sinn sehe ich darin, dass man einem Menschen nicht helfen darf, wenn er selbst sich nicht helfen will. Deutschland ist ein kleines Land, es kann helfen, aber nicht alles für euch tun. Ihr müsst selbst gut arbeiten, nur so kann man reich werden.

Beim Abschied meinte Herr Ch. Winkelmann:

—Ich sage zu Ihnen «auf Wiedersehen». Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich verehre Sie alle sehr! Wir werden unsere Angelegenheiten fortsetzen.

Offensichtlich wird es neue Begegnungen geben. Aber schon nach dieser ist die Urheimat für viele unserer Landsleute ein wenig näher gerückt.

W. SKIRDA


Auf dem Foto: Ch. Winkelmann und M. Ederer


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