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In den Tiefen der sibirischen Wälder (über eine kleine Insel des großen Archipel GULAG

Die Bezeichnungen Reschoty, Nischneingaschsker Bezirk, Kraslag sind mir nicht vom Hörensagen bekannt, sondern aufgrund bitterer Erfahrung. Ich bin einer von denen, denen es gelungen ist, in jenem „unbarmherzigen Krieg“ des stalinistischen Regimes gegen sein eigenes Volk zu überleben. Aber all das Durchlebte zu vergessen – ist nicht möglich, und so habe ich beschlossen, meine Erinnerungen an jene schreckliche Zeit zu teilen; Erinnerungen, von denen ich vermute, dass sie für die Einwohner des Nischneingaschsker Bezirks interessant sein könnten.
Man brachte uns, das heißt eine der turnusmäßigen Partien von Häftlingen, nach der Verkündung des Urteils im Ural, im Vostokurallag (Ost-Ural-Lager; Anm. d. Übers.), im Sommer 1947 in Stolypin-Waggons ins Kraslag (im Grunde genommen war das kein Urteil gewesen, sondern der Beschluss eines nicht verfassungsgemäßen Organs – einer Sonder-Sitzung, das heißt gänzlich ohne Gerichtsverhandlung!). Eine solche „Reise“ in einem solchen Waggon –ist ein besonderes Thema, allerdings nicht für schwachnervige Personen geeignet, aber eine hervorragende Beschreibung einer derartigen Fahrt finden wir in A. Solschenizyns „Archipel GULAG“ sowie in Iwan Lukjanowitsch Solonewitschs Roman „Russland im Konzentrationslager“, der ab Januar in der Zeitschrift „Kuban“ abgedruckt wird. Zwei Worte über den Autor und sein Buch. Iwan Lukjanowitsch floh zusammen mit seinem Bruder Boris und Sohn Jurij Anfang der 1930er Jahre über Finnland aus der UdSSR (beim dritten Versuch; die ersten beiden verliefen erfolglos). Nachdem er sich in Deutschland niedergelassen hatte, schrieb er dort das Buch „Russland im Konzentrationslager“, wobei er die Welt erstmalig über die Existenz der Konzentrationslager in der Sowjetunion informierte. Für diese „offenen Augen“ gegenüber der Welt ließ man ihm die „Fühler der GPU und des NKWD“ zu teil werden: sie schickten eine Höllenmaschine in die Redaktion; bei der Explosion wurden seine Ehefrau Tamara Wladimirowna und ein Sekretär getötet; Solonowitsch selber war zu der Zeit nicht im Raum. Im Ausland brachte I.L. Solonowitsch noch einige Werke heraus, unter anderem auch eine Zeitung; er siedelte nach Argentinien über, wo er 1953 starb. Somit war Iwan Lukjanowitsch dem Buch „Der Archipel GULAG“ um fast ein halbes Jahrhundert voraus…

Aber ich bin ein wenig abgeschweift.

… Also, im Sommern 1947 traf unsere Gefangenen-Etappe im Kraslag ein, in Kansk, wo sich zu der Zeit, soweit ich mich erinnere, die Verwaltung des Kraslag befand. Sie brachten uns bis zur Lagerzone, ließ uns dort aber nicht hinein. Nachdem wir mehrere Stunden gewartet hatten, weigerten sie sich, uns, die Hungrigen, vom Häftlingstransport und den vorherigen Durchgangsgefängnissen Verängstigten und Erschöpften, aufzunehmen; stattdessen brachten sie uns unter Wachbegleitung zur Bahnstation, verluden uns auf einen Waggon und brachten uns noch weiter fort.

Wie ich mich jetzt erinnere, war es der 7. Juni 1947, als wir an irgendeinem entlegenen Ort aus dem Waggon ausstiegen, mitten in einem Wald (meiner Meinung nach war das bereits die Schmalspur-Bahnlinie). Ich erinnere mich an den sonnigen Morgen und die betäubende Luft der Taiga nach all dem Gestank und der Stickigkeit des „Stolypin-Waggons“, in dem wir ins Abteil hineingestopft worden waren, wie Sardinen in der Büchse. Sie brachten uns in die Lagerzone des Sonderlagerpunktes-JU des Kraslags – ein riesiges Territorium hinter einem Zaun, der oben mit Stacheldraht versehen war, sowie Wachtürmen an den Ecken. Leiter des Sonderlagerpunktes-JU war Pelewin oder Pechlewin, der scheinbar den Rang eines Majors innehatte. Ich erinnere mich noch an seine hohe Gestalt und an sein Gesicht – irgendetwas war mit einem seiner Augen (vermutlich eine Prothese). Nach einigen Ragen Aufenthalt in diesem Sonderlagerpunkt schickte man uns, die wir lange Haftstrafen erhalten hatten, mit einer neuerlichen Etappe weiter, in die tiefste Abgeschiedenheit des Kraslag (hier muss man erklären, was „lange Haftstrafen“ bedeuten – das betraf diejenigen, die zu mehr als zehn Jahren verurteilt worden waren, denn 10 Jahre galten als „Norm“!).

In dieser Abgeschiedenheit des Nischneingaschsker Bezirks, im Lagerpunkt-2 des Sonderlagers-JU, saß ich dann also von Juni 1947 bis März oder April 1949 ein, als sie alle nach § 58 Verurteilten in die „geschlossenen Regime-Sonderlager“ des Oserlag brachten).

Seit beinahe einem halben Jahrhundert versuche ich im Gedächtnis wiederherzustellen, was es mit diesem Lagerpunkt-2 auf sich hatte. Es handelte sich um eine vergleichsweise kleine Lager-Außenstelle inmitten der entlegenen Taiga; in der näheren Umgebung gab es nur ein paar Häuschen für das freie Personal und eine Kaserne für die Lager-Garnison.

In der Lagerzone hatten die privilegierten Kriminellen das Sagen (Solschenizyn akzentuiert ganz richtig, dass die Politik der gemeinsamen Unterbringung von Kleinkriminellen und politischen Gefangenen im Lager eine Form der Misshandlung an den politischen Häftlingen war, denn das intellektuelle und moralische Niveau dieser beiden Gruppen klaffte weit auseinander und war somit nicht miteinander vergleichbar). Die Kriminellen fürchteten nicht nur die „Muschiks“ (das heißt die Nicht-Kriminellen), sondern auch das freie Personal, wobei sie es vorzogen, sich nicht unnötig in der Lagerzone zu zeigen. Die Verpflegung kam bei uns nur teilweise an; Zucker bekamen wir zweimal in zwei Jahren. Die Vorzugskriminellen lebten in einem Sonderstatus, sie selbst arbeiteten nicht, doch man erhob sie über die Polithäftlinge – aus ihnen wurden die Brigadiere ernannt, außerdem diverse Leiter (der Küche, der Brotschneidestelle, der Kleiderkammer u.a.). Wenn die Gefangenen Pakete erhielten, waren sie verpflichtet, den Löwenanteil an die Kriminellen abzugeben, andernfalls riskierten sie ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben.

Die Hauptarbeit am Lager bestand aus Bäume Fällen; die Reviere für den Holzeinschlag lagen weit vom Lager entfernt; sie gingen zu Fuß dorthin, natürlich unter Wachbegleitung mit Hunden und dem berüchtigten „ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links – das gilt als Fluchtversuch, die Wachen werden ohne Vorwarnung von der Waffe Gebrauch machen“. Bei der Rückkehr von der Arbeit fand die – erniedrigende „Schmon“ (das Filzen; Anm. d. Übers.) neben dem Wachhäuschen statt, wer versuchte, etwas einzuschmuggeln, kam in den – Straf-Isolator. Neben der Holzfällerei gab es auch unterschiedliche Hilfstätigkeiten: Heumahd, Ernte auf den Feldern und in den Gemüsegärten, Beschaffung und Reparatur von Arbeitswerkzeugen. Ich kam in eine Hilfsbrigade – und zwar aufgrund meiner körperlichen Verfassung und meiner Gesundheit. Brigadeleiter war Anatolij Schtschorin aus den Reihen der Kriminellen, unangenehm anzusehen, mit einer tiefen Bassstimme, tiefliegenden Augen und groben Umgangsformen – unabhängig vom Alter der Brigaden-Mitglieder (und es gab unter ihnen einige recht betagte Leute). Ich erinnere mich an ein paar ganz wilde Prügel-Szenen von Angehörigen der Brigade, aber nirgends konnte man sich beschweren – und das wäre auch gefährlich gewesen. Er „erzog“ die Brigadiere im Geiste eines widerspruchslosen Gehorsams, wobei er ein sehr primitives Recht aufstellte: „ihr hängt ausschließlich von mir ab, lebte mit mir und nicht mit der Lagerleitung“. Nach dem Arbeitstag, vor dem Schlafengehen, brachte der Diensthabende eine Kiepe mit jeweils Brotrationen von je 100 Gramm – das war zusätzlich zu der 400-Gramm-Morgen-Ration vorgesehen (sie wurde in der Regel sofort aufgegessen). Alle stellten sich neben ihrer Pritsche auf (und das waren doppelstöckige) und verfolgten aufmerksam, den Atem anhaltend, ob es wohl auch heute diese Zusatz-Portion gäbe.

Im Gedächtnis geblieben sind auch die Freunde und Leidensgenossen jener Jahre. Da waren die Chinesen Tschschao Jun-Gui und Li Din-Tsai (die in Schtschorins Brigaede als Tagesdiensthabende arbeiteten) – äußerst reinliche und fleißige Arbeiter und zudem wunderbare Köche für den Brigadeleiter; außerdem waren die Diensthabenden dafür zuständig, die Brigade-Mitglieder nach Arbeitsaufträgen zu formieren – den Japaner Itaya-san und den Charbiner Tsuruga-san (letzterer war ein ganz besonders kultureller und feinsinniger Mensch, den ich schon aus Charbin kannte), die Koreaner Di Pen-En und I Dzon-Uk und viele andere, an deren Nachnamen ich mich nicht mehr erinnere. Einige von ihnen waren „Kurzzeit-Einsitzende“ ( das heißt, sie mussten zehn Jahre oder weniger absitzen), arbeiteten in der Wäscherei, der Kantine, der Brotschneiderei oder bei anderen Diensten, wohingegen man die Langjährigen in der Küche zur Nachtzeit noch nicht einmal Kartoffeln schälen ließ, was den hungernden Menschen eine kleine Hilfsration verschaffte.

In der Erinnerung geblieben sind die Langjährigen aus dem Baltikum – die Letten Snutens (Kalninsch), Treirat und Roseneks. Der erste war ein kräftig gebauter Mann mittleren Alters, Treirat ein hagerer, schon gealterter Mann; der jüngste von ihnen war Roseneks. Er starb auch früher als alle anderen an Erschöpfung – aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit; einige Zeit später starb Treirat. Snutens blieb noch am Leben, so lange wir zusammen waren. Natürlich gab es auch befreundete Landsleute aus der Mandschurei, mit denen mich das Schicksal schon früher in Charbin hatte zusammenstoßen lassen. Ich werde ihre Nachnamen nicht erwähnen: ein Teil von ihnen weilt noch unter den Lebenden, und nicht jeder möchte gern seinen Familiennamen in derartigen Reportagen sehen. Doch von einer Kuriosität möchte ich noch erzählen. Es gab an diesem Lagerpunkt zwei Freunde: den amerikanischen Piloten Mister Fabian (Amerikaner tschechischer Herkunft) und den deutschen Offizier August Tilzer, Invalide aufgrund einer Verletzung des Brustkorbs. Fabian geriet unter den Bombenbeschuss der Deutschen und besaß eine riesige, nicht ausheilende Verwundung am Schenkel (Verbrennungen durch Phosphor), während Tilzer unter amerikanischen Bombenhagel geriet und eine schwere Verwundung des Brustkorbs davontrug. Fabian war ebenfalls Invalide, er hinkte, ging am Stock, arbeitete als Sanitäter in der Sanitätsstation; Tilzer war ebenfalls in der Sanitätsabteilung tätig, aber als Koch. So hatte also das allgemeine Elend die beiden einstigen Feinde einander nähergebracht. Eine andere Frage ist die, wie sie beide in ein sowjetisches Lager gerieten – aber das ist schon wieder ein ganzes Thema für sich.

… In der Erinnerung geblieben sind noch die schrecklichen Bilder der Keilereien zwischen den Kriminellen und den „Hündinnen“ (die Garnison musste sich einmischen, von den Wachtürmen wurde geschossen, es gab Verwundete, und erst das konnte das Gemetzel schließlich zum Stillstand bringen); bestialische Morde im Lager aufgrund irgendwelcher persönlichen Motive oder verursacht durch das „Kastenwesen“ der Kriminellen und „Hündinnen“; Flucht und Tod meines Freundes Pawel Metelew, eines sowjetischen Fliegers (ich musste als Mitarbeiter der Sanitätsabteilung bei seiner Obduktion anwesend sein – ich war als „Feldscher“ tätig). Getötet wurde Pawel durch einen Schuss in den Rücken, weil er sich nicht bei lebendigem Leibe in die Hände der Tschekisten begeben wollte, dem damaligen Schrecken der Flüchtlinge Gelikow, dessen großtuerische Devise lautete: „Lebendige Flüchtlinge nehme ich nicht an“; die tödliche Verwundung unmittelbar in der Zone von Zug-kommandeurs „Stehaufmännchen“ (diesen Spitznamen hatten ihm die Gefangenen gegeben), und „anscheißen“ tat ihn offensichtlich bei der Niederlage Daniil Maslow, einst im Kinderheim aufgewachsen, ein alter Lagerinsasse, Gehilfe unseres Brigadeführers Schtschorin; der Aufruhr der „Muschiks“ gegen die Vorherrschaft der Kriminellen und die Vernichtung der Letztgenannten; na ja, und vieles andere – man kann das gar nicht alles aufzählen. Hier lassen sich ganze Abhandlungen über jeden einzelnen solcher Fälle schreiben – und auch das ist wieder nichts für Menschen mit schwachen Nerven… Ja, zugegebenermaßen, darf man auch nicht alles glauben – dass das „in dem freiesten und glücklichsten Land der Welt“, das sich auf dem Weg in eine „helle Zukunft“ befand, überhaupt möglich war. Und trotzdem kann ich immer noch nicht über den grausamen Mord in der Arbeitszone („Umzingelung“) an dem mir gut bekannten ehemaligen russischen Offiziers aus Rumänien – Igor Utschkowskij: während der Arbeit wurde er von einem Angehörigen seiner Brigade – einem Koreaner – erschlagen…

… Es kam die Zeit, dass ich auch über mich ein wenig erzählten sollte: wie es mir gelang, in jenen unmenschlichen Bedingungen zu überleben. Zu körperlicher Arbeit war ich nicht in der Lage, und das heißt – das Ende war unschwer zu erahnen. Hier war es für die „Ausländischen“ schwierig, weil sie keine Pakete erhielten, mit denen sie sich gelegentlich „loskaufen“ oder ein wenig besser ernähren konnten, wenngleich den Löwenanteil ebenfalls die Kriminellen einkassierten. Die aus dem Ausland Eingetroffenen waren mit dem vollständigen Verlust aller Verbindungen zu den in der Heimat geblieben Verwandten konfrontiert, und im Lager brauchten sie mit nichts zu rechnen. Und wie man später erfahren konnte, gerieten die Angehörigen in die Lage, Familienmitglieder von Vaterlandsverrätern zu sein, und was das bedeutet – ist ja hinreichend bekannt.

Also: was mich im Lager rettete, war – die englische Sprache. Es war nämlich so gewesen, dass ich in Charbin das Orientalische Institut absolviert hatte, wo mir der Titel eines Wissenschaftlers der Sinologie (eines Ost- bzw. Chinakundlers) verliehen bekam. Am Institut hatte es einen guten Unterricht in englischer, japanischer und chinesischer Sprache gegeben (neben östlichen Disziplinen). In den ersten Jahren des „großen Strafabsitzens“ war eine ganze Menge des erworbenen Wissens noch frisch, unter anderem auch die Sprachkenntnisse.

Dankbar denke ich an den Leiter der Sanitätsstelle des Lagerpunktes zurück, den Gefangenen Nikolaj Jakowlewitsch Semjonow, Fälscher von Beruf (verurteilt, übrigens, wegen irgendeines „Hooligan-Paragraphen“ zu 5 oder 7 Jahren). Nachdem er erfahren hatte, dass ich Englisch konnte, beschloss er diese Sprache zu erlernen. Und so „beherbergte“ er mich in der Sanitätsabteilung, nachdem er mit Schtschorin abgesprochen hatte, dass dieser mich in die Brigade aufnahm (es gab nur wenige Ärzte im Lager, vor allem nicht solche, die sich sowohl vor den Gefangenen, als auch vor der Lagerleitung durchsetzen konnten, und Nikolaj Jakowlewitsch war einer, der über diese Qualitäten verfügte). Sogleich begann für mich ein neues Leben. Ich brauchte nicht mehr hungern und konnte mich schon in den ersten Tagen nach fast zwei Jahren endlich einmal wieder sattessen. Und das war eine Glückseligkeit, die nur der begreift, der wirklich einmal richtig Hunger leiden musste! Zweitens konnte ich nun im Warmen arbeiten, und die Arbeit war körperlich nicht schwer. Und schließlich tauchten bei mit merkwürdigerweise medizinische Fähigkeiten auf (obwohl ich nie zuvor daran gedacht hatte, denn ich ekelte mich vor Eiter und Blut, wovon es gerade im Lager reichlich genug gab). Hier kamen mir auch meine Kenntnisse des Lateinischen gelegen. Das alles war für mich die Rettung. Ich fing an, in den Sprechstunden zu helfen, Verbände zu wechseln, lernte Injektionen zu verabreichen, eignete mir schnell die Grundlagen über Aseptik und antiseptische Mittel an. Später schickten sie mich ganztägig als Arzthelfer zu den Arbeitsobjekten – das war nicht schwer und mitten in der Natur, im Wald oder auf den Feldern, an der frischen sibirischen Luft. Natürlich konnte ich mich nun auch besser kleiden: einem „Doktor“ stand es zumindest zu, nicht in Lumpen gehen zu müssen, auch einen weißen Kittel musste ich anziehen. Hier ist auch eine dankbare Erinnerung an die Leiterin der Sanitätsstelle – die nicht inhaftierte Feldscherin Lidia Aleksejewna Tschistjakowa – angebracht, die gleichzeitig Ehefrau des Lagerpunkt-Leiters war. Sie war eine gute, einfache russische Frau, die sich den Häftlingen gegenüber mit Respekt verhielt; niemals demütigte sie sie oder verletzte ihre Würde. Und überhaupt muss man sagen, dass sich inmitten der Kälte und Finsternis der Stalinistischen Lager unter den freien Mitarbeitern gutmütige, teilnahmsvolle, entgegenkommende und sehr wohl verstehende Menschen befanden, was in jenen Jahren schon etwas bedeutete. Jetzt, da ich mich von der Höhe der durchlebten Jahre an diese Menschen erinnere, fallen mir ganz unfreiwillig Worte aus dem Evangelium ein: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht umfangen“. (Übrigens war es im Lager nicht erlaubt ein Kreuz auf der Brust zu tragen, nicht einmal aus Holz, und kollektives Beten war erst recht nicht gestattet. Das wurde als Verschwörung und konterrevolutionäre Aktivität gewertet!)

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass der Unterricht in englischer Sprache mit Nikolaj Jakowlewitsch etwa drei-vier Monate lang stattfand; danach kam er nicht mehr, wobei er sich taktisch mit verschiedenen Gründen herauszureden versuchte (mal war es „zum Lernen viel zu heiß“, mal war er mit anderen Dingen zu beschäftigt usw.). Aber für mich war damals klar, dass sich hier der operative Bevollmächtigte eingemischt hatte: wie geht das mit dem Englischlernen? Hat das vielleicht etwas mit Spionage oder Gegenspionage zu tun? Und Spitzel gab es unter den Gefangenen schließlich auch genug). Aber ich war damals schon in der Sanitätsstelle „eingebürgert“ und kein schlechter Assistent. Und so behielt ich dort meinen Arbeitsplatz.

Leiter des Lagerpunktes war Oberleutnant Gredjakin, der Ehemann von L.A. Tschistjakowa. Im Großen und Ganzen war er ein harmloser Mann, aber er stieß ständig üble Flüche aus - es gab keinen einzigen von ihm gesprochenen Satz, der ohne unflätiges Geschimpfe auskam. Aber das war irgendwie nicht böse gemeint, sondern nur „um die Wörter miteinander zu verbinden“. Später wurde Gredjakin von Hauptmann Makejew ersetzt; auch über ihn kann ich nichts Schlechtes sagen. Aber der Zug-Kommandeur – das war eine widerliche Person, der die Gefangenen aus tiefster Seele hasste, besonders die „Ausländer“. An seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber er wurde „Wanka-Wswodnyj“ („Zug-Wanka“) genannt, das heißt sein Vorname war Iwan, - er wurde dann später auch mitten in der Lagerzone von Daniil Maslow „zerlegt“ (mit einem tödlichen Messerstich in die Leber). Um den Zug-Wanka zu charakterisieren, reicht es aus, das folgende Beispiel anzuführen. Er hielt sich in der Zone auf, wo er die Einhaltung der Lager-Ordnung überwachte, wobei er mehrfach während der Essensannahme zu den Gefangenen in die Kantine kam und einen Löffel in die Schüsseln tauchte, aus denen die Häftlinge aßen, und wenn es am Boden der Suppe seiner Meinung nach zu viel Dickflüssiges gab, kommentierte er mit böser Zunge: „Ja, so lässt es sich seine Zeit absitzen“. Solche Sadisten gab es also unter den freien Mitarbeitern und Soldaten.

Man muss anmerken, dass auch die Häftlinge unterschiedlicher Natur waren. Spitzel gab es mehr als genug. Und überhaupt war das ganze System so aufgebaut, dass die Starken auf Kosten der Ausweitung der Schwachen lebten. Die Meister beim Holzeinschlag stammten aus den Reihen solcher Alltagskrimineller. Ich erinnere mich an die abscheuliche Gestalt eines solchen Meisters des Holzfäller-Reviers – Michail Balutkin, zu dessen Verfügung eine Brigade mit Ukrainern stand – bärenstarke Kerle (offenbar „Bandera-Leute“). Der Brigadeleiter hieß Mosgowoj – ein ziemlich stiller und verträglicher Mann (seinen Vornamen weiß ich nicht mehr), aber derjenige, der die Brigade kommandierte, war ausgerechnet Meister Balutkin, nicht der Brigadeleiter, und das ging so weit, dass er sich rücksichtslos die Paketsendungen zunutze machte. welche die Jungs erhielten. Die Burschen arbeiteten tüchtig, schafften bei der Holzbeschaffung Rekord-Volumen, doch um welchen Preis? Und das alles gereichte hauptsächlich Balutkin zum Vorteil, der sich auch nach dem Prinzip „na los, macht schon!“ Autorität zu verschaffen wusste.

In meiner Erinnerung gibt es auch noch Kolja Melnitschuk, ein, wie es schien, schmächtiges Bürschchen, unaufdringlich, rücksichtsvoll und höflich: und wie nur konnte er so arbeiten? Aber es ereilte ihn ein trauriges Los: offenbar erkrankte er an Tuberkulose, was zu guter Letzt mit ihm geschah, weiß ich nicht.

Erneut kam ich in der Erfahrung der durchlebten Jahre zu der Überzeugung, dass Balutkin ein Protegé der operativen Abteilung war, denn er drang in die Seelen der naiven „Politischen“ ein, sie teilten mit ihm offen und ehrlich viele Ansichten, die dann später – dessen bin ich ganz sicher – der operativen Abteilung zugetragen wurden. Zweiter Meister war Boris Maslow – ein eher bescheidener und anständiger Mann. Der technische Leiter hieß Rumjanzew – ein nicht in Lagerhaft befindlicher Mitarbeiter, hochgewachsen und schmächtig, mit einem gallig-groben Verhalten.

Ferner erinnere ich mich noch an Aljoscha Nikolajew, etwa fünf Jahre älter als ich, ein sehr taktvoller und intelligenter Mann, ein belesener und interessanter Gesprächspartner. Aber niedergedrückt durch das System des Lagerlebens, änderte er schließlich, um mit heiler Haut davon zu kommen, sein Lager-„Schauspielfach“ und würde – „Helfershelfer“ (Handlanger) in der Kriminellen-Baracke, wodurch er natürlich auch ein besseres Leben bekam: er wurde stets satt, man holte ihn nicht zu ungelernten Schwerstarbeiten – die Kriminellen besaßen die Möglichkeit, ihre Bediensteten in solcher Weise auszurichten. Ich war mit ihm befreundet: lange führten wir herzliche Gespräche, das Leben im Ausland interessierte ihn sehr, er klärte uns, die Unerfahrenen, darüber auf, wie man im Lager leben musste, und ich habe wirklich die schönsten Erinnerungen an ihn. Wo mag er jetzt sein, der Aljoscha Nikolajew?

Nikolaj Jakowlewitsch Semjonow, mein Dienstherr in der Sanitätsabteilung, wurde kurz vor meiner Verschickung mit einem Häftlingstransport ins Oserlag and einen anderen Lagerpunkt versetzt (offenbar bereitete man ihn schon für seine Freilassung nach Beendigung der Haftzeit vor). An seiner Stelle kam ein anderer Arzt, ebenfalls Gefangener, Doktor Mogilnyj (den Familiennamen weiß ich noch, aber an den Vor- und Vatersnamen kann ich mich nicht mehr erinnern). Er war ebenfalls ein guter Mann, auch unter ihm durfte ich meine Arbeit in der Sanitätsabteilung fortsetzen – bis zur Verschickung ins Oserlag.

In der Sanitätsstelle arbeitete außerdem noch ein guter Arzt namens Tschen Chen-Suk, auch er gehörte zu den Häftlingen. Mit ihm zusammen arbeitete ich später eine Zeit lang auch an dem Lagerpunkt im Oserlag.

Nun ja, und aus der „Hunger-Periode“ des Aufenthalts im Lagerpunkt-2 erinnere ich mich noch, wie die Chinesen unserer Hilfsbrigade, Meister bei den unterschiedlichsten „essbaren Erfindungen“, Klöße aus Melde herstellten, ein wenig Salz hinzufügten, das Ganze kochten – und das Gericht war dann für uns dermaßen „lecker“, dass sogar der Magen bis oben hin vollgestopft war – und das Hungergefühl abstumpfte. Als wir auf den Feldern bei der Rüben-Ernte beschäftigt waren, stopften wir uns ebenfalls damit die Bäuche voll, was uns Darmverstimmungen und Erbrechen einbrachte.

Vielleicht habe ich mich ein wenig zu rührselig oder vorwitzig so detailliert mit meinem Schicksal aufgehalten, aber es war ziemlich typisch, und mögen sich die Leser noch einmal von der Aussage überzeugen, dass sich das Lagerleben in den Tiefen der sibirischen Taiga ganz genau so abspielte, besonders für die „Ausländischen“. Dabei gehörte mein Schicksal noch nicht einmal zu den traurigsten – es hätte viel schlimmer sein können.

Mein Bericht ist, auch wenn er ziemlich umfangreich geworden ist, doch ein wenig schematisch geworden. In Manchem hätte man genauer sein können, aber das ist dann schon wieder ein ganz spezielles Thema.

Nachwort

Es kamen neue Zeiten, aufrichtige Glasnost, die Möglichkeit, derartige Essays zu schreiben und zu drucken. Die Menschen, die diese Schrecken durchlebt hatten, wurde in ihrer absoluten Mehrheit rehabilitiert, viele lebten in menschlicher Weise, arbeiteten in ihren erlernten Berufen oder erlernten einen neuen Beruf. Und dennoch bleibt die bittere Erkenntnis, dass die besten Lebensjahre hinter Stacheldrahtzäunen verliefen, und diese Jahre lassen sich nicht zurückholen. Und noch eine weitere Überlegung möchte man zum Abschluss bringen.

Nach der Freilassung besaßen die Ausländischen noch frische Köpfe – das waren d8iejenigen, denen es gelungen war zu überleben und nicht unterzugehen (aber solche gab es ebenfalls, wenngleich auch nur vereinzelt). Solche Leute hätten aufgrund ihrer beruflichen Fachrichtung sehr nützlich sein können, eines Berufes, den sie im Ausland erlernt hatten. Zu der Zeit konnte ich beispielsweise noch ganz gut die fernöstlichen Sprachen und kannte mich auch noch in der Psychologie, Geschichte, Kultur und dem Alltag der östlichen Völker aus. Nach der Freilassung wandte ich mich an die höchsten Instanzen mit dem Vorschlag, mich in eben diesem Arbeitsbereich einzusetzen. doch ich bekam Absagen aus formellen Gründen: „keine freien Stellen“, „Planstellen alle besetzt“ usw. Aber der wahre Grund war zweifellos: Misstrauen dem gegenüber, der aus dem Ausland kam. Wie viel intellektuelles und geistiges Potential ging unserem Land wegen der Taktiken Stalins und der nachfolgend Regierenden verloren – indem man Menschen „von dort“ kein Vertrauen schenkte, sie „hierher schleppte und dann nicht wieder weg ließ“. Damit nicht genug: die frei gelassenen und sogar rehabilitierten „Ausländischen“ empfanden trotzdem auch einen gewissen Druck von oben, und von Seiten des Volkes bemerkte man gelegentlich eine angespannte Aufmerksamkeit gegenüber den Leuten „von dort“. So wurden die Menschen 70 Jahre lang erzogen, und man darf sie dafür nicht streng verurteilen. Besonders deutlich war das bei Aufstellungen, Verleihungen und Bewilligungen für Vergünstigungen. Was mich betrifft, so war ich später „in Freiheit“ gezwungen, meine Berufsausbildung mit einem Diplom zu legalisieren und ging als Arzt in Rente.

Vielleicht fällt jene Zeitung denen in die Hände, die auf den Wegetappen in die Region Krasnojarsk mit mir zusammentrafen, die mit mir zusammen im Lager waren. Ich würde mich freuen, eine Nachricht von ihnen zu erhalten und zu erfahren, wer sich noch an mich erinnert. Was Nikolaj Jakowlewitsch Semjonow angeht – ihn suche ich schon seit langem, jedoch ohne Erfolg. Laut Bescheinigung der Verwaltung U-235 wurde „Nikolaj Jakowlewitsch Semjonow, geboren 1914, am 25. September 1950 aus dem Strafverbüßungsort entlassen und in die Stadt Kirowograd, Kirowogradsker Gebiet, abgemeldet“. Doch all meine Versuche, ihn unter der angegebenen Adresse ausfindig zu machen, schlugen fehl: man teilte mir mit, dass er in dem Gebiet nicht lebt und nicht bekannt sein, wohin er sich abgemeldet habe oder ob er verstorben sei. Ich wäre den Personen dankbar, in deren Hände diese Zeitung fällt (vielleicht ist ja auch jemand im Nischneingaschsker Bezirk geblieben?), wenn sie alles mitteilen würden, was sie über N.J. Semjonow wissen oder Personen benennen könnten, die eventuell über solche Informationen verfügen.

Zu guter Letzt – ich befasse mich schon lange mit Tourismus, bin viel gereist, habe eine Menge gelesen. Ein Gedanke kam auf: man müsste eine Marschroute „durch die Inseln des Archipel GULAG“ erarbeiten. Und eine solche Wegbeschreibung wird es, davon bin ich überzeugt, mit der Zeit geben. Und darin sollte auch der Nischneingaschsker Bezirk einen entsprechenden Platz einnehmen. Man muss bereits jetzt die Orte der ehemaligen Lagerstellen und Friedhöfe kennzeichnen, auf denen die Häftlinge begraben wurden. Indessen, ist, wie man mir vor vielen Jahren offiziell bestätigte, die Holzrohstoffbasis im Nischneingaschsker Bezirk schon lange erschlossen; die Siedlungen in der Nähe der Lagerpunkte sind nicht mehr erhalten.

Wahrscheinlich existiert im Nischneingaschsekr Bezirk eine Filiale der „Memorial“-Organisation. Ich nehme an, dass gerade sie sich mit der Organisierung eines „Museums unter offenem Himmel“ befassen müsste, damit die nachfolgenden Generationen erfahren, was die Menschen in jenen schrecklichen Jahren der Stalinistischen Willkür durchgemacht haben. Das ist man sowohl den Toten als auch den Lebenden schuldig: möge ein solches „Museum“ im Namen der höchsten Gerechtigkeit, Humanität und Volkstümlichkeit letzten Endes eine Warnung für unser Land und die ganze Welt sein.

I. Passynkow

„Sieg“ (Nischneingaschsker Bezirk, 27. Juli, 1. August, 8. August 1991


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