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«Das ganze Volk sollte durchs Unglück gehen»

SO LAUTEN IN DER ÜBERSETZUNG AUS DEM DEUTSCHEN DIE WORTE EINES LIEDES, DAS AUF DEM WEG NACH SIBIRIEN GESUNGEN WURDE.

Am 28. August 1941 erging das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, in dem die auf dem Territorium der autonomen Wolga-Republik lebenden Deutschen, wahllos beschuldigt wurden, dem Feind geholfen zu haben. Nach diesem Dekret wurden die Deutschen in Bezirke Sibiriens und Kasachstans ausgesiedelt. In diesem Jahr ist es 50 Jahre seit der Verabschiedung des Dekrets her. Das Organisationskomitee zur Vorbereitung des Kongresses der Deutschen der UdSSR wandte sich mit dem Vorschlag an die Sowjet-Deutschen, den 28. August als Tag des Gedenkens an die Opfer der Deportation der Sowjet-Deutschen, als Tag des Gedenkens an die Trudarmisten, zu begehen.

In unserem Bezirk leben etwa 2000 Sowjet-Deutsche, die auf verschiedene Dörfer verstreut sind und keine Möglichkeit besitzen, ein nationales Leben zu führen, denen ihre nationale Kultur und Muttersprache verloren geht. Viele von ihnen halten die sibirische Erde für ihre Heimat und wollen ihren Wohnort nicht wechseln (selbst für den Fall, dass das Territorium der ASSR der Wolga-Deutschen wiederhergestellt würde), aber sie möchten von ihrem Volk den Schmutzfleck abwaschen, der nach diesem Dekret entstanden ist.

Das deutsche Volk hat, wie alle Völker unseres Landes, schwere Jahre voller Hunger durchgemacht. Anfang der 1930er Jahre hatte es im Wolgagebiet mehrere Jahre in Folge keine Ernten gegeben, besonders das Jahr 1933 war ein Hungerjahr gewesen. Wenn die Kolchosbauern von ihren Feldern wenigstens ein paar Ähren hatten sammeln können, so wurde es ihnen im Rahmen der Nahrungsmittelsteuer wieder weggenommen. Erst 1937 hatten sie eine nie dagewesene Ernte, die Kolchosen konnten den Plan erfüllen und das Volk ernähren. Die Menschen hoben ihre Köpfe wieder empor und arbeiteten mit voller Kraft und hier arbeitete jeder, ob groß oder klein. Vor dem Krieg gab es in der Republik einen wirtschaftlichen Aufschwung, sie produzierte alles, was für die Heimat notwendig war.

Die Leute befassten sich hauptsächlich mit Landwirtschaft, verarbeiteten die Produkte. In Betrieb waren Käsefabriken, Obst- und Gemüsebetriebe, Konditoreien, Fleischkombinate, eine Brennerei, das Stalingrader Traktorenwerk, es gab Millionärskolchosen u.a. Die Kultur erblühte: es gab zahlreiche National-Theater, Lehreinrichtungen und Schulen, in denen der Unterricht in der deutschen Muttersprache abgehalten wurde, aber es wurde auch Russisch gelehrt.

Als der Krieg ausbrach, machten sich die Deutschen, ebenso wie die anderen Völker, auf zum Schutz des Vaterlandes (dachten sie jedenfalls). Viele Freiwillige gingen in den ersten Kriegstagen an die Front, kämpften in vorderster Linie. Aber das oben erwähnte Dekret durchkreuzte alles. An diesem Tag begann die nationale Tragödie der Sowjet-Deutschen. Soldaten und Offiziere deutscher Nationalität wurden von den Fronten zurückgeholt. Die gesamte Bevölkerung der Republik wurde unverzüglich ausgesiedelt. Alexander Fjodorowitsch Fritzler erinnert sich:

— Am 5. September legten wir uns friedlich schlafen, und am folgenden Tag holte man die ganze Familie zusammen und befahl die Sachen zu packen. Nur das Allernotwendigste rafften wir zusammen — Lebensmittel, und das, was man sonst noch «mitnehmen konnte, wenn vier-fünf Familien gemeinsam auf einen Leiterwagen verfrachtet wurden, ein paar Esswaren und Sachen; und dann setzten sie die kleinen Kinder obendrauf, die noch nicht allein zu Fuß gehen konnten. Alles, was sich in den Häusern befand, wurde zurückgelassen, auch das Vieh; mach einem gelang es noch rechtzeitig, das Vieh abzugeben, aber das meiste wurde im Stich gelassen. An der Bahnstation wurden wir auf Güterwaggons verladen: in kleinere für 50 Personen und in vierachsige — für 100 Leute oder mehr. Die Züge wurden von Mitarbeitern des NKWD begleitet. Anhand dessen, wie man uns behandelte, begriffen wir, dass wir zu Volksfeinden geworden waren. Aber weswegen? Schließlich waren wir doch, wie alle anderen auch, gegen den Faschismus, aber da wir unverstanden blieben, blieb nichts weiter übrig, als sich dem Schicksal zu ergeben.

Zu den Funktionen des NKWD gehörte es, die Menschen nicht weniger als einmal am Tag mit warmem Essen zu versorgen, aber sie gaben uns alle 2-3 Tage einmal zu essen. Und so ging es ohne warme Mahlzeiten und ohne Trinkwasser — zwanzig Tage und Nächte. Anhand der Bezeichnungen an den Bahnstationen errieten wir die Richtung, in die der Zug fuhr. Als wir durch Nowosibirsk kamen, begriffen alle, dass die Reise uns nach Krasnojarsk führte. Davor hatten alle Angst: erstens, das raue Klima, zweitens, es war Herbst, und alle wussten, dass niemand dort für uns Häuser errichtet hatte. Wir waren auf alles gefasst. Jemand von den betagten Menschen hatte ein wenig Fensterglas von Zuhause mitgenommen: falls man eine Erdhöhle graben musste, damit es wenigstens ein kleines Fensterchen für Tageslicht gab. In Krasnojarsk luden sie uns auf Lastkähne um und brachten uns nach Daursk. An der Anlegestelle erwarteten uns Vertreter der Kolchosen und Sowchosen, die sich Arbeiter aussuchten (allerdings wurden die Gruppen nach Wunsch zusammengestellt) und uns in die verschiedenen Dörfer brachten. Und so geriet unsere Familie nach Malye Syry. Untergebracht wurden wir in der Wohnung von älteren Leuten. Man kann sich vorstellen, wie sie sich in der ersten Zeit uns gegenüber benahmen. Allein das Wort «Deutsche» löste Angst und Schrecken bei den Ortsbewohnern aus, und dann auch noch ausgewiesene und gleichzeitig – Faschisten. Die Kolchose war arm, wir kamen lediglich — einen Laib Brot nd eine Flasche Kerosin.

So wurden sie von Sibirien empfangen. Im Januar 1942 wurden alle erwachsenen deutschen Männer zur Trudarmee geholt. Mit dem nächsten Schub riefen sie dann junge Burschen, junge Mädchen und Frauen ein (von 14 bis 55 Jahren). Bei den Frauen nahmen sie diejenigen, deren Kinder älter als zwei Jahre waren, die Kleinen kamen in Kinderhorte, die Mütter — in die Trudarmee. Sie arbeiteten dort in Schachtanlagen, beim Bau in Workuta, bei der Verlegung von Eisenbahnschienen und beim Bau von Objekten der Rüstungsindustrie. Kaum einer von ihnen blieb unversehrt und überlebte, die alle Kräfte übersteigende Arbeit, Erschöpfung und Misshandlungen rafften sie dahin. Fast jede Familie wurde von einer Tragödie heimgesucht: man verlor den Ehemann, seiner älteren Brüder, und in manchen Familien konnten die Mütter ihre Kinder nicht mehr auffinden, die sie in den schrecklichen Jahren hatten zurücklassen müssen.

Wie sehr das alles der Tragödie des russischen Volkes ähnelt! Nicht wahr? Und ganz gleich, welche Qualen das deutsche Volk in den Kolonien auch auf sich nehmen musste, sie arbeiteten stets unter der Devise: «Alles für die Front, alles für den Sieg». Sie scheuten ihre Kraft, ihre Gesundheit nicht, schufteten 14 — 16 Stunden und den schwierigsten, unmenschlichsten Bedingungen. Für viele schlug dort, beim Holzeischlag, die letzte Stunde. Und begraben wurden sie in riesigen Gräben, die man im Wald ausgehoben hatte; dort häufte man die steif gewordenen Leichen an und ließ sie liegen, weil man sie nicht alle rechtzeitig begraben konnte. Mit den Jahren wurden diese offenen Gruben ausgelöscht, und heute wird man wohl keine Spuren mehr von ihnen finden.

Ein ständiges Gefühl der Angst hat das deutsche Volk lange Jahre gefangen genommen. Deswegen haben die Menschen ihre Nationalität oft geheim gehalten, haben sich vor der Erwähnung ihrer älteren Generationen gefürchtet. Und das aus gutem Grund: die gesamte Bevölkerung deutscher Nationalität befand sich bis zum 30. März 1956 unter Sonderkommandantur. Regelmäßig mussten sie sich dort melden, durften sich nicht ohne Erlaubnis von einem Dorf in ein anderes begeben. In diesem Zusammenhang war es den Deutschen auch verboten den Beruf des Fahrers zu erlernen. Das wurde erst fünf Jahre nach Stalins Tod möglich. Junge Männer wurden lange Zeit nicht in der Armee aufgenommen, jeder junge Mann nahm sich das schwer zu Herzen, als Erinnerung an die durchgemachten Kriegsjahre und das angeheftete Etikett eines «Spions». Doch keiner der Sowjet-Deutschen machte sich daran, für seinen guten Namen zu kämpfen. Sie arbeiteten friedlich auf sibirischem Boden, festigten dauerhaft ihre Wurzeln, gewöhnten sich an die Ortsbewohner, hegten stets die Hoffnung und warteten darauf, dass die Zeit alle an ihren Platz bringen würde und dass das Volk erkennen würde, dass sie keine Helfershelfer der Faschisten waren.

In den letzten Jahren hat der Wind der Veränderungen auch in diesem Volk Hoffnungen geweckt. Es erschienen auch Gesetzesakte: Die Deklaration des Obersten Sowjets der UdSSR vom 14. November 1989 über die Anerkennung der Repressionsakte gegen die Völker, die der gewaltsamen Umsiedlung unterworfen waren, als ungesetzlich und verbrecherisch. Auf Grundlage dieser Erklärung folgte der Beschluss des Krasnojarsker Regions-Exekutivkomitees vom 24.01.90, ¹ 25, demgemäß Vergünstigungen für die deportierten Deutschen der UdSSR festgesetzt wurden. Diese Vergünstigungen wären perfekt gewesen, doch die ältere Generation, die alles Leid und die Entbehrungen der Kriegsjahre am eigenen Leib erfahren hatte, war entweder schon verstorben oder die Menschen befanden sich in Rente, und die Jahre vergehen unaufhaltsam. Niemand machte sich die Vergünstigungen gemäß dieser Anordnung zunutze, obwohl seit seiner Verabschiedung bereits fast zwei Jahre vergangen sind. Wie lange können diese Leute noch warten?

Man versuchte, die Anordnung beim Balachtinsker Bezirks-Exekutivkomitee zu finden, jedoch ohne Ergebnis. Warum sie dort nicht vorliegt, weiß niemand, aber das Regions-Exekutivkomitee bestätigt, dass es dort vorliegen muss.

Im Großen und Ganzen ist das Suchen nach Informationen und Dokumenten — eine der Sehenswürdigkeiten unserer Gesellschaft. Es gab die Kommandantur — heute kann man ihre Dokumente nicht auffinden, aber ohne Bescheinigung, dass sie existierte, hat niemand das Recht, Vergünstigungen zuzuweisen.

Erst kürzlich, am 21. Juni 1991, kam das Dekret des Präsidenten der UdSSR Ì. Gorbatschow «Über die Verleihung der Medaille «Für glänzende Arbeit in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges 1941 — 1945» an Staatsbürger der UdSSR, die seinerzeit in Arbeitskolonnen mobilisiert wurden» heraus. Ein paar Zeilen daraus: «Um die historische Gerechtigkeit wiederherzustellen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Bürger der UdSSR aus den Reihen der Deutschen und anderer Völker, die einer illegalen gewaltsamen Umsiedlung ausgesetzt waren und während des Großen Vaterländischen Krieges in den Jahren 1941 — 1945 in Arbeitskolonnen mobilisiert wurden, durch glänzende Arbeitsleistungen einen Beitrag zur Erringung des Sieges im Krieg leisteten» usw.

Dieses Dekret hat das Schicksalhafte durchgestrichen, durch das das ganze Volk viele Jahre zu Qualen verurteilt war. So etwas darf sich nicht wiederholen, und wir sollten die Lehrstunden der Geschichte unseres Lebens sehr gut kennen. Und wenngleich heute Dokumente ausgegeben werden, die das Volk rehabilitieren, so haben die Menschen trotzdem bislang weder Auszeichnungen noch Vergünstigungen erreicht – alles steht lediglich auf dem Papier geschrieben.

Es ist kein Zufall, dass viele verzweifelte Bürger deutscher Nationalität die heimischen Orte verlassen und in die BRD ausreisen, weil sie die Hoffnung auf eine praktische Umsetzung des Beabsichtigten verloren haben: die Wiederherstellung der Staatlichkeit der Sowjet-Deutschen und der nationalen Bezirke an den Orten, wo sie einst kompakt lebten, die Wiederherstellung ihrer nationalen Kultur und Sprache, die reale rechtliche Gleichstellung mit den anderen Völkern des Landes.

T. FJODOROWA

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 31. August 1991
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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