Heute, nach den Ereignissen im Weißen Haus Russlands vom 19.- 21. August, erinnert sich die Zeit selbst auch an jene Helden, die, während sie einander bei den Händen hielten, unter den Salven der Maschinenpistolen in Norilsk, unter den Raupenketten „unserer Glorreichen“ T4-Panzer in Kengir ums Leben kamen, an jene, die für unser aller Freiheit schon zu der Zeit kämpften, als sich diese noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung befand. Wie Jelena Georgiewna Bonner auf den Beerdigungen von Wolodja, Dmitrij und Ilja sagte, sollten auch die Helden der Lageraufstände der 1950er Jahre Ehrenbürge Russlands sein! Norilsk, Workuta, Kengir – alle Wurzeln dessen, was in ihnen geschah. Dieselben Ketten unbewaffneter Menschen, dasselbe Blut an den Raupenketten der Panzer. Später waren da Nowotscherkassk und Temirtau, wo der Streik der Komsomolzen, die auf dem Bau die Gefangenen ersetzten, von Wachen des Karlag mit ihrer reichen Erfahrung an ähnlichen Situationen niedergeschossen wurde. Tbilissi, Baku, Wilnius, Riga und erneut Winius – dieselbe Taktik des Wegätzens von Völkern; dorthin werfen sie unser Leute, zu uns schicken sie Menschen aus Mittel-Asien. Aber als ich beim Weißen Haus in einer Kette mit einem ukrainischen Trupp unter dem gelb-blauen Banner stand, erinnerte ich mich an die ukrainischen Helden, die damals an der Spitze des Widerstands in den Lagern standen, an die nationale Bruderschaft, die während des Aufstands in den stalinistischen Lagern entstand.
Und als letztes. Nachdem er erfahren hatte, dass in Moskau Blut vergossen wurde, rief Grigorij Sergejewitsch Klimowitsch die Arbeiter seiner Fabrik „Stromawtolinia“ in Gomel am 21. August um 9 Uhr morgens dazu auf, die Arbeit einzustellen und sich nach draußen zu begeben. Die Fabrikleitung sperrte ihn von der Arbeit aus und schickte ihn nach Hause, aber bereits um 5 Uhr abends kamen sie zu ihm, um sich zu entschuldigen: „Du hattest recht“. Ja, genauso wie im fernen Jahr 1953. Es gibt Menschen, die ihren Überzeugungen lebenslänglich treu ergeben sind, aber es gibt auch andere, für die auch nur ein paar Stunden ausreichen.
Es ist wohl gesetzmäßig, dass sich die Leute früher am ehesten geradebogen und eine aufrechte Haltung angenommen haben, wo die Last am schwersten war. 1953 und 1954 wurde das System der Sonderlager – im Wesentlichen der Zwangsarbeiter- und politischen stalinistischen Lager – von drei großen Aufständen erschüttert – in Norilsk, Workuta und Kengir (heute die Stadt Dsheskasgan). Es ist kein Zufall, dass A.I. Solschenizyn DIESEN Ereignissen im „Archipel GULAG“ besondere Aufmerksamkeit widmet. Aber während der Schriftsteller den „großen Aufstand im Gorlag (Norilsk)“ erwähnt, beklagt er, dass es „heute dazu ein gesondertes Kapitel geben würde, zumindest ein wenig Material. Aber es gibt keins“.
In den letzten Jahren wurde der Aufstand in Kengir mehrfach in der vaterländischen Presse behandelt, und auch zum Workutinsker Aufstand tauchten Mitteilungen von Augenzeugen und aktiven Teilnehmern der Ereignisse auf (B.I. Kudrjawzew „Streng geheim“ B° 11, 1990). Doch dem allerersten, dem mit dem größten Massencharakter, dem, der am längsten dauerte und wahrscheinlich dem, der bei seiner Niederschlagung am blutigsten ausging – dem Norilsker Aufstand – ist keine einzige Zeile gewidmet worden. Wenn man die Artikel des lettischen Historikers Aiwars Bembels in der Rigaer Zeitung „Ganz und gar offen“ nicht mit berücksichtigt. Die Veröffentlichung dieses Artikels ist reich an Ungenauigkeiten und groben Verzerrungen; er motivierte einen der Organisatoren des Norilsker Aufstands Grigorij Stepanowitsch Klimowitsch (die Leser kennen ihn durch die in der „Unabhängigen Zeitung“, in der Rubrik „Neue Welt“, veröffentlichten Briefe) nach einer Möglichkeit zu suchen, einen kurzen Abriss des Kapitels aus seinen Erinnerungen – „Das Ende des Gorlag“ zu veröffentlichen, für die er schon seit mehreren Jahren keinen Verlag findet.
Um der Gerechtigkeit willen muss man sagen, dass es bis zu dem Zeitpunkt Publikationen über den Norilsker Aufstand im Westen gab. Vom ukrainischen Verlag „Smoposkip“ wurden die Erinnerungen eines Gefangenen der 4. Abteilung des Gorlag Jewgenij Grizjak, „Kurzer Abriss der Erinnerung“) veröffentlicht. Und in Toronto kamen die Memoiren von Daniel Schumuk unter dem Titel „Hinterm östlichen Horizont“ über den Aufstand in der 3. Strafabteilung des Gorlag heraus. Man muss aber anmerken, dass Schumuks Erinnerungen von vielen Augenzeugen der Ereignisse äußerst kritisch bewertet werden.
Nikolaj Formosow, Mitglied der Gesellschaft „Memorial“
Alles begann um 6 Uhr abends m 25. März 1953. In der 5. Abteilung des Gorlag, auf dem kleinen Wall vor der Baracke saßen die Lagerinsassen, und während sie mit ihren Blicken den von der Arbeit zurückkehrenden Frauen folgten, Sangen sie zur Begleitung eines Akkordeons das ukrainische Volkslied: „ßê íà, ÿê íà ropi òàé æåíöi æíóòü“. Für den Chef der Begleitwache war das Verhalten dieser Lagerhäftlinge ein Alarmsignal, und er gab eine gezielte Salve aus seiner Maschinenpistole auf sie ab. Vier Männer wurden direkt in der Lagerzone an Ort und Stelle getötet.
Dieser Mord stellte den letzten Tropfen auf den heißen Stein dar, der das Maß der Geduld der Gefangenen zum Überlaufen brachte. Doch obwohl er auch als Anlass für den Aufstand diente, war er dennoch nicht ausschlaggebender Grund. Der eigentliche Grund lag vielmehr in dem Sonder-Regime, in der besonderen Haftordnung des Gorlag – vom abendlichen Zapfenstreich bis zum morgendlichen Weckruf hielt man uns in verschlossenen Baracken und setzte uns zu den schwersten körperlichen Arbeiten ein. Wir konnten für unsere paar verdienten Groschen noch nicht einmal ein Stück Brot kaufen, durften nicht mehr als ein Paket oder einen einzigen Brief im Jahr erhalten. Besonders unerträglich wurde das Regime 1951 und in der ersten Hälfte des Jahres 1952, als der Leiter des Gorlag, General Smjonow, und der Chef der Nprilsker MGB-Behörde, Oberst Schelwakow, die Gorlag-Abteilungen in die Hände von Schweinehungen übergaben – ehemaligen Gestapo-Straftrupps und Polizei-Angehörigen. Sie wurden Arbeitsanweiser, Kommandanten, Helfer im Alltag. Nun besaßen sie die volle Möglichkeit, entsprechend ihrer sadistischen Neigungen jegliche Art von Willkür zu schaffen. Sie kannten keine Zurückhaltung in ihrem Bemühen, das Vertrauen ihrer neuen Chefs zu rechtfertigen! Der Funke der Empörung glomm und schwelte in der Seele eines jeden Lagerinsassen. Ein kleiner Windzug würde ausreichen, um eine Flamme auflodern zu lassen. Das geschah im Sommer 1952.
Im Gorlag wurde eine sogenannte „Etappe aus Karaganda“ abgeliefert – tausend Gefangene, hauptsächlich aus dem Steplag (Kengir, Tschurbai-Nura). Unter ihnen genossen diejenigen eine unstrittige Autorität, die besonders aufsässig und renitent in Erscheinung getreten waren und ihre Rechte als Gefangene behaupteten. Unter ihnen – der Held der Sowjetunion Iwan Borobjew, der regionale Leiter der Organisation ukrainischer Nationalisten German Stepanjuk, der Oberst der Sowjet-Armee Pawel Filnjew, Professor Luka Pawlischin, Ingenieur Semjon Bomschtein, die Ärzte Michail Moruschko, Iwan Stoljar, die Lehrer Wladimir Russinow, Wassilij Nikolischin, Wjatscheslaw Nagulo, die Studenten Jewgenij Goroschko aus Lwow, Wladimir Trofimow aus Tscheljabinsk, Leonid Bykowskij aus Woronesch und so aktive Lager-Häftlinge wie Jewgenij Grizjak, Gennadij Schur, Igor Petroschtschuk, Iwan Strigin, Wassilij Korbut, Grigorij Salnikow, Wenjamin Duschinskij und andere. Sie alle waren Initiatoren des Widerstands gegen das Haftregime, gegen die Lagerordnung des Steplags gewesen und traten auch im Gorlag als solche in Erscheinung. Während der Etappe hatten sie sich zu einer einheitlichen Gruppe zusammengeschlossen. Im Gorlag wurden sie auf unterschiedliche Art und Weise empfangen. Das Polizei- und Lumpengesindel war wachsam, und ihre Opfer schöpften Hoffnung. Aber es gab auch solche, die sich den Neuankömmlingen sofort anschlossen, wie beispielsweise Iwan Kljatschenko (Sekretär des ZK des Komsomol der Ukraine), Wladimir Donitsch (Sekretär des Rostower Gebietskomitees), Professor Gleb Sachnowskij, Hauptmann Lew Priwalenko, der Wirtschftswissenschaftler aus Saratow – Wladimir Nedorostkow, der Jurist Kowalenko und der Lehrer aus Dnjepropetrowsk – Wassilij Lubinjez. Noch vor dem Eintreffen der Gefangenen-Etappe aus Karaganda war ich ein besonderer Feind des Regimes und wurde drei Jahre in verschlossenen, ausweglosen Isolatoren gehalten. Natürlich stellte ich mich mit meinen Kameraden – Pjotr Dikarew, Fjodor Smirnow, Boris Fedossejew, Pawel Frenkel, Wjatscheslaw Schilenko, Kossimow, Witas Petruschaitis und anderen auf die Seite der Karagandinsker.
Von nun an machten alle aktiven Lagerhäftlinge – sowohl die Alteingesessenen des Gorlag, als auch die neuen Etappen-Ankömmlinge – eine Art Führungszentrum im Kampf gegen die Willkür aus und handelten künftig gemeinsam. Es kam zu einem Konflikt mit dem Lager-Mob, und sie fochten das Schicksal nicht an und verließen das Lager aus Furcht vor der unausweichlichen Vergeltung. Zur Besetzung der freien Ämter wurden Lagerinsassen ernannt, die von diesem Zentrum empfohlen worden waren. Es gelang sogar, die Mehrheit der Brigadeleiter auszuwechseln. Die Arbeiter wurden nun nicht länger misshandelt, verspottet und geprügelt. Die Häftlinge in den Lagerzonen fassten wieder Mut und trauten sich etwas.
Nach dem Tod des großen Führers – am 5. März 1953 – keimte die Hoffnung auf, dass man die Unschuldigen freilassen und die Haftstrafe bei den Übrigen in Verbannung umwandeln würde. Wir glaubten und warteten, dass sich die hohen Instanzen demnächst an die Überprüfung der Akten machen würden. Doch die Instanzen hüllten sich in Schweigen, und die Norilsker MGB-Behörde und General Semjonow gingen nun bis zum Äußersten, als ob sie sich für die Vertreibung des Lager-Abschaums rächen wollten…
Die ersten Erschießungen ertönten Mitte April in der 1. Lagerabteilung, in Medwjeschka.
Opfer waren fünf unserer Kameradinnen – die ersten Fünf in der Kolonne, die zum Arbeitsausgang angetreten war. Erschossen wurden sie von einem Begleitsoldaten, weil der angeblich Gerede in dem aufgestellten Trupp vernommen haben wollte. Und General Semjonow beurteilte das Vorgehen der Begleitwache anerkennend und gewährte ihm dafür einen ganzen Monat Urlaub. Den nächsten, den er mit einem solchen Urlaub ermunterte, war der Wachleiter der 6., der Frauen-Abteilung. Er erschoss den Brigadeführer der 4. Abteilung Aleksej Boltuschkin, dem er selber zuvor erlaubt hatte, sich der verbotenen Zone zu nähern, um ein wenig mit seiner Tante zu reden. Ihrem Beispiel folgte auch der Wachposten auf dem Turm der Gorstroj-Absperrung., der genau am Vorabend des 1. Mai – zur internationalen Solidarität der Werktätigen, einen Arbeiter erschoss, der gerade dabei war, Bauholz im Revier zu zerlegen – den Vorarbeiter Semjon Bomschtein. Der Chef des Wachtrupps der Kolonne, die von der Arbeit in die 4. Abteilung zurückkehrte, hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Er hielt den Häftling an, zerrte aus der Kolonne drei Mann heraus, unter ihnen auch den alten Lagerinsassen Dmitrij Lebedjew und gab sofort, vor aller Augen, eine Salve aus der Maschinenpistole ab, mit der er alle drei auf dem noch nicht weggeschmolzenen Schnee niederstreckte. Und eine Woche später, am 11. Mai, wurden sieben Lagerhäftlinge der 3. Abteilung die nächsten Opfer des blutigen Hexensabbats. Man erschoss sie während des Morgenappells, beim Verlassen der Zone.
Und zu guter Letzt – der 25. Mai. Offensichtlich träumte der Leiter der 5. Lagerabteilung auch von Urlaub, erinnerte sich an seine Mutter. Doch diesmal entwickelten sich die Geschehnisse ganz anders. Die Häftlinge der 5. Lagerabteilung erwiesen sich als viel geeinter und besser auf den Widerstand vorbereitet, als in den anderen Lagerabteilungen. An ihrer Spitze standen Professor Pawlischin, Oberst Pawel Filnjew, Hauptmann Iwan Worobjew, Ingenieur Semjon Bomschtein, Michail Moruschko, Jewegenij Goroschko, Pjotr Dikarjew und Boris Fedossejew.
Die Gewehrsalve brachte sämtliche Lagerhäftlinge auf die Beine. Ein Schrei, ausgestoßen von dreieinhalb tausend Mann, erfüllte die Tundra. Das hörten die in der Umzäunung des Gorstroi befindlichen Arbeiter Taras Suprunjuk und Anatolij Gussew, die sogleich zum Kesselhaus rannten und dem Maschinisten befahlen, einen langen, stoßweise unterbrochenen Sirenenton ertönen zu lassen. Und obwohl die Gefangenen – die Bauarbeiter der Stadt – noch nicht wussten, was all das bedeutete, fühlten sie in ihren Herzen, dass in der 5. Lagerabteølng etwas Schreckliches vor sich ging. Und als die Sirene erklang, fand sich in jeder Brigade einer, der aufstand und das Kommando gab: „Arbeit einstellen! Es reicht! Wir haben uns die Finger wund gearbeitet!“ Das Geschrei der eineinhalb tausend Arbeiter des Gorstroi vereinte sich mit den Stimmen der Lagerinsassen der 5. Lagerabteilung. Fast gleichzeitig schrien mit uns die fünftausend Frauen der 6. Lagerstelle. Und im Nu ruhten sämtliche Bauaktivitäten. So begann der Norilsker Aufstand. Er setzte praktisch als spontaner Protest gegen die Erschießungen ein, und in den ersten Stunden des Aufstands wussten die Häftlinge noch nicht, wie sie sich im weiteren Verlauf der Dinge verhalten sollten und was sie damit erreichen würden. Aber es war die Verlängerung jenes Kampfes, den wir seit dem Tag der Ankunft der „karagandinsker Häftlingsetappe“ geführt hatten. Bereits in der Nacht vom 25. auf den 26. Mai wurden in der 5. und 6. Abteilung sowie in der Absperrung des Gorstroi Streikkomitees geschaffen und in den in diesen Lagerzonen abgehaltenen Zusammenkünften der Beschluss gefasst – die Anreise einer bevollmächtigten Kommission aus Moskau zu verlangen und sich den örtlichen Behörden bis zum Eintreffen einer solchen Kommission nicht zu fügen und mit Stellvertretenden dieser Machtorgane keinerlei Verhandlungen zu führen.
Von jetzt an weigerten wir uns nicht mehr spontan, sondern nach reiflicher Überlegung die Gesetzesmacht anzuerkennen, die so viel Willkür über uns walten ließ. Und als am Morgen des 26. Mai General Semjonow, der Direktor des Norilsker Kombinats, Oberst Swerjew, und der Chef der Norilsker MGB-Behörde, Oberst Schelwakow, zu Gesprächen bei ins eintrafen, händigten wir ihnen unsere Forderungen aus, weigerten uns jedoch grundsätzlich mit ihnen zu sprechen. Nach ihrem Fortgang wurden über der Absperrung des Gorstroi, der 5. und 6. Lagerabteilung schwarze Flaggen gehisst, die darüber Kenntnis gaben, dass die Machtorgane in den vorliegenden Territorien nicht anerkannt wurden. Ein wenig später wehte eine ebensolche Fahne auch über der 4. Lagerabteilung, wo die Häftlinge an jenem Tag, dem 26. Mai, den am Vorabend erschossenen Pjotr Klimtschuk zu Grabe trugen. Auch in der 5. Lagerabteilung verabschiedete man sich von den Kameraden. Stoßweise ertönten die Sirenen: mit schmerzhaft zusammengebissenen Zähnen standen die Lagerinsassen schweigend da: einige weinten, und jeder von uns schwor in diesen Minuten, auch angesichts des Todes bis zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit standhaft zu bleiben.
Vergeblich appellierte General Semjonow über das Radio an unsere Einsicht, bewarf die Lager mit Flugblättern mit Aufrufen, den „Banditen und Abenteurern“ kein Gehör zu schenken. Vergeblich stellte er wegen der Unruhen Wach-Divisionen auf und drohte damit, bei weiterer Aufsässigkeit und Gehorsamsverweigerung Waffengewalt gegen uns anzuwenden. Diese seine Handlungen weckten in uns jedoch nur noch mehr Widerstand. Er versuchte uns mit Waffen und Soldaten zu verängstigen – wir suchten Hilfe bei den freien Arbeitern, befestigten am Turm-Kran die zehn Meter lange Losung: „Bürger von Norilsk! Meldet dem ZK und der Organisation der Vereinten Nationen: sie lassen uns aushungern und bringen uns um. Wir fordern eine Moskauer Kommission!“, ließen in vier Kilometer Entfernung eine Papierschlange mit 80 Flugblättern herab, in denen wir den Einwohnern von Norilsk und den Häftlingen der entfernten Lager mitteilten, wer wir waren, weshalb wir den Aufstand erprobten, was wir erreichen wollten; wir berichteten auch über die uns drohende Gefahr und riefen dazu auf, unsere Forderungen zu unterstützen und sich dem Aufstand anzuschließen. Und sie verstanden uns. Am 27. Mai wurden schwarze Flaggen über er 1. und 3. Lagerabteilung des Gorlag und der 9. Abteilung des Norillag gehisst. Es erhoben sich das Norilsker Kombinat und Objekte wie die Aufbereitungsanlage, das große Metallhüttenwerk und die Nickelfabrik N° 1, wo vorwiegend Gefangene arbeiteten. Das war schon eine Herausforderung nicht nur für die örtlichen Behörden.
Am 28. Mai kamen der stellvertretende Minister, General-Leutnant Panjukow, sowie der Oberst des MGB Kusnezow nasch Norilsk geflogen, ein wenig später auch General Goglidse – Berijas rechte Hand. Aber wir sprachen mit diesen hochgestellten Personen nicht. Und wie wutschnaubend Goglidse auch dastand und mit welchen Strafen er uns auch drohte – wir blieben unbeugsam. Und als Antwort auf seine Drohungen schufen wir Selbstverteidigungstruppen für die Bewachung und zum Schutz der Lagerzonen vor der Lager-Verwaltung. Künftig durfte ohne Erlaubnis des Komitees und ohne Begleitung von Lagerinsassen aus der Selbstschutzgruppe weder der General, noch der Aufseher die Lagerzone betreten. Jetzt war die einzige Chance der Administration uns zu isolieren und zur Aufgabe zu zwingen der Einsatz von Spitzeln. An sie wandten sich die Generäle, in dem sie im Radi sprachen und dazu aufriefen, nicht auf die „Flüche der Banditen und Provokateure“ Pawlischin und Filnjew (5. Lagerabteilung), Grizjak UND Nedorostkow (4. Lagerabteilung), Kljatschenko und mich (Abteilung Gorstroi), Frenkel und Kossimow (1. Lagerabteilung), Lina Petroschtschuk und Maria Nagornaja (6. Abteilung), Danil Schtschumuk (3. Abteilung) zu hören. Aber die Spitzel zählten nicht gerade zu den beherztesten Zehn und hatten Angst etwas zu riskieren. Allerdings war klar, dass die Angst sie zu jeder beliebigen Gemeinheit herablassen konnte. Und so beschlossen wir sie unschädlich zu machen. Dazu wurden in der 5., 4. und 1. Lager-Abteilung Sonder-Kommissionen geschaffen und die Selbstschutz- Gruppen traten die Türen zu den Arbeitszimmern der Bevollmächtigten des MGB ein und brachen die Tresore auf. Sie bekamen wir, neben anderen geheimen Dokumenten, eine Liste mit den Spitzeln und Denunzianten in die Hände.
Zu unserer Verwunderung erwies sich die Zahl der Spitzel um ein Vielfaches größer, als wir vermutet hatten. Jeder fünfte Lagerinsasse war ein Spitzel, und einige, die uns in die Hände gerieten, dienten, nach ihren Denunziationen zu urteilen, dem MGB gewissenhaft und leisteten ganze Arbeit. Doch nicht einmal an ihnen übten wir Selbstjustiz – wir rührten keinen einzigen von ihnen an. Wir zogen es vor, sie ihre eigenen handgeschriebenen Geständnisse zu Papier bringen zu lassen, die wir später der Moskauer Kommission als dokumentarisches Zeugnis der im Gorlag geschehenen Willkür überreichten. Danach blieb den MGB-Mitarbeitern keine andere Wahl, als entsprechend unseren Forderungen eine Moskauer Kommission nach Norilsk einzuladen.
Am 6. Juni erschien eine solche Kommission im Gorlag. Zu ihr gehörte der Leiter der Gefängnisverwaltung des MGB – Oberst Kusnezow (Vorsitzender), der Kommandeur der MWD-Truppen – General-Leutnant Sirotkin, die MGB-Oberste Kisseljew und Michailow und der erst am nächsten Tag mit dem Flugzeug eintreffende stellvertretende Generalstaatsanwalt – General-Oberst Wawilow. Nachdem er ins Gorlag gekommen war, verkündete Kusnezow, dass die Kommission von Lawrentij Pawlowitsch Berija höchstpersönlich entsandt worden sei, weil er wohl eure selbstaufopfernde Mühe beim Aufbau des Industriegiganten im Polargebiet sehr hoch einschätzt; daher hat er der Kommission auch befohlen, vor Ort alles zu klären und die Haftordnung zu erleichtern. Und in Erfüllung der Anweisung Berijas ordnete die Kommission an, die persönlichen Häftlingsnummern zu entfernen, ebenso die Gitter vor den Fenstern zu nehmen und uns vom Schlafengehen bis zum Weckruf nicht in den Baracken einzusperren, unsere Arbeit nach dem gleichen Lohntarif zu bezahlen, wie er auch für die nicht inhaftierten Arbeiter gültig ist, den Verkaufskiosk und Bücher aus der Stadt-Bibliothek nutzen zu dürfen; außerdem wurde ein uneingeschränkter Briefwechsel und der Erhalt von Paketen gestattet. Allerdings riefen die von der Kommission versprochenen Lockerungen keinerlei Begeisterung aus. Wir hatten viel mehr Forderungen gestellt. Es begannen quälende Verhandlungen. Wir sagten hü und sie sagten hott.
Wir verlangten die Überprüfung unserer Fälle, verkündeten beispielsweise, dass der beste Beweis für eine Friedenspolitik die vollständige Rehabilitierung aller Kriegsopfer wäre (übrigens wurde diese unsere Forderung auch bis heute nicht erfüllt). Wir verlangten, alle Andersdenkenden freizulassen – und auch jene, die ausschließlich wegen ihrer sozialen Herkunft verurteilt worden waren (Großbauern, Adelige u.a.), alle, die vor 1939 keinen Sowjet-Bürger gewesen waren, und auch alle, die nicht wegen krimineller Vergehen, sondern wegen der bloßen Absicht verurteilt worden waren. Insgesamt gab es 18 solcher Forderungen. Die Kommission war nicht bereit, auch nur über eine dieser Forderungen vor Ort eine Entscheidung zu treffen, sie kündigte allerdings an, dass all diese Postulate zur Beschlussfindung von ihr an die General- und Militärstaatsanwaltschaft geschickt werden würden, von wo wir binnen eines Monats auch Antwort erhalten sollten. Dabei riefen Kusnezow und Wawilow uns auf, der Kommission zu vertrauen und die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie dagegen würden unter Berücksichtigung unserer Einsicht und Vernunft allen Teilnehmern an dem Aufstand Sicherheit garantieren, unter anderem auch den Mitgliedern der Komitees; außerdem versicherten sie, dass bis zum Erhalt einer Antwort von der Staatsanwaltschaft kein einziger Häftling aus dem Gorlag mit einer Etappe in ein anderes Lager geschickt werden sollte. Ihre Appelle schienen aufrichtig zu sein, und wir schenkten ihnen Glauben. Am 12. Juni nahmen die Lagerabteilungen 4, 5 und 6 die Arbeit auf. Doch bereits am 24. Juni wurden 700 Insassen des Lagers N° 5 auf Etappe gerufen. Und als diese sich weigerten die Zone zu verlassen, da befahl derselbe Kusnezow, entgegen seinen erst kürzlich gegebenen Zusicherungen, Waffengewalt anzuwenden, und in seiner Anwesenheit wurden zwei unserer Kameraden getötet. Als Antwort darauf wurde in der 5. Lagerabteilung erneut die schwarze Flagge gehisst, nun allerdings mit einem roten Streifen über die ganze Länge. Das bedeutete, dass im Lager Blut vergossen worden war, und ebensolche schwarzen Fahnen mit rotem Streifen wurden schon bald darauf auch in allen anderen Abteilungen des Gorlag sowie der Absperrung des Gorstroi aufgesteckt. Und wieder tauchte unserer Papierschlange am Himmel über Norilsk auf – und am Turm-Kran die Losung: „Bürger von N9orilsk! Die Moskauer Kommission hat uns betrogen. Auf ihren Befehl töten sie uns und stecken uns in Isolierzellen. Informiert das ZK und die internationalen Organisationen“. Jetzt verlangten wir nicht nur irgendeine Kommission, sondern – eine Kommission des ZK.
Und da beschlossen Kusnezow und die Mitglieder der Kommission, nachdem sie die Maske der Friedensstifter abgeworfen hatten, bis zum Äußersten zu gehen. Am 1. Juli erschien eine vollständige Kommission an der Wache der 5. Lagerabteilung. Und Kusnezow verlangte von den Lagerhäftlingen, dass sie die Flagge einholen sollten. Sie selber sollten Aufstellung nehmen und das Lagergelände verlassen. Indem er sie zur Aufgabe aufrief meinte er: „… Aus dem Ganzen hat sich inzwischen eine konterrevolutionäre Meuterei entwickelt; die Aufsässigen haben aus ihren Reihen Machtorgane und ein Gericht gewählt und gesetzeswidrige Formierungen gebildet. Die Kommission hat nicht die Absicht, diesen konterrevolutionären Abstecher länger zu dulden; für den Fall, dass ihr euch den Forderungen der Kommission nicht fügt, wird den Begleitwachen der Befehl erteilt, Waffengewalt anzuwenden“. Eng zusammengedrängt standen die Gefangenen in einiger Entfernung von den Toren und schwiegen. Sie hatten keine Wahl. Zwischen dem Tod und den Quälereien , die man anschließend für sie als Strafmaßnahmen vorgesehen hatte, gab es keinen großen Unterschied.
„Überlegt es euch! – rief General Wawilow uns zu. – Eure Drahtzieher haben auch gegen die Sowjetmacht gestoßen! Gebt den Widerstand der Banditen und Abenteurer auf und lauft auf die Seite der Wachsoldaten über!“ Doch keiner der Lagerinsassen setzte sich in Bewegung. Zehn Minuten verrannen, zwanzig, und die Gefangenen standen da wie angewurzelt. Und dann befahl Kusnezow die Rebellion niederzuwerfen. Dem Befehl gehorchend, traten die Soldaten in Reih und Glied zusammen und marschierten in die Zone. Die Häftlinge nahmen ebenfalls Aufstellung. Die Menge öffnete sich ein wenig in die Breite, die Lagerinsassen fassten sich bei den Händen, und jemand aus ihren Reihen rief: „Na los, Söhnchen, worauf wartet ihr noch – schießt schon!“ Und die Söhnchen ließen sich nicht einschüchtern, schossen eine Salve aus ihren Automatikwaffen ab und gleich darauf eine zweite… eine dritte… Dutzende Getötete stürzten den Beinen der noch Lebenden zu Füßen; die Verwundeten stöhnten. Die Erde verfärbte sich vom Blut. Wir einen kurzen Augenblick erstarrten die Menschen, erlangten jedoch sofort ihre Fassung wieder zurück, und nicht Angst, sondern Hass gegenüber den Henkern ergriff die Seelen der unversehrt Gebliebenen. Sie machten keine Anstalten davonzulaufen, sondern die Lebenden stellten sich an der Stelle der Erschossenen auf, und wieder trat eine dichte, geschlossene Wand von Gefangenen den Soldaten entgegen. Über der Lagerzone hing eine besorgniserregende Stille. Ebenso still war es in sämtlichen anderen Norilsker Lagern. Die durch die Schüsse beunruhigten Gefangenen der anderen Lager waren aus den Baracken herausgelaufen und schauten in die Richtung, aus der die Schüsse herübergeklungen waren. Und plötzlich hörte man erneut Schuss-Salven – nun schon ohne Unterbrechung, und bald darauf gesellten sich zu ihnen bassartiges Gewehrfeuer und das verzweifelte Kreischen von Frauen. Nun zweifelt niemand, in keinem der Lager, mehr daran, dass man die Männer der 5. und die Frauen der 6. Lagerabteilung erschoss, und sogleich heulten diskontinuierlich die Sirenen sämtlicher Kompressoren-Anlagen und Kesselhäuser auf, die sich in den Wohnzonen befanden; Menschen begannen zu schreien – zehntausende Lagerinsassen in allen Zonen des Gorlag und Norillag. Die Menschen stürzten voller Verzweiflung in die verbotene Zone, aber die Tschekisten waren aufgrund der drastischen Äußerung des großen Führers hart wie Stein – sie schossen einfach weiter. Sie hörten damit erst auf, als die Flaggen von den Baracken-Dächern heruntergerissen wurden. Die am Leben gebliebenen Lagerinsassen ergaben sich dem Lumpenpack, das einst aus dem Lager fortgerannt war, um sich gehörig verprügeln zu lassen.
Ungefähr tausend Mann wurden getötet, doppelt so viele verletzt- das war die Bilanz der Niederwerfung des meuternden Gorlag. Kusnezow und die Mitglieder der Kommission hatten offenbar darauf spekuliert, die Gefangenen der anderen Lager zu erschrecken und zu verängstigen. Aber es war nicht möglich uns einzuschüchtern. Wir hatten nichts zu verlieren. Am 2. Juli befahl Kusnezow erneut, von den Waffen Gebrauch zu machen – gegen die Gefangenen der 4. Lagerabteilung. Das waren tragische Tage in Norilsk. Und sie setzten sich bis zum 13. September 1953 fort. An diesem Tag wurde der Aufstand in der 3. Lagerabteilung des Gorlag niedergeworfen. Doch der Geist der Häftlinge war ungebrochen, und das MGB war gezwungen, einigen Forderungen der Gefangenen nachzugeben: im Oktober wurde das Gorlag aufgelöst. Alle ehemaligen Gefangenen wurden bis zur Überprüfung ihrer Akten zu Verbannten.
Leider wird auf den Zeitungsseiten über jene Tage nichts berichtet. Es wäre schön, wenn sich ein Verlag fände, der bereit wäre meine Erinnerungen zu veröffentlichen. Die Menschen sollen diese schreckliche, aber heroische Seite der Geschichte des GULAG kennenlernen. Außerdem ist das nicht für die Toten notwendig – sondern für die Lebenden, denn auch heute noch ertönen mancherorts Schüsse und sterben Menschen.
„Unabhängige Zeitung“, 11.09.1991