Vor einigen Jahrzehnten waren viele Ortschaften des Rayons Verbannungsorte von sogenannten „Volksfeinden“. Einige von ihnen kehrten in ihre Heimatorte zurück, andere sind schon längst nicht mehr am Leben. Aber zum Glück weilen unter uns immer noch Menschen, die uns erzählen können, wie alles war, was genau mit ihnen geschah, auf welche Weise sie zu diesen „Volksfeinden“ wurden und wie sich später, nach Ablauf vieler Jahre herausstellte, daß ein grober Fehler, ein großer Irrtum begangen worden war.
Eine dieser Ortschaften ist die Siedlung Borsk. Hier leben nicht wenige Zeitzeugen jener Jahre.
Vor 43 Jahren entstand aus zwei Verbannten eine neue Familie – Anna Semenowna Fedoristowaja und Kurban Murad Machtum Kuli.
... Ich war auf dem Weg zu ihnen und hatte meine Zweifel, ob diese Leute, die den Krieg, die Hölle des Gefängnisses und der GULAG-Lager (und dann auch noch die langerwartete Rehabilitation) durchgemacht hatten, überhaupt das Vergangene hervorkramen und ihre Erinnerungen mit so einer merkwürdigen Rayonsbewohnerin teilen wollten. Glücklicherweise bestätigten sich meine Zweifel nicht. Sie empfingen mich wie eine gute alte Bekannte, obwohl wir einander zum allerersten Mal sahen.
Ihr Häuschen steht an einem steilen Abhang, gleich hinter dem Fluß. Die beiden sind schon über siebzig, sehen jedoch sehr munter aus und beklagen sich auch nicht über ihre Gesundheit. Sie besitzen einen großen Gemüsegarten, halten eine Kuh und ein Schaf. Mit einem Wort – sie haben gar keine Zeit, die Hände in den Schoß zu legen.
Vier Töchter haben sie großgezogen. Alle haben eine Ausbildung erhalten, Familien gegründet und erfreuen nun nicht selten ihre Eltern mit lebhaft-lauten Kurzbesuchen. Die Enkelkinder wachsen heran.
Man kann wohl sagen, daß ihr Leben sich günstig gestaltete. Aber an die Jugend denken sie wie an einen unheimlichen, unwirklichen Traum zurück.
Anna Semenowna wurde 1920 in Weißrußland geboren, in der Mogilewsker Region. Nachdem sie die Schule und später die medizinische Lehranstalt beendet und die Zuweisung für ihren künftigen Arbeitsplatz erhalten hatte, begann sie als Krankenschwester in einem der Kinder-Krankenhäuser im Raum Brest-Litowsk zu arbeiten. Sie war 21 Jahre alt, als plötzlich der Krieg ausbrach und sie sich, zusammen mit den meisten anderen Ortsansässigen, durch Flucht vor den Hitler-Eindringlingen retten mußte. Irgendwie gelangte sie, teils zufuß, teils mit vorbeikommenden Fahrzeugen, bis zu ihrem Elternhaus, zur Mutter und zu ihren Schwestern. Dort waren die Deutschen zu dem Zeitpunkt noch nicht. Den Komsomolzen, unter ihnen befand sich auch Anna, wurde eine Aufgabe gestellt – sie sollten so schnell wie möglich das Vieh in die Umgebung von Moskau evakuieren. Tag und Nacht brachten sie mit dem Vieh zu. Nachdem sie die Tiere weisungsgemäß abgeliefert hatten, beschlossen sie, nach Hause zurückzukehren, gerieten jedoch in eine Umzingelung. Tagsüber versteckten sie sich im Wald, in der Nacht setzten sie ihren Weg fort. So kamen sie schließlich wieder in ihr Heimatdorf. Die alten Leute wurden von den Deutschen in Ruhe gelassen, aber hinter den jungen Mädchen waren sie her. Sie vergewaltigten und demütigten sie, trieben ihren Spott mit ihnen und brachten sie gelegentlich auch um. Ständige Truppen hielten sich dort aber nicht auf. Das Dorf befand sich an der Landstraße, auf der sich die Soldaten vorwärtsbewegten. Es gab auch eine Kirche mit einem Glockenturm, auf dem stets ein Beobachtungsposten stand. Sobald sich die deutsche Kolonne näherte, begann er die Glocke zu läuten, und die jungen Leute rannten unverzüglich in den Wald. In diesem Bezirk zeigten die Partisanen keine besonders großen Aktivitäten. Neben der Straße stand die Schule, wo die Deutschen Posten bezogen hatten, sich ihr Essen zubereiteten und sich, nachdem sie sich ausgeruht hatten, wieder in Marsch setzten. Das Haus, in dem Annas Familie wohnte, lag gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Mitunter kamen Soldaten zu ihnen herein, um sich irgendwelche Gerätschaften oder ein paar Lebensmittelvorräte zu holen.
So vergingen drei Jahre in ständiger Angst und Sorge. Und dann kam der glückliche Tag der Befreiung von den deutschen Besatzern. Sowjetische Truppen kamen ins Dorf und stellten die alten Machtverhältnisse wieder her. Und dann begannen die Verhaftungen. Viele wurden wegen Vaterlandsverrats angeklagt, als Helfershelfer der Deutschen bezeichnet –und oft wegen nichts und wieder nichts. Nicht selten steckte man die Menschen aufgrund erlogener Denunziationen ins Gefängnis. Wenn jemand früher einmal von einem Nachbarn gekränkt oder verärgert worden war und sich nun daran erinnerte, konnt er jetzt sogar dafür sorgen, daß dieser ins Gefängnis kam. Es reichte vollkommen aus, ein Zettelchen zu schreiben oder den Behörden die Information über eine Verbindung mit den Deutschen zukommen zu lassen. Niemand prüfte nach, ob es sich um Tatsachen handelte oder nicht.
Bald darauf wurde auch Anna verhaftet. Man beschuldigte sie, Kontakt zu den Okkupanten gehabt zu haben. Es fanden sich Zeugen, die gesehen haben wollten, wie Deutsche ihr Haus betreten hatten.
Ein ganzes Jahr verbrachte sie im Untersuchungsgefängnis. Anschließend wurde sie nach Sibirien verschickt, in die Verbannung. Sie kam in die Region Krasnojarsk, in die Siedlung Solonzy; später verlegte man sie in eine Sowchose des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (heute die Lehrwirtschaft „Minderlinskoje“). Hier gründete sie eine Familie und bekam Kinder. Im vergangenen Jahr wurde sie rehabilitiert.
Wenn Anna Semenowna an das zurückdenkt, was sie durchgemacht hat, kehrt sie in ihren Erinnerungen nicht selten zu ganz bestimmten Fakten in ihrer Biographie zurück, die sie zuvor, ihrer Meinung nach, noch nicht ausreichend erläutert hat. Plötzlich erinnerte sie sich dann an irgendwelche Einzelheiten, schlug die Hände zusammen und fuhr mit ihrer Erzählung fort. Und wenn ihr Mann zu dem Gespräch hinzu kam, dann half sie ihm dabei, die damaligen Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Kurban Murad Machtum Kuli, der im Revolutionsjahr das Licht der Welt erblickte, wurde 1937 verhaftet. Seine Eltern weilten schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Er wurde von seiner ältesten Schwester aufgezogen. Zu jener Zeit war in Turkmenien eine massive Verhaftungswelle im Gange. Die Anklage lautete für alle Betroffenen standarmäßig „konterrevolutionäre Tätigkeiten“. Die Menschen zitterten vor Angst und konnten nicht ruhig einschlafen. Nicht selten ertönte nachts ein Klopfen an der Tür. Die Bewohner wurden zum Ministerium für Staatssicherheit bestellt und verschwanden dann ganz einfach.
Einmal kamen bewaffnete Männer in den Aul. Ohne Ermittlungsverfahren und ohne Gerichtsverhandlung töteten sie mehrere Ortsansässige und verhaftetetn zwanzig Personen. Unter ihnen befand sich auch Kurban. Alle wurden in einen bewachten Raum betrieben. Bis zu diesen Ereignissen hatte er kein einziges Wort Russisch gekonnt. Das Verhör wurde mit Hilfe eines Dolmetschers geführt. Nur mit Mühe begriff er, daß man ihn beschuldigte, eine Verbindung zu seinem Vater unterhalten zu haben, der angeblich in den Iran geflüchtet war. Eine Gerichtsverhandlung gab es nicht. Die erste Zeit wurde er im dortigen Gefängnis festgehalten. Dann wurde er auf Beschluß einer sogenannten Trojka verurteilt und ins GULAG geschickt. Dort quälten sich von früh bis spät bei Schwerstarbeit tausende Menschen verschiedener Nationalitäten. Man ließ die Gefangenen nicht lange an ein und demselben Ort, sondern verlegte sie ständig. Anfangs arbeitete er in Samara, baute Straßen, Brücken, entlud Lastkähne auf der Wolga. Im Jahre 1939 geriet er in den norden. Die Gefangenen wurden im Winter dorthin transportiert – mit der Eisenbahn, in hölzernen Waggons. Um nicht den Tod durch Erfrieren zu erleiden, lagen die Menschen auf den Pritschen eng aneinandergedrängt.
Man versuchte diejenigen, die mit ihren Nerven und Kräften am Ende waren, tatkräftig zu unterstützen, und jeder teilte mit ihnen das, was er gerade bei sich hatte. Man brachte die Häftlinge in ein Übergangslager in der Stadt Kotlas, im Norden der Region Archangelsk. Von dort aus schickte man sie zufuß durch Frost und dicken Schnee an ihren endgültigen Bestimmungsort. Vorher nahm man den Menschen noch ihre letzte persönliche Habe ab. Im Gänsemarsch mußten sie 40 km weit laufen. Nur die allerkräftigsten erreichten das Lager. Im Dickicht des Waldes stand ein einziges Gebäude aus Holz mit einem Eisenofen darin. Hier sollten sie von nun an leben. Sie begannen Bäume zu fällen, stellten Eisenbahnschwellen her und bauten eine Eisenbahnlinie. Die Häftlinge wurden nicht bewacht – von hier fortlaufen war sowieso sinnlos.
Vor Kälte, unzureichender Ernährung und der schweren Arbeit gab es ständig Tote. Jeden Tag wurden sie scharenweise hierher geschafft. Der Bau der Eisenbahnlinie wurde fortgesetzt.
Heute führt die in Betrieb befindliche Eisenbahnstrecke Kotlas – Workuta im wahrsten Sinne des Wortes über menschliche Knochen. Man hat ausgerechnet, daß auf jedem vorangetriebenen Meter ein Toter ruht.
In den Anfangszeiten des Eisenbahnbaus arbeiteten hier ausschließlich Gefangene, unter ihnen auch Brigadiere und ehemalige leitende Angestellte. Freie Arbeiter tauchten erst später auf. Sie wurden unzureichend mit Nahrung versorgt. pro Tag erhielt jeder 400 Gramm Brot und ein wenig Wassersuppe. Kurban wurde zusehends schwächer. Aber Gott ließ ihn noch nicht sterben. Um die Lebensverhältnisse und die Arbeitssituation der Häftlingen zu überprüfen, kamen Ärzte in die Kolonie gefahren. Sie führten eine sorgfältige Kontrolle durch. Die schwächsten unter den Gefangenen teilten sie in eine Sonderbrigade für leichte Arbeiten ein (Roden von Baumstümpfen) und organisierten für sie erhöhte Essensrationen. Auch Kurban kam in diese Brigade. Noch heute denkt er mit Dankbarkeit an den Arzt namens Schukow zurüc, der ihm die Möglichkeit gab, wenigstens in einem geringen Maße seine Gesundheit zu verbessern ... Zehn Jahre waren seit dem Zeitpunkt vergangen, als Kurban das heimatliche Haus verlassen hatte. Er verbüßte seine Haftstrafe, wie man sagte, vom ersten bis zum letzten Glockenschlag. Nach Hause ließen sie ihn sowieso nicht, sondern schickten ihn stattdessen zur Zwangsansiedlung nach Sibirien. Dort geriet in die Region Krasnojarsk, in eine Sowchose des Ministeriums dür Staatssicherheit. Nach dem Tode des Führers aller Völker wandte er sich an die Ermittlungsorgane und schrieb persönlich an den Generalstaatsanwalt des Landes. Im Jahre 1956 erhielt er seine Rehabilitation. 1965 wurde er Mitglied der KPdSU und zählt sich bis heute zu den Kommunisten.
Kurban Murad Machtum Kuli berichtete aufgeregt und voller Überzeugung davon, daß der sozialistische Staat aufgebaut wurde, wenngleich dabei grausame Maßnahmen zur Anwendung kamen. Das Volk hat dafür mit großen Leiden und Qualen, mit unermeßlicher Not, Entbehrungen und Millionen von Menschenleben bezahlt. Und es ist völlig unverständlich, im Namen welcher Idee die Herrschenden dieses großartige Land und seine ganze Ökonomie zerstören. Zur Zeit gibt es im Staat keinen Herrn. Überall herrschen Unordnung und Gesetzlosigkeit – egal, wo du auch hinschaust. Früher hörte man wenigstens auf die Kommunisten. Sie waren die ersten Richter und Kontrolleure. Das Volk ist daran gewöhnt, daß es die Partei und die Kommunistische Jugendorganisation gibt. Sie haben die Gesellschaft irgendwie zusammengeschweißt und in ihr für Ordnung gesorgt. Heute haben wir gar nichts.
Über die Gründe der Stalinschen Repressionen urteilt er ungefähr so: „Wer wollte denn schon freiwillig unter diesen schrecklichen Bedingungen arbeiten, ohne eine vernünftige Behausung, Essen und Kleidung? Um die Wirtschaft des Landes aufzubauen, brauchte man doch eine ungeheure Menge an unfreien Menschen. Und so wurden alle ausnahmslos verhaftet und in Lager geschickt, damit der Aufbau der Volkswirtschaft durch ihre kostenlose Arbeitskraft gesichert war“.
So wird es wohl auch sein. Nur denke ich, daß die ganzen Geschehnisse in Wirklichkeit noch viel grausamer waren.
Ich werde diesen Leuten ewig dankbar sein, weil sie den Lesern ihre Erinnerungen anvertraut haben. Vielleicht wird irgend jemand von denen, die in jenen weit zurückliegenden Jahren ebenfalls unter dem stalinistischen Regime gelitten haben, ebenfalls die Entscheidung treffen, seine Erfahrungen mit den Zeitungslesern zu teilen? Schließloich stellen doch die damaligen Ereignisse eine bittere, aber lehrreiche Lektion für die nachfolgenden Generationen dar.
G. Schuwajewa
„Landleben“, No. 135 (6355), 20.11.1991