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Die Front hinter Stacheldraht

Diese Leute haben im Präsidium am Feiertag des Sieges nie einen Ehrenplatz eingenommen. Jahrzehntelang haben wir so getan, als hätten sie dazu überhaupt nicht beigetragen. Man hat sie schlicht und ergreifend nicht erwähnt. Das war ein Festtag für die Frontkämpfer, an deren Brust die Medaillen und Orden schön anzusehen waren. Bis heute findet man in den Erinenrungen an den Krieg keine einzige Zeile darüber, welchen Beitrag die vielen Werktätigen im Hinterland – die Sowjet-Deutschen – am Sieg leisteten. Diese Geschichte muß erst noch geschrieben werden, denn die Gerechtigkeit wird, früher oder später, doch triumphieren. Selbst wenn es später ist – man wird trotzdem erfahren, wie selbstaufopfernd, alle Bitterkeit und Kränkung von sich werfend, die Sowjet-Deutschen in den Sägemühlen, Kohlenschächten, Fabriken und Betrieben schufteten.

Man kann eine beliebige Straße in der Ortschaft Marinina und den anderen umliegenden, zur Kolchose „Kuraginskij“ gehörenden Dörfern betreten, und dort wird man ihnen ganz bestimmt irgendjemanden zeigen können, der während des Krieges in der Trudarmee arbeiten mußte. Das sind schwerwiegende Geschichten, voller Tragödien und Bitterkeit. Viele Jahre schwiegen diese Menschen. Es hat sie einfach niemand danach gefragt. Vielleicht haben sie im engsten Familienkreis die Erinnerung an diese schweren Jahre wachgehalten.

Jakob Jakowlewitsch Wolf ist besorgt. Er ist Interviews und viel Reden nicht gewohnt. Er hat Angst, dass er sich etwas hat zu Schulden kommen lassen, weil er keinerlei Beziehung zu diesem hellen Frühlingsfeiertag hat. Und mit seiner Einstellung zum Sieg verhält es sich genauso. Er war 13 Jahre alt, als sie im Armejsker Bezirk, das liegt im Gebiet Saratow, die Nachricht vom Ausbruch des Krieges erhielten. Und schon kurz darauf wurden sie, die Wolga-Deutschen, die schuldlos Schuldigen, nachdem man ihnen zunächst ihre Häuser und den gesamten Besitz fortgenommen hatte, auf Viehwaggons verladen und ins entfernte Sibirien abtransportiert. Zusammen mit Eltern, Großeltern und zwei Brüdern geriet er nach Ilinka. Im Januar 1941 holten sie den Vater zur Trudarmee ins Gebiet Swerdlowsk, zur Holzfällerei. Und der halbmündige Jakob begann im Frühjahr bei der Aussaat mitzuarbeiten. Er eggte, pflügte mit Pferden. Er war 15 Jahre alt, als auch ihn das schwere Los der Arbeitsarmee ereilte. Alte Männer, Männer mittleren Alters, Halbwüchsige und Frauen wurden voneinander getrennt und fuhren erneut in ihnen völlig fremde Orte ab, die sich häufig in tiefster Wildnis und Abgeschiedenheit befanden.
Maria Gering (Göring?) hatte zwei Kinder, aber dieser Tatbestand fand keinerlei Berücksichtigung; man trennte die Kinder von ihrer Mutter und brachte sie fort; eine fremde, alte, deutsche Frau nahm die Kindchen zu sich und zog sie viele Jahre bei sich auf. Hulda Stetinger war noch ein ganz junges Mädchen – auch sie wurde in die Arbeitsarmee geholt. Das sind nur diejenigen, an die Jakob Jakowlewitsch sich erinnern kann. Aber es waren noch hunderte Deutsche, die an die Arbeitsfront mobilisiert wurden. Die Hälfte von ihnen kehrte nicht zurück.

... Zufuß gingen sie nach Minusinsk. Dort ernteten sie in der Nähe von Seliwanicha Gemüseund mußten unter freiem Himmel leben. Und dann wurden sie aufgeteilt, und jeder kam an einen anderen Ort. Jakob geriet nach Nischnij Tagil. Unterwegs wurde er krank; er war völlig verlaust. In Nowosibirsk hielt der Zug, die Leute mußten im Bad gewaschen und die Kleidung mit heißem Dampf desinfiziert werden. Die Menschen starben noch während der Fahrt an Typhus. Nach der Ankunft am Bestimmungsort folgte ein Monat Quarantäne. Und dann begannen sie mit dem Bau von Baracken. Jakob schleppte Beton heran, verkleidete die Wände der Baracken. Vor dem Krieg hatte ihre Gruppe in einem elektromechanischen Betrieb gearbeitet, wo sie Dinge für die Front produziert hatten. Die Frauen schufteten in der Ziegelfabrik. Jakob Jakowlewitsch erinnert sich, dass er immer nur essen wollte. Sie erhielten 800 Gramm Brot, manchmal aber auch nur 600 oder sogar 500 Gramm. Die Suppe aus Brennesseln konnte ihnen ihre verlorene Kraft nicht zurückbringen. Und das Brot – das war nur die Bezeichnung. Es wurde mit unterschiedlichen Zutaten gebacken. Der Arbeitstag begann um 6 Uhr morgens. Lohn bekamen sie nicht, und man ließ sie auch nicht in die Stadt gehen. Nach Arbeitsende mußten sie alle gemeinsam in die Baracken zurückkehren. Zurückbleiben oder weglaufen – das war unmöglich, da paßten sie schon auf. Sie waren durch kollektive Verantwortung miteinander verbunden. Die Kleidung war die gleiche, wie sie auch die Gefangenen trugen: Soldatenhosen und Schnürschuhe. Sie arbeiteten unter der Losung „Alles für die Front! Alles für den Sieg!“ Die Erwachsen Männer baten darum, an die Front gehen zu dürfen auch sie wollten ihr Vaterland, ihre Wolga, ihr Saratow und ihre Engels verteidigen. Aber ihnen, den Deutschen, die in der UdSSR geboren waren, wurde das Recht auf Vaterlandsverteidigung an der Front verwehrt. Aber sie bezwangen Hunger, Kälte und die täglichen Demütigungen und halfen der Front auch so.Der Krieg ging zuende. Der Sieg! Wie sehr hatten sie ihn erwartet! Aber man ließ die Trudarmisten nicht nach Hause: weder an die Wolga, noch nach Sibirien. Um der Gerechtigkeit willen muß allerdings gesagt werden, dass die strenge Disziplin nach Kriegsende ein wenig gelockert wurde. Die Arbeiter durften nun schon in die Stadt oder auf Urlaub gehen. 1946 machte sich Jakob Wolf aus eigenem Willen auf den Weg nach Hause, nach Sibirien. Er wollte nur so gern seinen Vater sehen, der aus der Trudarmee vollkommen erschöpft zurückgekehrt war, und natürlich seine Mutter und seine Brüder. Er wollte sie nur sehen, kurz mit ihnen sprechen und dann wieder zurückgehen. Aber er hatte kein Glück. Im Kuraginsker Bezirk standen die Menschen unter der Aufsicht der Kommandantur. Hier herrschten eine strenge Ordnung und – ein armseliges Leben. Es gelang ihm nicht zurückzukehren, sie stellten ihn bei der Kommandantur unter Meldepflicht. Vielleicht war es auch besser so, dass sie ihn nicht fortließen. In Tagil hätten ihm dafür 20 Jahre Gefängnis gedroht. Der Alptraum mit der Kommandantur zog sich noch bis ins Jahr 1956 hin. Erst in den letzten Jahren haben sich die bittere Erinnerung, der Kummer und die Wut über die ungleichen Rechte geglättet, aber all die langen Jahre haben sie die Kränkungen der Ungerechtigkeit in sich unterdrückt: wofür? Menschen, die in Panzerfabriken und Hochöfen gearbeitet hatten, wurden viele Jahre lang diskreditiert. Wie viele von ihnen sind gestorben, nachdem sie sich in den Abfallbergenvor Hunger an weggeworfenen Lebensmitteln vollgegessen hatten oder in den Holzeinschlaggebieten erfroren? Viele sind es. Hunderttausende.

Jakob Jakowlewitsch hat ein würdevolles Leben gelebt. Er kann auf über 40 Jahre Arbeitsleben zurückblicken, all seinen Kindern verschafffte er eine hervorragende Ausbildung, und auch jetzt ist er seinen Kindern und Enkeln immer noch behilflich. Und dieser helle, klare Mai-Feiertag – das ist auch sein Festtag, weil er in den Jahren des Krieges mit seinen eigenen, damals noch kindlichen Händen, dabei geholfen hat, das Land vom Faschismus zu befreien.

Jakob Fjodorowitsch Birich, Bewohner der Farm N° 1 in der Kolchose „Kuraginskij“, verbrachte seine Trudarmeezeit im Gebiet Kirow, in der Nähe von Wjatka. Die Orte, die aus den Bildern des großartigen Landschaftsmalers Schischkin bekannt sind, sah er mit ganz anderen Augen. Den Platz in den Baracken hatten vor ihnen Kriminelle geräumt, die ihnen als Erbe auch einen Wachturm mit Wachposten, einen Stacheldrahtzaun und zweireihige Pritschen hinterließen. In der Trudarmee arbeiteten sowohl Deutsche, als auch Russen, Tschetschenen und Inguschen. 700 Gramm Brot, Wassersuppe, die nach Fisch roch, und die Bäume, die gefällt, mit eigener Kraft fortgezogen auf Pferde verladen und 10 km weit durch tiefsten Schnee zum nächsten Zug transportiert werden mußten. Das ganze nannte sich WjatLag. Und dann gab es auch noch das UsolLag, dass sie im ehemaligen Gebiet Molotow befindet, in der Nähe der Stadt Solikamsk. Man brachte sie mitten im Winter dorthin, an diesen unbebauten Ort. Es wurden Zelte aus Zeltplanen aufgestellt; später gruben sie sich in die Erde ein und bauten Baracken. Auf der einen Seite Wald, auf der anderen der Fluß. Und so lebten sie.

- Die Menschen starben wie die Fliegen, - sagt Jakob Fjodorowitsch. – Sie wurden verpflegt mit verfaulten Graupen. Die Trudarmisten fielen vor lauter Schwäche einfach um, sie litten an Ruhr; man begrub sie im mit Moss bedeckten Sumpf. Wenn du tagsüber nicht die Norm schaffst, kannst du in der Nacht weiter Holz schlagen. Sie legten sich schlafen ohne sich zu entkleiden. Da sie sich nicht waschen konnten, waren sie von Läusen zerfressen, es grassierte Typhus. An den Füßen trugen sie Holzschuhe oder Fußlappen. Sie baten darum, in den Kugelhagel an der Front ziehen zu dürfen. Sie wußten, dass es leichter war, durch eine Kugel zu verrecken, als durch Hunger, Typhus und Ruhr.

Das Revier „Marunja“, das etwa 120 km von Solikamsk entfernt liegt, hat Jakob Birich für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen können. Entweder in der Gainsker Waldwirtschaft oder im WjatLag holte er sich bereits in jungen Jahren einen Leistenbruch, der ihm auch jetzt keine Ruhe läßt. Er arbeitete als Markierer, Teerbrenner, Holzfäller, lief als Kurier – dutzende von Berufen übte er während des Krieges aus und sammelte dadurch jedwede Berufserfahrung.

Nach dem Krieg wurde es leichter, sie bekamen einen Lohn ausbezahlt, ließen die Leute jedoch icht nach Hause. Viele Monate des Wartens und der Arbeit, bis er sich dann nach Hause aufmachte, wo ihn eine nicht weniger schwere Arbeit unter Aufsicht der Kommandantur erwartete.

Diese Menschen besitzen keine Auszeichnungen für die von ihnen während des Großen Vaterländischen Krieges geleisteten Schwerstarbeit. Man hat sie mit solchen Auszeichnungen und Ehrenbekundungen umgangen – genauso wie mit Vergünstigungen. Aber die Reinheit ihres Gewissen und ihrer moralischen Rechte ist deswegen nicht weniger wert, als es bei ihren Altersgenossen der Fall ist, die mit Auszeichnungen überschüttet wurden. Und wenn es auch viele Jahre gedauert haben mag, so sollten sie doch endlich die Worte „danke“ und „verzeiht“ zu hören bekommen, die unsere Regierung denen gegenüber ausspricht, die dies nicht tun wollen.

O. Nikanorowa
„Lenins Vermächtnis“, 1991, N° 53

„Frühlinge sterben nicht“.
Nach Materialien der Bezirkszeitung „Tubinsker Nachrichten“
Abakan, 2005


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