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Die Invaliden-Zone

Ganz im Norden der Region Omsk, «am wilden Ufer des Irtysch», liegt das kleine Bezirksstädtchen Tara, welches noch von Jermak gegründet wurde. Es ist ein Städtchen, wie ein Städtchen eben aussieht (in der Art wie Jenisseisk – nur hat es weniger Tempel und Kirchen, so dass Tara nie die Möglichkeit hatte, ein Gouvernements-Zentrum zu werden), unauffällig, abgesehen von seinem hohen Alter. Doch erst vor kurzem entdeckte man in den Regionalarchiven von Omsk, dass die örtliche NKWD-Abteilung 1942 hier eine „antisowjetische Untergrundorganisation“ aufgedeckt hatte. Ein paar Jungs aus der Gegend hatten am Vorabend des 1. Mai antistalinistische Flugblätter aufgeklebt.

Sie alle wurden nach dem berüchtigten Artikel 58 verurteilt. Der Jüngste in der Gruppe war Lew Njuchalow. Nach sieben Jahren Gefängnis und den Torturen des Lagers gelang es ihm, eine Ausbildung zu erhalten, und er arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Direktor des Minussinsker Dramaturgie-Teaters. Mitarbeiter der Omsker Regionalzeitung „Junges Sibirien“ baten Lew Aleksejewitsch, seine „Lagererinnerungen“ zu teilen. Auch wir haben beschlossen, diese Erinnerungen zu drucken.

Meine Haft fiel in die Zeit des schlimmsten Terrors, der Gesetzlosigkeit und der Willkür, die in den sowjetischen Gefängnissen und Lagern herrschten. Ich verbrachte sieben Jahre dort und wurde erst 1949 entlassen. Nach dreizehn Monaten Haft, in denen ich dünn, blass und durchsichtig geworden war, wurde ich schließlich aus meiner Zelle an die frische Luft getrieben. Ich fand mich im Omsker Gefängnis Nr. 7 wieder. Im Gefängnis war ich bereits sechzehn Jahre alt geworden, aber die Gefangenschaft hatte mein Wachstum verzögert. Und ich sah aus wie ein Junge von zwölf oder vierzehn Jahren.

Freundliche Menschen, die irgendwo Kinder wie mich hatten, bewahrten mich davor, in ein Land offensichtlich tödliches Land getrieben zu werden. Aber ungefähr zwei Monate später, nachdem ich in eine Hinterstube gerufen geholt worden war, verkündeten sie, dass es Zeit sei, sich für die Reise vorzubereiten. Auf der Umsteigestation drängten sich viele Kranke und Krüppel , und es wurde ein Transport in eine landwirtschaftliche Invalidenkolonie zusammengestellt. Obwohl ich recht schwach war, fand ich es beleidigend, als Invalide betrachtet zu werden. Das habe ich meinen Gutmenschen auch gesagt. Die Ärztin, sie hieß Nowitskaja, die aus den Reihen der Gefangenen stammte, lächelte und meinte, dass sie aus mir einen Invaliden machen würde, indem sie ein ärztliches Attest fälschte.

Fünf Tage später, im tiefen Herbst des dreiundvierzigsten Jahres, erreichten etwa dreihundert Menschen - einbeinige, einarmige, bucklige und krampfanfallskranke „Volksfeinde“ - ihr Ziel, ein Lager bei Omsk.

Über die Lebensbedingungen in den Lagern ist schon so viel geschrieben und umgeschrieben worden, dass es nichts mehr hinzuzufügen gibt. Aber ich werde auf das eingehen, was ich persönlich gesehen habe. Denn viele Menschen haben eine falsche Meinung über die Art der Strafkolonie, in der ich meine Strafe verbüßte. Den ersten Winter verbrachten wir in unfertigen Baracken, wir hatten nur Zeit, Lehmwände und zwei durchgehende Etagen fester Schlafkojen zu bauen. Der Fußboden - verdichtete Erde, die Fenster - unverglaste Löcher, das Dach bestand nur aus Sparren: Leg dich hin und zähl die Sterne. Kurz vor dem Winter wurden einige schäbige Planen von Lieferanten herbeigeschafft. Mit ihnen versuchten wir, die Baracken von oben abzudichten. Die Fensteröffnungen wurden mit Strohmatten abgedeckt. In jeder Sektion waren eiserne Öfen installiert, die wegen des Mangels an Brennholz nur zwei Stunden am Tag beheizt wurden. Solange sie brannten, waren sie warm. Wenn sie ausgingen, war es kalt. Das einzige Bettzeug, das wir bekamen, waren alte Flanell-Decken.

Alle, die and Pellagra oder Dystrophie litten, sowie andere sehr gebrechliche Menschen, wurden in separaten Baracken untergebracht. Sie wurden „Schwächlings-Baracken“ genannt. Die Todgeweihten erhielten dort Verpflegung und Essen - sie standen nicht mehr von ihren Pritschen auf. An die Stelle der Toten traten sofort andere arme Seelen, die man auch bald den vorherigen hinterherschickte.

Einbeinige Menschen und alle Arten von „gekrümmten“ Menschen wurden den fast unbeheizten Werkstätten zugewiesen: Schuh-, Näh- und Korbwerkstätten. Letztere waren die am stärksten besetzten, in der Körbe aus schwerem, unbehandeltem Geißklee geflochten wurden. Der Rest (mit Ausnahme der Lagerbediensteten) wurde zur so genannten allgemeinen Arbeit getrieben. Ich war einer von ihnen. Sie mussten auf den Feldern Schnee schieben und aufhäufen. Und diejenigen, die sich weigerten, wurden zum Irtysch gebracht und gezwungen, Wasser von einem Loch zum anderen zu tragen. Wir hackten am Flussufer Geißklee und Purpurweide und schleppten sie für die Korbmacherei ins Lager. Die Wachen - mit Pelzmützen, hochwertigen Pelzmänteln und Filzstiefeln - wurden regelmäßig gewechselt. Um sich warm zu halten. Und wir steckten in dünnen Wattejacken, in zerrissenen Schuhen und Mützen aus Lumpen. Den ganzen Tag lang, ohne Pause in dem eisigen, durchdringenden Wind.

Ich habe bereits gesagt, dass die Kolonie als landwirtschaftliche Kolonie bezeichnet wurde. Denn sie hatte ein Grundstück von 300 Hektar. Es gab Weiden, Ackerland und Heuwiesen. Alle Produkte von den Feldern und Höfen wurden frisch in die Stadt zu den Vorgesetzten von der Verwaltung der Strafarbeitslager geschickt. Eine fabelhafte Hilfe in Kriegszeiten.

Die einzigen Personen, die sich mit der Landwirtschaft befassten, waren Alltagsgauner, Männer mit kurzen Haftfristen und solche, die nicht mehr unter Wachbegleitung standen. Nur die Diebe vor dem Gesetz hatten Kontakt mit ihnen. Die übrigen Häftlinge bekamen weder Gemüse noch Milch zu sehen. Die Ration für die „Schwächlings-Baracke“ betrug jeweils 550 Gramm Schwarzbrot, für die Arbeitsunfähigen - 650 Gramm. Diejenigen, die die Norm für allgemeine Arbeit erfüllten, erhielten 750 Gramm. An die Qualität dieses Brotes sollte man sich besser nicht erinnern. Und doch…

Und doch stellte es den am meisten geschätzten Teil der Nahrung des Gefangenen dar. Oh, du kleine Vogel-Ration! Gib Gott, dass es ein Brotkanten ist. Ich packe dich fest mit beiden Händen, damit die Schakale es nicht schnappen, reiße das Extra mit den Zähnen ab, breche die Kruste, schlucke dann die weichen mittleren Krümel hinunter und esse so das Ganze in einem Zug auf. Dann müssen wir auf den nächsten Morgen warten - Verpflegung einmal am Tag. Ein halber Liter Wassersuppe - dreimal. Es scheint, dass laut Plan Fette drin sind, aber nie schwamm ein einziger Glanz auf der Oberfläche der Gülle, nicht einmal eine gelbe Fleischfaser blitzte darin auf.
Zur Mittagszeit wurde der Brühe eine Kelle „Brei“ beigegeben. Im Gefängnis war es dünne Hirse, aber im Lager waren es ganze Weizen- oder Gerstenkörner, die in halb kochendem Wasser schwammen.

Ständiger Hunger tötet alles Menschliche im Menschen. Hier nur ein Beispiel. Bei der Frau eines der Wächter setzten die Wehen ein. Es war zu spät, sie in die Stadt zu bringen. Raya wurde hier sicher geboren. Die Pfleger nahmen die Nachgeburt heraus und vergruben sie hinter dem Krankenhaus. Die Nachgeburt wurde sofort wieder ausgegraben und gegessen.

Die Toten wurden irgendwo hinter dem Lager begraben. In der Umgangssprache wurde dieser Ort „unter der Bojarka“ genannt. Wenn diese Worte gesprochen wurden, war jedem alles klar. Der Aufseher schrie die Gefangenen an: „Was, ihr wollt unter die Bojarka?“ Die Verstorbenen wurden in einer großen Kiste herausgetragen, jeweils vier auf einmal. Es war möglich, mehr zu nehmen, aber für den diensthabenden Wärter wäre es damals zu unhandlich gewesen, jede Leiche einfach mit einem scharfen Metallstift durchstechen. Der Kutscher „schüttelte“ die Leichen „unter der Bojarka“ aus der Kiste, die Totengräber begannen, sie zu verscharren, und der Kutscher kehrte in die Lager-Zone zurück, um eine neue Ladung zu holen. Als ich Kutscher war, gab es einen Unbekannten mit dem Nachnamen Kutarlasch, und irgendein Scherzkeks aus dem Lager taufte dessen Toten- Kutsche auf den Namen „Postkutsche à la Kutarlasch». Es gab „fruchtbare“ Tage, an denen die Postkutsche die ganze Nacht hin und her fahren musste. Der Kutscher kam noch vor dem Morgengrauen zurück und brach auf seiner Pritsche zusammen. Sobald es am Horizont blau wurde, stürmte der Wächter in die Kaserne und brüllte: „Kutarlasch, Scheißkerl. Du hast den ganzen Weg über geschlafen, du Bastard, die ganze Zeit. Die Kolchosbauern werden bald zur Arbeit gehen, Gott bewahre, dass sie dich sehen...

Hätte man sich damals mit unvoreingenommenem Auge im Innenhof des Lagers umsehen können, so würde das Bild einen Schauder hervorrufen: da waren nur die, die kaum noch gehen, und kriechen konnten um uns herum. Dort in der Zone, eingehüllt in einen erdachten Fetzen Stoff, streicht still und leise ein Irrer mit dem Spitznamen «Mama Tanja» herum – so nannte er selbst alle aus irgendeinem Grund. An seinem Bauch war eine riesige Schüssel aus Ton befestigt. Wenn er für etwas geschlagen wird, fällt er hin und schützt nicht seinen Kopf, sondern dieses kostbare Gefäß. Den ganzen Tag lang wandert er umher, murmelt unartikulierte Worte, streckt die Hände in die Luft, als würde er unsichtbare Fäden entwirren.

So wurden im „bolschewistischen Paradies“ menschliche Schicksale geformt: die den Bürgerkrieg verkrüppelt überlebten, die auf dem „Wikinger“ kämpften und wie durch ein Wunder überlebten, aber sie starben auf dieselbe Weise - auf den Lagerbänken. Im „Land des siegreichen Sozialismus“.

„Krasnojarsker Eisenbahner“, ¹ 2, 11.01.1992.


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